Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Bibel und Sport
Predigten aus Anlaß der Fußballweltmeisterschaft 2006
Von der Halbzeit bis kurz vor Toresschluß
Predigt über Hebräer 12, 1-13, verfasst von Ralf Hoburg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Von der Halbzeit bis kurz vor Toresschluß

Es gibt Fußballspiele, die ließen sich auf fünfzehn Minuten verkürzen. Und zwar gerade auf die letzte Viertelstunde vor dem Abpfiff. Da fangen die Spieler allesamt an zu laufen was das Zeug hält. Das Tor kurz vor Ende könnte den Sieg für die eigene Mannschaft bringen. Was 75 Minuten misslang, soll kurz vor dem Ende geschafft werden. Aber da sind die Spieler schon etwas abgekämpft und erschöpft. Und in genau diesem Moment lässt sich bei vielen Fussball-spielen etwas interessantes beobachten: Während manche Mannschaften hektisch werden und das Tor erzwingen wollen, gibt es andere, bei denen sich bei aller konzentrierten Bemühung eine innere Ruhe beobachten lässt. In der letzten Viertelstunde zeichnen sich die Profis durch Geduld im Kampf aus, die auf Ausdauer baut, auf den richtigen Moment wartet und sich als Mannschaft von ihrem Kapitän führen lässt. Die professionellen Mannschaften setzen nicht nur auf das Können begabten Einzelspieler, sondern erinnern sich an die eigenen Erfahrun-gen aus der Vergangenheit. Sie wissen, dass sie es können. Und im Vertrauen auf die Wolke eigener Erfahrungen heraus legen sie die Hektik ab, werden innerlich konzentriert und errei-chen dann oft fast spielerisch leicht und ungezwungen das Tor. So wird das Spiel über 90 Minuten unerwartet zu einem inneren Lauf zwischen Bemühung und Vertrauen. Mich erinnert das an einen Text des Schriftstellers Ödon von Horvarth, der in einem kleinen Buch über Sportmärchen sinnierte:

„Manchmal plaudern Start und Ziel miteinander.
Es sagt das Ziel: ‚Stände ich nicht hier – wärest Du ziellos!’
Und der Start sagt: ‚Das ist schon richtig; doch denke: wäre ich ziellos – was dann?’
‚Das wäre mein Tod.’ Da lächelt der Start: ‚Ja, ja, so ist das Leben, Herr Vetter!“

Humorvoll vermittelt Horvarth uns hier die Erkenntnis, dass schon vom Start an Geduld und Ausdauer notwendig sind, um das Ziel zu erreichen. Wer also die letzte Viertelstunde zum Prinzip erhebt und in jedem Fall darauf baut, irgendwie das Tor zu machen, der kann auch scheitern und muss damit rechnen, das Spiel zu verlieren und nicht ans Ziel zu kommen. Den Kairos bzw. den richtigen Zeitpunkt kann man nicht erzwingen. So wäre eigentlich den Fußballspielern, die jetzt bei der Weltmeisterschaft das Langstreckenziel des Pokalgewinns im letzten Spiel vor Augen haben, zu raten, die Kräfte zwischen Start und Ziel so zu gewichten, dass der Mannschaft nicht in der Mitte des Tourniers die Puste ausgeht wie einem ermüdenden Langstreckenläufer, dem das Ziel vor den Augen verschwimmt, weil die Kondition abnimmt. Von der Mitte seines Laufes an fehlt ihm die Ausdauer und man könnte vermuten, dass er falsch gestartet ist, zu hastig und zu schnell, indem er nur den Blick nach vorne gewandt hielt. Jetzt, da ihm die Kräfte fehlen, muss er umdisponieren, sich gleichsam neu ordnen, um das Ziel überhaupt noch zu erreichen. Es wäre interessant zu beobachten, ob sich auch bei der Fußballweltmeisterschaft die Tugend der Geduld und Ausdauer bewährt. Denn das heißt: jede gegnerische Mannschaft gleich ernst nehmen und jedes Spiel so zu führen als ginge es schon im ersten Spiel um das Ziel. Die Taktik der letzten Viertelstunde führt sicherlich nicht in jedem Fall zur Weltmeisterschaft, auch wenn sich in der Zeit kurz vor Toresschluss Erfahrung und Können miteinander verbinden und hin und wieder ein Sieg auf diese Weise gelingt.

