Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

Spenden Sie dem Förderverein Göttinger Predigten im Internet e.V.
für die Fortführung seiner Arbeit!

Predigtreihe in der Evangelischen Schlosskirche der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn zum Thema "Weltmeisterschaft", 2006
Predigt am Sonntag Trinitatis zum Thema „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ (Psalm 31, 9b)
verfasst von Karsten Matthis
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

„Du stellst meine Füße auf weiten Raum.“, ein wundervolles Wort! Ein Gedanke, der uns aufatmen lässt. Der Vers tröstet schon in dem Augenblick, in dem man die Worte in den Mund nimmt. Im stillem Gebet und beim lauten Lesen spürt man es körperlich. Das Wort schafft in uns einen weiten Raum. Statt Enge und Angst spüren wir Freiheit und Zuversicht.

Der 31. Psalm, aus dem der Vers stammt, ist selbst ein weiter Raum. Wer diesen Psalm betet, der hört das Sterbegebet des gekreuzigten Jesus: „In deine Hände befehle ich meinen Geist“.

Der Leser hört auch den Beter des Psalms, wie jener erzählt über sein Schicksal, über seine Fragen und Zweifel. In einer Situation, in welcher nach menschlichem Maß alles am Ende scheint, da zeigt Gott Auswege auf und schafft Weite. „Du stellst meine Füße auf weiten Raum“ – ein Psalmwort, welches Freiheit und Geborgenheit zugleich schenkt.

Liebe Gemeinde,

Gott stellt unsere Füße täglich auf einen weiten Raum. Sein Wort holt uns aus der Enge des Alltags: Befreit uns von unseren Zwängen und immer gleichen Verhaltens­mustern. Es reißt aus dem Netz heraus, welches nicht nur unsere Feinde gestellt haben, sondern welches wir uns selbst gelegt haben.

Der Vers aus dem 31. Psalm hat drei Perspektiven und eröffnet uns Räume in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Wort umspannt nicht nur allein unterschiedliche Zeitebenen, sondern auch verschiedene menschliche Erfahrungen:

Gott hat immer wieder unsere Füße auf weiten Raum gestellt. Wir Menschen sind nicht seine Marionetten. Nicht zwanghaft unseren Trieben ausgeliefert, wie es Sigmund Freud vermutete, sondern im Glauben sind wir Freie. Wir haben Freiräume geschenkt bekommen und sind zur Freiheit berufen (Gal. 5,1).

Meine Generation durfte in Frieden und Freiheit aufwachsen. Viele aus meinem Jahrgang studierten und nahmen Chancen wahr, die Generationen zuvor nicht wahrnehmen konnten. Der Fall der Mauer in Deutschland und der Fall des „Eisernen Vorhangs“ zwischen West- und Osteuropa hat Freiräume noch weiter vergrößert. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in einer kulturellen und geistigen Perspektive ist Europa wieder enger zusammen gerückt. Gräben zwischen Ost und West werden immer mehr überbrückt und gelten gerade für jüngere Menschen als überwunden.

Dass Gott unsere Füße auf weiten Raum stellte, ist Grund dankbarer Erinnerung. Dankbarkeit für Bewahrung von Unfällen und Überwindung von Krankheiten. Sich daran zu erinnern, dass Gott uns befreite von Unzulänglichkeit und Zwängen.

Von Jean Paul stammt das Wort: „Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können“ ( Die unsichtbare Loge ). Ja, es ist wohl so. Manche Erinnerungen haben wir geschönt. Vieles erscheint noch idealer, als es vielleicht gewesen ist. Die Kindheit, das Studium, die ersten Jahre der Ehe – sei es drum. Seien wir dankbar für paradiesische Erinnerungen.

Im Jetzt stellt Gott unsere Füße auf einen weiten Raum. Der Vers erinnert nicht nur an Vergangenes, sondern öffnet unsere Augen für den weiten Raum, der uns in der Gegenwart geschenkt ist.

Ich verhehle nicht, dass mich große kulturelle und sportliche Ereignisse Weite und Freiheit spüren lassen. Konzerte mit herausragenden Künstlern oder Kirchentage, wie der Ökumenische Kirchentag 2003 in Berlin und nicht zuletzt die gerade begonnene Fußballweltmeisterschaft. Für viele ist das sportliche Großereignis eine willkommene Entspannung und Abwechslung im alltäglichen Allerlei. Die Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land drängt unsere bundesdeutschen Probleme erst einmal in den Hintergrund. Statt über Arbeitslosigkeit und Integrationsproblemen von ausländischen Mitbürgern reden sich viele nun die Köpfe über Fußball heiß. Es regiert König Fußball: Taktische Fachsimpeleien, Mannschaftsaufstellungen und Laktatwerte von Spielern, beherrschen nun die Medienberichterstattung.

Die Kritiker sagen : Die Fußballweltmeisterschaft ist eine Traumfabrik. Das gesamte Szenario dieser WM Opium fürs Volks. Alles unterliegt der Kommerzmacherei. Der beredte Fußballfan mag einwenden: Die WM ist ein kräftiges Beschäftigungs- und Konjunkturprogramm und sie führt Menschen und Kulturen zusammen, die bislang kaum Berührungspunkte hatten. Ja, zugegeben, in den nächsten Wochen wird es unpolitischer zugehen. Es werden einige beträchtliche Gewinne aus der Fußballweltmeisterschaft ziehen. Und natürlich werden Diktatoren wie zu allen Sportereignissen sich Ergebnisse ihrer Mannschaften zunutze machen. Denn nicht alle teilnehmenden Länder sind Demokratien reinsten Wassers, ganz und gar nicht.

