Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Predigtreihe zum Vater Unser, Oktober 2006
"Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern",
Ulrich Nembach
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


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Liebe Gemeinde,

die beiden höchsten Gebote sind das Gebot der Liebe zu Gott und das Gebot der Liebe zum Nächsten. Die Bitte um Vergebung ist die Antwort auf die beiden Gebote. Wir bitten Gott, uns zu vergeben, was wir ihm gegenüber schuldig geblieben sind. Unser Nächster blieb uns gegenüber ebenfalls manches schuldig. Das vergeben wir ihm. Vergebung ist die Antwort auf Fehler. Wenn wir Gott ersuchen, uns unsere Fehler zu vergeben, unsere Schulden zu erlassen, können wir nicht dabei, gerade bei dieser Gelegenheit, den Fehler machen, unserem Nächsten nicht zu vergeben, also gegen das Gebot der Liebe zum Nächsten verstoßen. Diese Forderung als Konsequenz ist logisch. Die 5. Bitte zieht diese Konsequenz und formuliert sie knapp und präzise. Wir können darum diesem Gebot nicht ausweichen. Hier liegt das Problem. Beide Gebote zu befolgen und zwar gerade im Gebet.

I.

Wir bitten um Vergebung für unsere großen und kleineren Schulden. Manche fühlen sich nicht schuldig, sondern im Recht und sprechen das Vater-unser.

Was bin ich Gott schuldig, was meinem Nächsten? Wer diese Frage im Detail beantworten will, wird die 10 Gebote sich vornehmen, sich zurückziehen und dann sein Leben mit den Geboten als Prüfsteine vergleichen. Dabei wird er eine Menge Schulden bei sich finden. Martin Luther beginnt seine Katechismen mit den 10 Geboten. Die Menschen sollen wissen, was Sache ist. Richter im alten Rom stellten Tafeln auf, auf die sie schrieben, unter welchen Voraussetzungen ein Prozess beginnen kann. Alle sollten wissen, woran sie waren. Wir dürfen niemanden bestrafen, wenn die fragliche Straftat als solche nicht klar in einem Gesetz verboten ist.

Wenn wir unser Leben mit den 10 Geboten in der Hand betrachten, kommt ein hohes Schuldkonto zustande. Was sind wir alles Gott und Nächsten schuldig geblieben? Dazu kommen die Schulden, die wir von unseren Eltern und Großeltern geerbt haben. Wie die Kinder Schulden des Staates erben, erben sie auch Schulden, die bei Gott und den Menschen gemacht wurden.

Ich will jetzt nicht anfangen, die Schulden im Einzelnen zu untersuchen oder eine Diskussion zu beginnen, weil manche die Höhe der Schulden oder gar ihr Entstehen bestreiten werden. Wer heute wegen einer Geldschuld vor Gericht verklagt wird, bestreitet auch zunächst einmal, dass es die Schuld so hoch sei oder er bestreitet überhaupt, dass es eine Schuld gibt.

Doch bei der 5. Bitte des Vaterunsers gilt Ehrlichkeit. Gott ist ohnehin über unser Schuldenkonto bestens informiert.

II.

Da kommt das zweite Problem auf uns zu: die Vergebung unseren Schuldnern. Wir bitten um Vergebung, wie wir unsern Schuldnern vergeben.

Manche und mancher sagt hier: „Was der oder die mir angetan hat“! So oder ähnlich formulierte Sätze haben wir alle schon gehört und eventuell gar selbst gesprochen. So redet die Frau über den Mann, der sie verlassen hat – bzw. der Mann, wenn die Frau ging. „Was die oder der mir angetan hat“, sagen Schüler. Das, was angetan wurde, kann schwer sein. Ich hatte neulich ein Gespräch mit einem Freund. Es ging dabei darum, dass ein Arzt einen Fehler gemacht hatte und mein Freund daran schwer zu tragen hatte. Am Ende ging alles gut, weil ein anderer Arzt half. Mein Freund will seitdem mit dem ersten Arzt nichts zu tun haben. Das können wir alle gut verstehen. Daraus ergab sich für mich ein Problem. Ich saß an dieser Predigt über die 5. Bitte, „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“. Mein Freund vergibt nicht, aber er betet, auch das Vaterunser. Müsste ich meinem Freund, meinem Nächsten, nicht helfen? Müsste ich ihn nicht darauf ansprechen, dass er dem Arzt nicht vergibt? Kann ich sonst Ihnen predigen? Werde ich Ihnen gegenüber nicht schuldig?

Also habe ich mich aufgemacht und habe den Arzt und meinen Freund darauf angesprochen. Der Arzt wandte sich. Der Freund hörte mich an und erzählte mir dann folgende Begebenheit. Er ist zu dem Arzt noch einmal hingegangen, als er wieder ärztliche Hilfe brauchte, dringend brauchte. Wiederum machte der Arzt einen Fehler, und wieder hatte der Fehler erheblich Folgen für meinen Freund, aber auch hier half schließlich ein anderer Arzt. Mein Freund war erregt, als er das erzählte und wurde immer erregter. Sein Ärger, die Erinnerung an sein Leiden musste sich Luft machen. So schloss er seine Erzählung mit den Worten, dass er sich mit dem Arzt nie versöhnen werde- auch trotz der 5. Bitte nicht.

III.

Meint die Bitte ernsthaft: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern“? Ja, was heißt vergeben überhaupt?