Aber da gibt es noch etwas anderes, was zur Voraussetzung zum Erfolg gehört: das Vertrauen oder die Fähigkeit einer Mannschaft, sich einem Anderen anzuvertrauen. Das Ziel, am Ende Weltmeister zu werden gelingt wohl am ehesten mit der inneren Haltung. Dazu zählt die Erkenntnis, nicht immer als Individualist der Beste sein zu wollen, sondern ein Vorbild zu haben, auf das man sich getrost einlassen kann. Bei vielen Fußballspielern, die jenseits PR-wirksamer Modetrends sich spirituell der Kraft eines Höheren anvertrauen, beten oder sich offen auf dem Spielfeld „bekreuzigen“, kann man diese Haltung erkennen: sie verdanken ihre Leistung einem religiösen Vertrauen, das sie befreit zu einer Hingebung an die Kunst des Fußballspielens. Wenn man hier überhaupt von Glaube reden kann, dann meint dies ein Respekt vor dem Gabecharakter der eigenen Fähigkeit.

Was hier einleitend als Beobachtung von einem Fußballspiel hergeleitet wird, das passt in gewisser Weise zu dem Bild der Geduld im Kampf, wie sie die Vorstellungswelt des Predigttextes zu Hebr. 12,1-3 benennt. Vom Sport ist hier auf keinen Fall die Rede und die religiöse Deutung sportlicher Ereignisse lag den biblischen Autoren sicherlich fern. Auch heute dürfen wir trotz des Fußballfiebers dieser Tage bei der Weltmeisterschaft diese religiöse Deutung nicht überstrapazieren. Dennoch können beide Erfahrungswelten sich gegenseitig ergänzen und interpretieren und der Fernsehzuschauer von heute hat konkrete Bilder und Vorstellungen im Kopf, wenn von der letzten Viertelstunde beim Fußball die Rede ist. Der Bibeltext aus dem Hebräerbrief erzählt von ähnlichen Erfahrungen. Er richtet sich an eine bestimmte Gemeinde. Die Menschen, die der Brief anredet, sind erschöpft und müde von einem längeren Wettkampf. Und wie der Trainer einer Fußballmannschaft während der Spielpause nach der ersten Halbzeit eher die psychologische Funktion des Mahnens, Tröstens aber auch des wachrüttelns hat, so will der Verfasser des Hebräerbriefes seine Mannschaft trösten und ermahnen. Eine erlahmende und müde werdende Gemeinde soll zu einem lebendigen christlichen Glauben zurückgeführt werden. Es fehlt die richtige Motivation. Die „Glaubensmannschaft“ hat nicht nur die Motivation verloren, sondern auch die Orientierung. Das macht die Textstelle dieses Briefes über die Aktualität innerhalb der gegenwärtigen Fußballbegeisterung für heutige Gemeinden aktuell.

Und auch das Bild des Kämpfers kommt über den engeren Erfahrungsbereich des Sports den Erfahrungen vieler Menschen heute entgegen. Der Alltag in Beruf und Familie ist vielfach geprägt von Leistung und Kampf, Konkurrenz und den Gefühlen des eigenen Scheiterns. Da kann man schon manchmal müde werden, die Orientierung auf dem eigenen Lebensweg verlieren und stöhnen unter der schweren Last. „Hoffnungsmüdigkeit“, so ein Wort von Christa Wolf, greift um sich. Die Zeit wird zu einer Mangelware im Leben ebenso wie Langmut und Geduld – auch zwischen den Menschen –, die in dem Text dem Langstreckenläufer oder der Fußballmannschaft der letzten Viertelstunde abverlangt werden. Die Hektik und die Hast unserer Welt machen müde, wir stehen permanent unter dem Druck der „letzten Viertelstunde“ und wie oft kann man Menschen davon reden hören, wie sehr sie sich danach sehnen, einfach nur die Beine hochlegen zu können und sich auszuruhen. Die verstorbene Theologin Dorothee Sölle formulierte in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs 1974 folgende Gedanken:

„Wie lange soll der Marsch noch dauern/
was bedeutet das vierzig Jahre/
ist es unsere Generation, die verheizt wird?/
oder die nächste noch und wozu/
lohnt sich das Ziel für ein ganzes Leben/
voll Mühe und Konferenzen/
kommen wir je heraus aus der Erstarrung?/
immer nur Sand und Steine und keine Menschen...“

