Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Predigtreihe zum Vater Unser, Oktober 2006
"Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden", Christoph Dinkel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


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Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.

Liebe Gemeinde!

„Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.“ – so lautet die dritte Bitte des Vaterunsers und diese Bitte soll uns heute näher beschäftigen. Das Vaterunser stammt mit hoher Wahrscheinlichkeit von Jesus selbst. In der Bibel ist es uns gleich doppelt überliefert, in einer längeren Fassung in Matthäus 6 und in einer kürzeren Fassung in Lukas 11. Die meisten Forscher vermuten, dass die kürzere Fassung des Lukasevangeliums dem historischen Ursprung näher kommt. Was wir im Konfirmandenunterricht lernen und im Gottesdienst beten, basiert allerdings auf der längeren Fassung des Matthäusevangeliums. Das ist für uns heute wichtig, weil in der kürzeren Fassung gerade der Satz fehlt, der uns heute interessiert: „Dein Wille geschehe.“ Das gibt zu denken. Stammt dieser Satz etwa gar nicht von Jesus?

Die Antwort auf diese Frage lautet „Jein“. Damit meine ich: So wie wir den Satz im Vaterunser beten, hat ihn wohl erst die Gemeinde, aus der das Matthäusevangelium stammt, formuliert. Sie hat ihn auch ins Vaterunser eingefügt. Der Satz ist wiederum aber auch nicht unjesuanisch, denn er greift ein Wort Jesu aus der Passionsgeschichte auf. Im Garten Gethsemane, kurz vor seiner Verhaftung bittet Jesus in einem ergreifenden Gebet Gott darum, dass er diesen Kelch des Leidens an ihm vorübergehen lassen möge. Nach langem innerem Kampf schließt Jesus das Gebet mit den Worten: „Mein Vater, ist’s nicht möglich, dass dieser Kelch an mir vorübergehe, ohne dass ich ihn trinke, so geschehe dein Wille!“ (Matthäus 26,42)

„Dein Wille geschehe“ – dieser Satz ist also aufs engste und von Anfang an mit Jesus und mit der Thematik des Leidens verbunden. Wer ihn in diesem Sinne bewusst betet, stellt sich in die Tradition Jesu und vieler biblischer Gestalten, die bereit sind, auch Unglück und Leid aus Gottes Hand anzunehmen. So sagt zum Beispiel Hiob, als er vom Tod seiner Töchter und Söhne erfährt: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt“ (Hiob 1,21). – Das ist beeindruckend, das ist groß und wir spüren die Kraft eines gewaltigen Gottvertrauens. Doch zugleich stocken wir und fragen uns, ob solch ein Gottvertrauen noch wirklich menschlich ist, ob es nachvollziehbar und für uns lebbar ist?

Und dann kommt auch gleich eine zweite Frage: Bedeutet der Satz „Dein Wille geschehe“ so verstanden nicht eine fatale Rechtfertigung menschlichen Leids und Elends? Werden durch einen solchen Satz nicht die Mörder Jesu zu den Vollstreckern des göttlichen Willens? Und wenn man schon so fragt, dann muss man sich auch fragen, ob durch solch einen Satz nicht auch die Taten der Mörder von Kambodscha und Srebrenica, die Taten von Kinderschändern und Terroristen wenigstens indirekt zu Vollstreckungen des göttlichen Willens erklärt werden? Und schließlich: Bedeutet dieser Satz so verstanden nicht auch einen katastrophalen Aufruf zur Passivität, zur Hinnahme der Verhältnisse wie sie sind, einen Aufruf zu einer Demut, die alles, auch das Schlimmste, zu ertragen bereit ist?

