Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Predigtreihe zum Vater Unser, Oktober 2006
"...sondern erlöse uns von dem Bösen", Klaus Schwarzwäller
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...sondern erlöse uns von dem Bösen.

Liebe Gemeinde!

Wir leiden unter der ständigen Gegenwart des Bösen. Mit dieser Bitte rufen wir Gott an um Hilfe, um Hilfe gegen das Böse, gegen die Bösen, gegen den Bösen.

Wer das Böse wahrnimmt, wer es kennt, es womöglich erleidet, der sehnt sich danach, daß es überwunden werde – es sei das Böse um uns herum und auch das Böse, über das wir immer wieder bei uns selber stolpern. So beginnen wir immer aufs neue, es zu bekämpfen. Welche Dramen ereignen sich nicht täglich in gewissenhaften und zumal skrupulösen Menschen. Welche Kämpfer werden da nicht täglich aufgenommen, ausgefochten und immer und immer wieder verloren von Menschen, die sich dem Bösen entgegenstellen – dem Bösen im kleinen wie im großen. Und was wird nicht alles aufgewendet von Staat, Gesellschaft und Institutionen, um des Bösen Herr zu werden, vom Krieg gegen den Terror über den Kampf gegen die oft verbrecherische Gleichgültigkeit bis zum Ringen um die Herzen und Gemüter der Heranwachsenden! O ja, das Böse ist gegenwärtig, es ist allgegenwärtig. Wer das bestreitet, ist entweder blind oder will die Realität nicht wahrnehmen – die Nachrichtensendungen nur eines Tages genügen, um es zu erweisen.

Zudem, es gibt auch die Bösen, Menschen, die das Böse lieben, an ihm Freude haben, ja sich ihm verschreiben. Warum auch immer – jedenfalls legen sie erschreckende kriminelle Energie an den Tag, scheren sich nicht um nichts oder finden gerade darin ihre Weide, daß es anderen Menschen schlecht gehe, daß sie gedemütigt, eingeschränkt, gefoltert oder getötet werden. Wir kennen sie nicht nur von Konzentrationslagern, Milizen oder gewissen Polizeistationen. Wir kennen sie auch aus der sozusagen normalen Umwelt – von dem grundsätzlich seine Nachbarn schikanierenden Querkopf bis hin zu scheinbar normalen Mitbürgern wie Charles Dutroux in Belgien oder dieser Tage den Herrn Helmut Priklopil bei Wien, um von denen zu schweigen, die in gewissen Internet-Seiten Baby-Sex anbieten mit Einschluß der „Entsorgung“ von zu Tode geschändeten Säuglingen. Auch diese Dimension, die Dimension der Bösen, sie ist real, sie ist bedrückend real.

Und was ist mit dem Bösen? Traditionellerweise sehen wir in ihm den Teufel, den Satan, „Luzifer“ oder auch den „Leibhaftigen“. Auch er ist uns nicht unbekannt, ja, in gewisser Weise ist er für wohl die meisten von uns zuerst im Leben real: Denn Kasperl haut ihn tot. Ha, wie schön! Und so haben wir seither eine lustige Figur vor Augen, wenn vom Teufel die Rede ist: rot, mit Hörnern, einem fiesen Gesicht, mit einer gewissen verschlagenen Schläue, doch am Ende dem Kasperl nicht gewachsen. Damit kann man ihn abhaken, und wird er weithin abgehakt. An den Teufel zu glauben – ach ja. Die Satanisten tun’s, natürlich, und unverbesserliche Fundamentalisten auch. Doch sonst? Der Böse, der Teufel – der Glaube an ihn erscheint allgemein eines denkenden Menschen als unwürdig.

Ich geniere mich nicht, dagegenzustellen: Wer die Existenz des Teufels bestreitet, ist unaufgeklärt. Dabei geht es mir wahrlich nicht um einen Glauben an den Teufel – nein, wir glauben an Gott. Und ich breche erst recht keine Lanze für seine Existenz – etwa nach dem Motto: Man muß vom Teufel überzeugt sein, um an Gott glauben zu können, oder was dergleichen Abwegigkeiten sonst noch sein mögen. Sondern darum ist’s mir zu tun, daß wir einsehen: wie Tornados, Tsunamis oder auch Hagel ist er real und erweist er sich wieder und wieder als real. Das zu leugnen, ist Vogel-Strauß-Taktik. Nach einem Jahrhundert der Folter, des Archipels Gulag, der Vernichtungslager, der Atombomen, von Napalm und von Agent Orange (zur Waldentlaubung in Vietnam) – um andeutend nur dies zu nennen – , ist es albern zu leugnen: Es ist eine Macht in der Welt, die alle Kräfte und Mächte des Guten und der Guten und der Gutwilligen und auch Widerstrebenden immer wieder beiseite wischt und eine Herrschaft des Entsetzlichen errichtet. In der gesamten Geschichte der Menschheit ist es noch niemals gelungen, sie auch nur leidlich zu bändigen. Und diese unsägliche Macht kennzeichnen wir als „Teufel“. Damit bekennen wir: Wir sind ihr nicht gewachsen. Sie überschreitet unsere Möglichkeiten und Fähigkeiten. Der Böse, er ist, wahrhaftig, er ist ganz verflucht real.

