Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, J. Neukirch, C. Dinkel, I. Karle

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Predigtreihe zum Vater Unser, Oktober 2006
"Dein Reich komme", Alexander Völker
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Dein Reich komme

Liebe Gemeinde!

Nur drei Worte umfasst mein Predigttext heute, drei wichtige und bedeutungsschwere Worte – sprechen Sie sie doch einmal mit mir: Dein Reich komme ! Was Jesus gepredigt hat, lässt sich im Grunde sehr einfach zusammenfassen: „Die Zeit ist erfüllt, die Herr-schaft Gottes nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Die „Herr- schaft Gottes“, das „Himmelreich“ ist nahe. Jesus gebraucht ein religiös-politisch hoch- besetztes Wort seiner Zeit, ruft aber nicht wie die Zeloten seiner Zeit zu Aufruhr und Revolution auf, bestätigt aber auch nicht die althergebrachten Denk- und Lebensmuster seines Volkes, in denen sich die Pharisäer bewegen. Auf deren Frage sagt er: „Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man’s beobachten kann; man wird auch nicht sagen: Siehe, hier ist es!, oder: Da ist es! Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch“ (Lk 17, 20ff.).

Das Reich Gottes ist für Jesus sowohl gegenwärtig wie zukünftig, ein erstes wichtiges Ergebnis unserer Überlegungen. Weil mit ihm die Herrschaft Gottes anbricht, mit dem Wort, das er Menschen sagt, mit den Heilungen, die er vollbringt, mit den Mahlzeiten, die er bei Zöllnern und Sündern hält, darum lehrt Jesus seine Jünger sogleich das Beten „Dein Reich komme“ (Mt 6,10). Obwohl mit ihm die Herrschaft Gottes schon jetzt da ist, muss sie sich in dieser Welt, „mitten unter euch“ durchsetzen, darum das Gebet! Lassen Sie uns diese drei bedeutungsschweren Worte noch einmal gemeinsam sprechen: Dein Reich komme ! Kürzer als diese Bitte kann man das ganze Evangelium nicht fassen, Jesus macht wahr, was er in der Bergpredigt den Jüngern sagt: Beim Beten „nicht plap- pern, viele Worte machen wie die Heiden“ (Mt 6,7f.); Gott weiß ohnehin, was wir nötig haben, ehe wir beten. „Mitten unter euch“: Diese hörende, betende, singende Gemeinde hier feiert nicht sich selbst, sie erlebt Gottes Reich jetzt und hier in der Gestalt von Kir- che, Gemeinde, mitten in der Welt, sonntags wie alltags. Ohne uns, ohne eine solche Got-tesdienstfeier mit ihren Vorzeichen für eine neue Welt wird Gottes Reich mitten unter uns nicht sein, nicht werden, nicht wachsen! Auch das sollen wir lebenspraktisch wissen.

Das Reich muss uns doch bleiben : Schon von weitem ist die letzte Zeile des Liedes Ein festeBurg von einer Gruppe glatzköpfiger junger Männer in Bomberjacke und Springer stiefeln mehr gegrölt als gesungen zu hören, wobei sie eine Fahne entrollen, nicht die vielen Begeisterungsfahnen Schwarz-Rot-Gold der Weltmeisterschaft, nein, die „Reichs-kriegsflagge“ mit schwarz-weißem „Eisernen Kreuz“ in der Mitte, das ist ihre Fahne. So geschehen im August 2006 in Wunsiedel /Fichtelgebirge, als junge Neonazis Rudolf Heß, den „Stellvertreter des Führers“, an seinem Todestag ehren wollen. Kann Luther denn das mit seinem Lied gemeint haben?