Haben wir unsere Fragen so weit auf die Spitze getrieben, wird unmittelbar deutlich, dass der Satz „Dein Wille geschehe“ auf keinen Fall in solch einem das Leiden rechtfertigenden Sinne verstanden werden darf, jedenfalls dann nicht, wenn wir vom christlichen Gott reden wollen, der ein Gott der Liebe ist, der das Leben und das Glück seiner Menschen will. Der christliche Gott darf nicht mit dem Fatum, dem namenlosen Schicksal, gleichgesetzt werden. Der christliche Gott fördert nicht Gutes und Böses zugleich, er verfolgt vielmehr eine einseitige Option für das Gute, für das Leben, für die Liebe und das Glück der Menschen. „Gott ist die Liebe“ formuliert der 1. Johannesbrief (1. Johannes 4,16) als Zusammenfassung des Evangeliums. Gott ist die Liebe – und für einen Gott, der die Liebe ist, kann es niemals akzeptabel sein, dass Unrecht geschieht und Unschuldige leiden. Der Gott der Liebe ist ein Feind der Krankheit und des zu frühen Todes, er ist ein Feind der Schmerzen und der Traurigkeit. Gottes Wirken erkennen wir dort, wo Menschen gesund werden, wo sie einander helfen, wo sie in Liebe miteinander verbunden sind, wo Aufbrüche aus Verkrümmungen geschehen und Neues wächst. Gottes Wirken wird sichtbar, wenn ein Gelähmter zu gehen lernt und zu tanzen beginnt wie in der wunderbaren Erzählung, wie Apostelgeschichte 3,1-10 berichtet. Der Wille Gottes ist Gesundheit und Leben, ist Glück und Heil – ganz einseitig und ohne Kompromisse.

Aber wie passt das dann zusammen? Die Eindeutigkeit des göttlichen Willens zum Leben und zum Heil der Menschen und die Worte Jesu in Gethsemane und im Vaterunser? Ganz offensichtlich sind die Worte Jesu in Gethsemane nicht als Rechtfertigung des Leidens gedacht. Sie entspringen einer sehr speziellen Situation, in der Jesus sein drohendes Leiden als unausweichliche Konsequenz seiner Verkündigung und seines Weges erkennt. Wer wie er mit letzter Konsequenz die Liebe Gottes lebt und verkündet, muss auch die Konsequenz in Kauf nehmen, dass der Liebende zum Opfer wird, dass er sich gegen seine Feinde nicht wehren kann, weil er sonst die Liebe verriete, dass der Liebende keine andere Waffe hat als die göttliche Liebe und dass ihn das zugleich stark und unendlich verletzlich macht. Die Annahme des Leidens ist für Jesus eine Konsequenz der göttlichen Liebe, die ihn erfüllt und der er vertraut. Die Annahme seines Leidens enthält für Jesus keine Rechtfertigung seiner Mörder und ihrer Taten. Vielmehr sagt Jesus voll Bitterkeit und Abscheu zu Judas, der ihn verrät, es wäre besser für ihn, er wäre nie geboren (Matthäus 26,24f).

Der Satz „Dein Wille geschehe“ stammt aus der sehr speziellen Situation Jesu in Gethsemane. Indem er durch die Gemeinde des Matthäus in das Vaterunser eingefügt wurde, hat sich der Zusammenhang geändert. Nun bildet er den Abschluss des ersten Teils des Vaterunsers, der aus drei auf Gott hin formulierten Bitten besteht: „Geheiligt werde dein Name, dein Reich komme, dein Wille geschehe“. Überlegt man nun, was der Kern der Botschaft Jesu war – nämlich die Verkündigung des Kommens des Gottesreiches –, so wird deutlich, dass die zweite und die dritte Bitte des Vaterunsers im Grunde dasselbe bedeuten. Die dritte Bitte erläutert nur noch einmal, was mit der zweiten Bitte schon formuliert ist: Gottes Reich möge vom Himmel auf die Erde kommen, damit auf der Erde – so wie schon im Himmel – Gottes Wille uneingeschränkt befolgt wird.