Ein Gedanke, der uns nicht schmeckt. Denn wenn an ihm etwas dran ist, wenn er gar die Realität ausdrückt, dann... Lassen Sie mich’s einmal so ausdrücken: Von Konrad Lorenz‘ sogenannten Bösen über Helmut Schöcks Neid bis hin zu der platonischen Tradition des im Gedränge des Alltags oder unter der Macht des Vorfindlichen nur verschütteten Guten haben wir dutzend-, ja hundertfach Theorien und Methoden vom Bösen und seiner Überwindung. Und die würden Makulatur, wenn der Teufel real wäre. Denn Teufel, das besagt ja definitionsmäßig: Nur Gott kann ihn bezwingen. Da wir aber gelernt haben, ohne Gott bzw. unter seiner faktischen oder ausdrücklichen Leugnung und Verleugnung zu leben, würden wir mit diesem Anerkenntnis in eine verzweifelte Situation geraten. Wir wären dann ja auf Gott angewiesen. Ehe man es so weit kommen läßt, verhohnepipelt man lieber den Teufel und bemüht sich im übrigen, das Böse, wo und wie immer es begegnet, irgendwie „herunterzuspielen“ oder als Einzel- oder Ausnahmefall zu fassen. Und dem kommt man grundsätzlich jedenfalls irgendwie bei. Und also ist der Teufel nicht existent.

Der freut sich natürlich und kann nur um so freier auftreten und es um so dreister treiben! Und daß er’s tut – nein, das bedarf keiner Hinweise oder Beispiele. Das steht so entsetzlich vor Augen – ! Nur daß wir’s immer wieder nicht sehen, nicht wahrhaben wollen.

Das, das ist die Situation, in der und aus der heraus wir beten: „...sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Mit dieser Bitte bekennen wir: Wir werden des Bösen nicht Herr, nicht des Bösen um uns herum und auch nicht des Bösen in uns, unabhängig davon, ob es um das Böse, die Bösen oder den Bösen geht. Seine Bändigung geht über unser Vermögen. Mit dieser Bitte gestehen wir ein: Wir spüren Böses – um uns herum und auch in uns selbst, und wir leiden an ihm und wären lieber heute als morgen von ihm frei – abermals: unabhängig davon, ob es um das Böse, die Bösen oder den Bösen geht. Wir leiden an ihm, es fordert uns heraus, macht uns wütend, verzweifelt oder auch ratlos. Doch es ist da und grinst uns hämisch an. Und wir leiden unter der ständigen Gegenwart des Bösen. Mit der Bitte rufen wir Gott an um Hilfe – dringend um Hilfe, um Hilfe, auf die wir angewiesen sind. Gewährt sie Gott uns nicht, dann haben das Böse und die Bösen und der Böse Oberwasser, noch mehr Oberwasser, und die Welt wird noch mehr zu einem von Sadisten beherrschten Tollhaus. Wir sind auf Gottes Hilfe unmittelbar angewiesen.

Jesus Christus lehrt uns freilich nicht beten, Gott möge uns in unserem Kampf gegen das/die/den Bösen helfen. Weder betet er selber noch leitet er an zu beten um Kleines. Er selber betet und leitet uns an, um großes zu bitten: Erlöse! Erlöse uns von dem Bösen. Erlösung – das ist nicht zu steigern. Wer von etwas erlöst ist, der hat es hinter sich, ist es los, ist davon befreit. Dem kann es nichts mehr anhaben. „...sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Heißt also, klar und platt geredet: Nimm uns aus ihm heraus. Entnimm uns ihm. Befreie uns so von ihm, daß es uns in keiner Weise mehr nachhängt, belästigt, beschwert, bedrängt. Entnimm uns ihm ganz und gar. Laß es mit seiner Macht über uns endgültig und unwiderruflich ein Ende haben. – Wahrlich: eine große, eine sehr große Bitte!