Ich denke, dass die Bitte meint, was sie sagt. Ein Ausleger, Erich Klostermann, brachte vor fast 100 Jahren dies auf den Punkt. Er schrieb, dass das „Wie wir vergeben unsern Schuldigern“ ist die „conditio sine qua non“, die Bedingung von der alles weitere, hier unsere Vergebung abhängt (Erich Klostermann, Handbuch zum Neuen Testament, 2. Bd., Matthäus, Tübingen 1909, S. 201). Viele Ausleger des Neuen Testaments und Prediger drücken sich vor dieser Formulierung. Sie scheuen die Konsequenz. So umgehen Ausleger und Prediger diese Frage oft weiträumig. Ein solches Verhalten bestätigt letztlich die Formulierung Klostermanns. Wir umfahren mit unseren Autos einen Stau, von dem wir im Radio hören, weiträumig, wenn wir nichts mit ihm zu tun haben wollen.

Es geht um Vergebung. Wir bitten Gott darum. Wir haben das Gebot der Liebe zu Gott verletzt, wenn wir ihm gegenüber schuldig werden. Mit diesem Gebot stellt sich – wie gesagt - gleich das andere Gebot, das der Liebe zum Nächsten. Wenn wir Gott um Vergebung bitten, erkennen wir unsere Schuld und tragen unseren Wunsch nach Löschung der Schuld Gott vor. Löschung der Schuld bedeutet, dass Gott unsere Schuld ihm gegenüber streicht. Wenn Gott das tut, hat er auch unseren Nächsten und unser Verhalten ihm gegenüber vor Augen. Gott liebt uns und unseren Nächsten. Wir reden Gott mit Vater an. Ein Vater hat alle Kinder im Blick. Alle Eltern hören den Satz von ihren Kindern, wenn sie einem etwas geben: „Ich auch“. Das können schon die Kleinsten. Da Gott ein liebender Vater ist, an alle denkt – ich könnte auch sagen: „Da Gott ein gerechter Vater ist“ -, müssen wir uns der Frage stellen: Wie gehen wir mit der Frage der Vergebung denen gegenüber um, die an uns schuldig geworden sind?

IV.

Ich denke, dass wir oft dem anderen die Vergebung schuldig bleiben und damit auch selbst vor Gott Schuldige bleiben, er uns nicht vergibt.

Diese Konsequenz scheuen die Ausleger, wenn sie diesen Text weiträumig umgehen. Das geht aber nicht. Die beiden Verse, die direkt dem Vaterunser folgen, nennen diese Konsequenz und zwar gleich zweimal. Einmal wird die Konsequenz positiv und einmal negativ ausgedrückt (Mt. 6, 14f). Es heißt:
V.14 Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben.
V.15 Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.

Anderseits ist die Liebe der Grund für die Vergebung. Wir bitten ihn, uns um der Liebe willen zu vergeben. Und um der Liebe willen verweist dieser uns an den Nächsten. Die Liebe steht also im Zentrum allen Bittens. Lässt uns das nicht hoffen?

Die Liebe ist so stark, dass Gott seine Vergebung an die Liebe bindet, an die zu unserem Nächsten. Gott relativiert nicht die Liebe zum Nächsten, indem er etwas locker mit ihr umgeht. Der Däne Sören Kierkegaard betonte deshalb die Liebe. Er machte sie zur Basis allen christlichen Handelns. Die Liebe zum Nächsten gründet in der Liebe Gottes. Darum ist sie die Basis allen menschlichen Handelns (Sören Kierkegaard, die Taten der Liebe, deutsch: H. Gerdes, Der Liebe Tun, in: Gesammelte Werke, Abt. 19, Düsseldorf/Köln 1966).

Wenn ich so die Liebe betone, sie so gar Gott entgegen halte, wenn wir mit unserem Vergeben scheitern, versuche ich dann nicht mit Gott zu handeln, oder wie die Theologen sagen würden, die verschiedenen Aussagen der Bibel auf eine Linie zu bringen, zu systematisieren? Nun, mit Gott zu handeln, haben Menschen schon immer wieder versucht. Manche hatten dabei so gar Erfolg. Selbst die Bibel berichtet von einem solchen Handel. Dabei ist kein geringerer als Abraham beteiligt. Er handelt mit Gott um Menschen. Gott will sie vernichten wegen ihrer Sünden, und Abraham will sie retten. (Gen. 18,20ff). Gott lässt sich auf diesen Handel ein! Ich denke, dass wir gar nicht einen solchen Handel versuchen müssen.

Noch vor den genannten beiden, dem Vaterunser folgenden Versen, stehen im Vaterunser zwei Bitten. Sie helfen uns.

Die unserer 5. Bitte folgenden Bitten 6 und 7 bitten Gott, uns nicht in Versuchung zu führen, sondern uns von dem Bösen zu erlösen. Die 6. Bitte wünscht, hofft auf den vorbeugenden Schutz vor Fehlern, vor Versuchung. Die 7., die letzte Bitte wünscht, hofft auf den generellen Schutz vor dem Bösen. Diese beiden Bitten sind offen, weit offen und schließen damit unsere Fehler, unseren Schuldigern nicht zu vergeben, mit ein. Sie nehmen sie gleich doppelt in den Blick, werden angesprochen, wird ihre Verhütung erbeten, ja, die Befreiung, Erlösung überhaupt.

Das Vaterunser ist ein herrlich umfassendes Gebet! Dank sei Jesus, der es uns lehrte, dem Vater, der sich von uns so umfassend bitten lässt, und dem Heiligen Geist, der uns dieses Gebet immer wieder beten lässt!

Amen

Lied: Nun lob mein Seel, den Herren (EG 289, 1-2,5)

Prof. Dr. Dr. Ulrich Nembach
ulrich.nembach@theologie.uni-goettingen.de

 


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