Dazu eine wichtige Seitenbemerkung: Jesu teilte mit seiner jüdischen Umwelt ein apokalyptisches Weltbild, für das die große Zeitenwende unmittelbar bevorstand. Das besondere an der Verkündigung Jesu ist nun, dass er der festen Überzeugung ist, dass die Zeitenwende im Himmel schon begonnen hat. „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lukas 10,18), sagt Jesus zu seinen Jüngern, als sie merken, dass sie Macht über die bösen Geister haben. Für Jesus ist die Macht des Satans und des Bösen schon zerbrochen. Für ihn ist das der Anfang des Reiches Gottes, in dem nun endgültig aller Schmerz und alles unschuldige Leiden ein Ende haben und Gottes Wille zum Leben und zur Liebe jetzt und hier auf der Erde endgültig zum Durchbruch kommt.

Dein Wille geschehe – mit der Formulierung dieser Bitte gibt das Vaterunser zu erkennen, dass der Wille Gottes keinesfalls schon immer und überall geschieht. Im Gegenteil: Diese Bitte macht überdeutlich, dass vieles, was in der Welt tatsächlich geschieht, dem göttlichen Willen diametral zuwiderläuft. Die Pointe der Bitte liegt also gerade nicht in der Rechtfertigung von Elend und Leid, die Pointe der Bitte liegt nicht in einem demütigen Zustimmen zu jedem Schicksalsschlag, der einem widerfährt. Die Pointe dieser Bitte liegt vielmehr genau darin, dass all unser Wünschen und all unser Handeln darauf ausgerichtet wird, dass die Welt anders wird als sie in vielerlei Hinsicht jetzt ist, dass Krankheit und Hunger, dass Schmerz und Leiden, Schuld und Verhängnis zurückgedrängt werden, wo immer es geht. Die weiteren Bitten des Vaterunsers verdeutlichen das in großer Klarheit, indem sie um das tägliche Brot, um Vergebung und um die Erlösung von allem Bösen bitten.

Der Anspruch von Gottes Willen umfasst dabei unser ganzes menschliches Leben. Es betrifft den persönlichen Bereich und unseren Umgang in der Familie, mit Nachbarn, Freunden und Kollegen. Es betrifft die Öffentlichkeit dieser Stadt und dieses Landes, in denen Gerechtigkeit herrschen soll und Menschen gesund und sicher und frei von Not leben sollen. Es betrifft diese Welt, in der so viel Unglück durch Krieg und Vertreibung, durch Machtmissbrauch und Habgier tagtäglich geschieht. All dies umfasst die Bitte um das Geschehen des göttlichen Willens: Himmel und Erde, Große und Kleine, Menschheit und Natur sollen von diesem göttlichen Willen zur Liebe durchdrungen sein.

Ja, alles soll vom göttlichen Willen zur Liebe durchdrungen sein – also auch ich, auch Du, auch Sie! Dass Gottes Wille geschehe, ist nicht nur eine nach außen und an andere gerichtete Forderung. In allererster Linie ist es eine Verpflichtung für denjenigen, der das Vaterunser betet. Die dritte Vaterunserbitte ist am Ende mithin eine Form der Buße und ein Signal zur Umkehr, so wie es Jesus schon bei seinem ersten Auftreten an seine Zuhörer richtete: „Tut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ (Matthäus 4,17). Die dritte Bitte des Vaterunsers betrifft ganz elementar uns selbst, die wir das Gebet sprechen. In unserem eigenen Leben und Verhalten soll Gottes Wille verwirklicht werden. Ich selbst bin gefragt und gemeint mit dieser Bitte: Wo kann ich Gottes Willen umsetzen in meinem Beruf, in meiner Familie, dort, wo ich Verantwortung habe? Die Bitte „Dein Wille geschehe“ leitet mithin nicht zur Passivität an, sondern im Gegenteil zur Aktivität. Indem ich die Bitte ausspreche, wird sie zur Frage an mich, an Dich, an Sie: Was tust Du dazu, dass Gottes Wille wirklich geschieht?

Vorschlag für Lied nach der Predigt: EG 358,1+3-5, Es kennt der Herr die Seinen

Prof. Dr. Christoph Dinkel
Pfarrer
Gänsheidestraße 29
70184 Stuttgart
E-Mail: dinkel@email.uni-kiel.de


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