Doch ist diese Bitte nötig, oder tut Gott nicht vielmehr ohnehin, was er will? Überhaupt, hat sie Realitätsgehalt, oder hält sie nicht vielmehr bloß eine Sehnsucht offen? Und ist sie tatsächlich hilfreich, oder entläßt sie nicht vielmehr etwas billig aus der Verantwortung? Diesen Einwänden ist nachzugehen.

Um’s von vornherein zu unterstreichen: Ja, diese Bitte, sie ist nötig. Das, nebenbei bemerkt, auch, weil sie im Bewußtsein hält, in welcher Situation wir uns befinden. Vor allem aber: Sie ist nötig, denn wir brauchen Gottes Hilfe und Handeln. Tut er auch, was er will, so will er doch uns dabei haben. Und das nicht zuletzt auch, indem er uns einbezieht in sein Handeln in der Welt, mit dem er durch Menschen dem und den Bösen Grenzen zieht – auch übrigens durchs Rechtswesen oder durch Polizei. Ganz gewiß wird so nicht die himmlische, sondern irdische, immer wieder auch bedrückend irdische Gerechtigkeit geübt. Nur mache man sich klar, was Verzicht auf diese höchst irdische Gerechtigkeit nach sich zöge...! Im übrigen haben oder hätten wir insoweit ja auch unsere Stimmen, um darauf Einfluß zu nehmen, daß diese irdische tatsächlich Gerechtigkeit sei.

Und diese Bitte, sie hat Realitätsgehalt, einen bedrückend hohen sogar. Der wird in zweierlei deutlich. Einmal darin, daß wir immer wieder der Meinung oder vielmehr dem Aberglauben verfallen, wir könnten bleibend etwas gegen das Bösen oder das Böse ausrichten. So hält uns diese Bitte in der Realität fest, daß wir immer nur allenfalls – und das ist viel – sozusagen kleine Etappensiege gewinnen. Zum anderen wird darüber deutlich, wie wir uns in den Kampf gegen das Böse und die Bösen verbeißen – etwa indem wir gegen die „Achse des Bösen“ und oder gegen den („den“!) Terrorismus streiten. Doch sie zu beseitigen, das ist Gottes Sache. Wir unsererseits kämpfen vor allem so, wie Gott selber gekämpft hat: Er hat die Bösen und den Bösen, die sich gegen ihn selber richteten, an sich selber zur Ruhe kommen lassen, indem er sich ihnen auslieferte. Wo wir auf das Wiederschlagen, auf das Heimzahlen, auf die Vergeltung verzichten, muß das Böse sich auslaufen und kommt zur Ruhe. Und wo wir mit den Bösen zu tun bekommen: Tolstois „...vielleicht bin ich ja noch schlechter als ihr...“ gegenüber Verbrechern mag als Haltung zu denken geben.

Schließlich ist diese Bitte hilfreich, o ja. Es gibt einen uralten, verborgenen, doch realen Zusammenhang: Nur was und worum man betet, wird auch getan, und nur das, was man tut, das und darum betet man auch. Es ist die Verantwortung für und um menschliches Leben, unseres wie das anderer, das uns in diese Bitte geradezu nötigt. Und es ist diese Bitte, die beides tut: uns eine Aufgabe wie deren Grenze im Bewußtsein wachzuhalten und uns daran zu erinnern, daß wir und unser Tun hier in höherer Hand stehen.

Auf dieses letzte will ich noch kurz eingehen. Ein Mann, der viel von Bösem und auch vom Teufel und von Teufeleien wußte und hautnah erfahren hatte und dabei wahrlich nicht die Hände in den Schoß gelegt hatte, Luther nämlich, dichtete einst:

Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren.
Es streit’ für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du wer der ist?
Er heißt Jesus Christ.
Der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott.
Das Feld muß er behalten.

Und wenn die Welt voll Teufel wär‘
Und wollt‘ uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen!
Der Fürst dieser Welt,
wie saur er sich stellt,
tut er uns doch nicht,
das macht, er ist gericht‘.
Ein Wörtlein kann ihn fällen.

Gott kann dies Wörtlein sprechen, und er sprach es: am Kreuz von Golgatha. Daß Gott dieses Wörtlein immer wieder neu spreche, neue spreche, auch zu uns und in unsere gefährliche und von Bösem und zumal dem Bösen geschüttelte Zeit hinein – der Herr hat’s uns anbefohlen. Darum tun wir’s getrost:

Ja, Herr, bitte, erlöse uns von dem Bösen.

Amen.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net

 

 


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