Wir müssen einen Vizepräsident eines Landes ertragen, dessen Staatschef den Staat Israel und seine Menschen ins Mittelmeer abdrängen möchte und den Holocaust leugnet.

Dennoch: Die Freude über fairen Sport und schönen Fußball sollten wir uns nicht nehmen lassen: Wenn ein Steilpass den freien Mann in der Tiefe des Raumes erreicht. Wenn die ganze Breite des Spielfeldes genutzt wird, und ein überraschender Spielzug zum Torerfolg führt. Immer dann, wenn sportliche Kreativität auf dem Rasen brilliert, Spielwitz den dicksten Abwehrriegel knackt und die Abseitsfalle aufhebt.

Grund zur Freude ist es, wenn ein mitreißendes Spiel die Zuschauer begeistert und am Ende es auch für den Verlierer Beifall gibt, weil jener einen tollen Einsatz zeigte und die Dramatik steigerte. Eine ausgelassene Stimmung trägt dazu bei, dass zumindest Sportbegeisterte Weite spüren. Menschen, zumindest kurzfristig, ihre trüben Gedanken abschütteln können.

Liebe Gemeinde,

Gott schenkt uns immer wieder neue Räume, auch wenn wir es gar nicht wahrhaben wollen. Wir täuschen uns immer wieder über die eigene Situation. Wir bejammern und beklagen sie, und oft sind wir selbstverliebt in dieses Jammern und Klagen. Gottes Wort schafft in uns den Perspektivwechsel, weil es Distanz zu uns selber schenkt. Im Gebet, im Hören auf die Schrift, beim Heiligen Abendmahl finden wir Raum, Gott zu danken, für das, was er an uns tut.

Es ist Gott, der unsere Füße auf einen weiten Raum stellt. Er ist es, der im Hier und Jetzt für uns handelt. Menschliche Leistungsstärke bei Arbeit und Sport ist nur geschenkte Kraft. Das gilt im übrigen auch für die Modellathleten unter den qualifizierten Teams bei der Fußballweltmeisterschaft. Bei aller Euphorie auch Fußballbegeisterte wissen um Grenzen: Fußball ist keine Religion, sondern nur ein Spiel. Fußball ist eine der schönsten Nebensachen der Welt – nicht mehr und nicht weniger. Nur der Glaube kann helfen, die eigenen Kräfte und Qualitäten sinnvoll einzuschätzen, zu begreifen, dass es Gott ist, der Spielräume eröffnet, aber auch Grenzen setzt.

Ein weiteres: Gott wird auch künftig unsere Füße auf weiten Raum stellen. Weite, dies bedeutet Freiheit und zugleich Risiko. Keiner darf sich täuschen. Weite Räume können morgen schon ganz eng werden. Unser Leben ist kein stetes Fortschreiten von einem großartigen Freiraum zum nächsten, von einer bunten Erlebniswelt in die andere. Und auch die WM schließt mit dem Finale am 9. Juli ihr Traumkino.

So bleibt niemandem Enge und Angst erspart. Uns sind Grenzen gesetzt. Wir können Freiheit durch eigenes Verschulden verspielen und Freiheit durch Krankheit in unserem Leben verlieren.

Doch das Wort, dass er es ist, der uns auf einen weiten Raum stellt, reißt uns aus Verstrickungen heraus. Es erkennt Gott als den, der erniedrigt und erhöht. Der gibt und nimmt. Der zu den Toten hinabführt und wieder heraufholt.

Im Raum des Lebens gibt es Anlass zur Klage und wiederum zum Lob, eine Zeit der Verzweiflung und eine Zeit des Hoffens, eine Phase der Ungewissheit und Phasen der inneren Ruhe.

Gott hat große Geduld mit uns. Nicht nur mit unserer Klage, gar erträgt er unseren Unglauben. Immer wieder strapazieren wir seine Geduld und Güte. Obwohl wir seine Freundlichkeit ignorieren, Gott überlässt uns nicht selbst, nicht dem freien Spiel menschlicher Kräfte. Er stellt uns nicht einfach in die Weite hinein, überlässt uns unserem Schicksal, sondern er begleitet uns. Dies geschieht, wie er es will. Nicht immer verstehbar und einsichtig für uns. So kann aus Enge Weite werden, aus Trampelpfaden breite Straßen. Wir dürfen auf unseren Wegen hoffen, dass Gott unsere Füße auf den Weg des Friedens richtet (Luk. 1,97b).

Der 31. Psalm ist durchzogen von dieser Hoffnung und Vertrauen: Gott, auf dich traue ich...In deine Hände befehle ich meinen Geist... Auf dich, Gott, hoffe ich und spreche: Du bist mein Gott! Meine Zeit steht in deinen Händen. So wie Gott Christus am Kreuz beistand, so wird er auch uns beistehen. Über unser Leben hinaus. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Karsten Matthis, Dipl. Theol., Prädikant, Wachtberg
Karsten.Matthis@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)