Es kann schnell passieren, dass einem das Ziel aus den Augen gerät und alles sinnlos erscheint. Und die Kräfte schwinden in der letzten Viertelstunde, obwohl das Ende doch zum Greifen nah ist und damit der Gewinn des Lebensspiels. Wozu kämpfen? Für die Weltmeisterschale? Dann schon eher für die horrende Prämie, die den Spielern beim Gewinn der Fußballweltmeisterschaft winkt. Sind wir heute so korrupt und dekadent, dass eigentlich nur noch das Geld das Ziel ist? Ich befürchte es fast! Aber zum Gewinnen ist nicht nur das Können erforderlich, sondern auch der Glaube an ein Ziel und die Vision mit dem Gewinnen einen „inneren“ Wert erreicht zu haben. Deutschlands Fußballspieler einschließlich des gesamten Verbandsmanagements sind allerdings ein Haufen visionsloser Gesellen, die nur noch auf das Glück der letzten Viertelstunde bauen. Es ist durch den Fernsehbildschirm hindurch fast zum Greifen nahe zu spüren, dass diesen unreifen Milchgesichtern die Begeisterung für die Sache einfach fehlt und nicht die Lust des Spiels, sondern die Macht des Geldes sie beherrscht.

Was aber könnte der Bibeltext aus dem Hebräerbrief den Fußballspielern dieser Tage für einen Tipp mit auf den Weg geben? Ich möchte dem Text aus dem Hebräerbrief weiter nachgehen, um einer Antwort dieser Frage auf die Spur zu kommen. Der Verfasser des Briefes möchte der allgemein in der Gemeinde seiner Tage um sich greifenden Müdigkeit entgegentreten. Man stelle sich vor, die Situation, in die der Brief hinein formuliert wurde, sind die 30 Minuten Halbzeitpause. Während der Fernsehzuschauer die Kommentare zur ersten Halbzeit verfolgt und die Torchancen mit einer Rückblende Revue passieren lässt, ereignet sich in der Mannschaftskabine des Stadions die Gardinenpredigt des Trainers. So wie ein guter Trainer seine Mannschaft aufmuntert und sie an ihre Fähigkeiten erinnert, so fordert auch der Autor des Hebräerbriefes von der Gemeinde, an die er sich wendet, das Bekenntnis zu Jesus Christus und er erinnert sie an ihre eigene Kraftquelle. Es geht ihm um die Forderung eines Lebens in Hoffnung. Die Gemeinde ist auf dem Weg, hat eine Halbzeit bereits hinter sich und kann auf der eigenen Leistung aufbauen. Und wie die Fußballmannschaft ist auch die christliche Gemeinde auf dem Weg und sie muß sich stets vor Augen führen, dass sie nicht auf der Tribüne die Ereignisse aus der sicheren Distanz des Zuschauers verfolgt, sondern mitten in der Arena steht und das Geschehen auf dem Fußballplatz aktiv mitgestalten kann. Der Weg der aktiven Teilnahme führt über Höhen und Tiefen und über Leiden und Kreuz. Auch wenn der Aktionsradius in der zweiten Hälfte des Spiels kleiner wird und die letzte Viertelstunde des Fußballspiels in jedem Fall naht, ist Angst in dieser Hinsicht sicherlich der falsche Ratgeber.

Stattdessen richtet sich die Halbzeitpredigt des biblischen Text-Trainers auf einen Punkt: die Hoffnung des Reiches Gottes. Auf dem Weg Jesu zwischen Bethlehem und Jerusalem blieb diese Vision nicht auf der Strecke. In der Begegnung mit anderen Menschen, mit Frauen, Kranken oder Randgruppen der Gesellschaft steckt die Kraft des Aufbruchs, die Veränderung herbeiführt. Die Vision des Reiches Gottes und damit der Anfang des Glaubens brachte Menschen in Bewegung. Sie verstanden, dass Jesus Christus sie aus der eigenen Krise befreit und sie auf einen Weg gebracht hatte, für dessen Vollendung sich einzusetzen sich allemal lohnte. Die Erfahrung, die sich dahinter verbirgt, ist bis heute bedeutsam: Die Menschen, die diesen Jesus von Nazareth erlebt hatten, erfuhren durch seinen Tod und seine Auferstehung, dass sie in einer ganz neuen Beziehung zu Gott standen. Im Glauben an Jesus Christus war die eigene „Hoffnungsmüdigkeit“ gewichen. Der Kampf des Lebens, die Suche nach den Zielen und dem Sinn des Lebens, war gekämpft. Nun soll die Gemeinde in jeder Zeit zu Jesus Christus aufsehen, so wie es die Zeugen der ersten Stunde taten, um mit ihm das Ziel der Vollendung im Glauben zu erreichen. Die Kraft, Dynamik und der Elan des Anfangs sind zwar im Verlauf der Zeit der ersten Weltspielhalbzeit von damals bis heute gewichen. Aber um die Hoffnung nicht aus den Augen zu verlieren kann es heilsam sein, dass mit Kreuz und Auferstehung Jesu Christi die Versöhnung Wirklichkeit geworden ist und damit das Ziel in greifbare Nähe gerückt ist. Für den Hebräerbrief ist also die Erinnerung an den Anfang in Jesus Christus die „Muntermacher-Predigt“ zur Halbzeit und das Rezept gegen die Ermattung des Sportlers. Auf dem Weg zum Ziel soll der Mensch alles ablegen, was ihn belastet und nur auf Christus schauen. Das Rezept des Trainers in der Halbzeitpause ist also zunächst ein psychologisches: Bei aller Routine des Alltags, die den Fußballmannschaften dieser Tage ein ganzes Heer von Betreuern, Masseuren, Mannschaftsärzten und Therapeuten zur Seite gestellt hat oder durch bessere High-Tech-Ausrüstung den Wettkampf zu gewinnen versucht, steht fest: Wenn das Eine fehlt, nämlich aus dem Vertrauen und dem Glauben heraus die Konzentration auf die Ziel hin, dann nützt auch das Können nichts und das Spiel geht verloren. Und das Ziel ist und bleibt die Vision des Reiches Gottes, das mit Christus angebrochen ist.

Bleibt jetzt noch am Ende die Frage zu beantworten, was denn die christliche Gemeinde dieser Tage auf der Grundlage des Bibeltextes aus dem Hebräerbrief von einer Fußballmannschaft lernen könnte und welchen Rat die christliche Botschaft andererseits den Fußballmannschaften mitten in der Fußballweltmeisterschaft geben könnte? Wenn denn das Rezept in der Halbzeitpause lautet: Besinnung auf den Anfang und Erinnerung daran, welche Kräfte von der Begeisterung ausgehen können, dann kann die Kirche von Profi-Sportlern lernen auf die Kräfte einer positiven Motivation zu setzen. Das Krisengerede schrumpfender Gemeinden und wegbrechender Finanzierung lähmt die Lust, neue Spielzüge auszuprobieren oder sich darauf zu besinnen, dass man auch was kann und die eigene Leistung gut ist. Man kennt dies von Profi-Sportlern, dass gerade das Leistungstief zu neuen Kräften führt und den Sportler von seiner eigenen Sache überzeugt sein lässt. Ich würde mir von der Kirche mehr Selbstbewusstsein wünschen. Wir haben nicht soviel Geld wie in den Fußball fließt. Aber das Management ist nicht so schlecht, die Spieler haben Potentiale und warum sollte es uns nicht gelingen, die Zuschauer zu begeistern?

Und welchen Rat können wir den Fußballspielern mit auf den Weg geben? Vielleicht, dass der Sieg am Ende weniger das Ergebnis eines Kraftaktes von Taktik, Ballkunst oder Finanzkraft ist, sondern getragen wird von der inneren Einstellung einer Mannschaft, die von Anfang an das Ziel im Blick behält. Die Hoffnung ist der geheime Motor aller Bemühungen. Wenn das klar ist, dann kann die Mannschaft den Sieg als das nehmen, was er ist: als Gabe und ein Geschenk! In manchen Spielen bedankt sich nach dem Schlusspfiff die Mannschaft bei den Zuschauern und verbeugt sich vor ihnen. Mit dieser Geste drücken die Fußballspieler durch das Stilmittel eines Symbols aus, dass sie wissen, was der Sieg ist und worauf er letzten Endes beruht! Der Fußball hat eben doch eine religiöse Seite.

Prof. Dr. Ralf Hoburg
Evangelische Fachhochschule Hannover
e-mail: hoburg@efh-hannover.de

 


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