Notwendig und gut, sich klar zu machen: Mit dem Stichwort Reich, geschichtlich und politisch, stehen wir alle vor einem unabsehbar weiten Trümmerhaufen aus Tränen, Blut und Leiden, vor der Müllhalde von erst weitgespannten, dann total zerschellten Hoffnungen und Sehnsüchten, von Machtergreifung, Machtausübung, vor allem Macht- missbrauch, einem Gemisch aus idealster Einsatzbereitschaft und bitterster Todeser- fahrung. Unser deutsches Volk hat ja all das, wie auch immer, in seinem kulturellen Gedächtnis gespeichert: Das „Heilige römische Reich deutscher Nation“ war nach fast einem Jahrtausend Bestand vor genau zweihundert Jahren endgültig zu Ende. Es hatte Friedensschlüsse in nomine individuae trinitatis (im Namen des dreieinigen Gottes) zu- letzt nach einem 30jährigen Krieg erklärt: Eine aktive Erinnerung daran, dass Reich, d.h. Herrschaft und Machtausübung in dieser Welt immer nur vom Reich Gottes entlehnt, ausgeliehen, anvertraut sind, an das alle glauben und zu dem alle gehören. Noch im Zweiten Reich hieß der offizielle Titel Kaiser Wilhelms „von Gottes Gnaden“, welchen diplomatischen Schachzügen Preußens sein Kaisertum auch immer damals zu verdanken war. Und das letzte Jahrhundert bescherte Europa, nein, der ganzen Welt die schreckliche Erfahrung aus Nazi- und Sowjet-„Reich“: Bei Anwendung von Gewalt über die Menschen, über ihre Leiber und ihre Seelen ist kein Bestandsgarantie auf Dauer für ein Reich mehr gegeben. Das Grundgesetz der Bundesrepublik gebraucht darum das Wort Reich aus gutem Grund nicht mehr ... 1945 brachte es ein Theologe unserer Kirche auf den Punkt: „Die Herren dieser Welt kommen und gehen – unser Herr kommt!“

Lassen Sie es sich nicht verdrießen, wenn ich Sie noch einmal bitte, dass wir diese zweite Vaterunser-Bitte ein weiteres Mal miteinander sprechen: Dein Reichkomme ! Aus der Muttersprache Jesu, dem Aramäischen, haben wir in der Bibel zwei Worte aufbewahrt, die mit unserer Bitte direkt zu tun haben: Abba, die Vater-Anrede Gottes (Mk 14,36; Röm 8,5; Gal 4,6), dann auch – es mag Ihnen wie ‚Abrakadabra’ klingen - der Ruf Maranatha (1. Kor 16,22; Offb 22,20), den die Christen in der Frühzeit beim Abendmahl gebrauchten. Er kann sowohl ein Perfekt wie einen Imperativ ausdrücken, d.h. ‚Unser Herr kommt!’ genauso wie ‚Ja, komm, Herr!’. Mit diesem Ruf endet bekanntlich das Neue Testament. Wieder begegnet uns, was wir schon hörten: Das Reich Gottes ist gegenwärtig wie zukünftig! Luther (Untertan des Kaisers, von dem die Rede geht, er habe gesagt ‚In meinem Reich geht die Sonne nicht unter!’) musste das griech. βασιλεία (=Königsherrschaft; lat. regnum, von rex=König) nur mit dem in allen germanischen Sprachen vorhandenen rik= Reich wiedergeben; dabei haben das Tätigkeitswort reichen ein Sich-Erstrecken im Raum, im politischen Herrschaftsgebiet, reich, das Eigenschafts- wort das ‚gut ausgestattet, vermögend, mächtig’ als Bedeutungen hinzugebracht.

Aus den Gleichnissen Jesu (Das Himmelreich/ Reich Gottes ist gleich ...) lernen wir eine Menge. Die Bildworte vom Sämann, vom Senfkorn, vom Feigenbaum, Weinstock zeigen:

Gottes Reich kommt weder schlagartig noch automatisch, es muss wachsen ! Wir sollen uns ihm öffnen, seinem Wirken bei uns Raum geben, absterben lassen, was ihm nicht angehört, neues Leben erleben. Beginnen Sie doch vielleicht morgen früh mit einem fröhlichen Beten, z.B. des Vaterunsers, dazu noch einen Satz, der etwas von Ihrer Lebenslage jetzt sagt. Gleichnisse wie vom verlorenen Schaf und Sohn, von Arbeitern im Weinberg und anvertrauten Pfunden sagen zusammengenommen: Wir sollen gerettet sein aus Eigensucht, Untreue, Schuld. Erforschen Sie doch bitte, an welchen Stellen Ihr Zusammenleben mit anderen erschwert, belastet ist durch Versäumnisse, Lieblosigkeit, Unachtsamkeit. Nehmen Sie sich und diese Mitmenschen „ins Gebet“, in Ihr Gebet, und warten Sie auf Gelegenheiten, Chancen „für das Reich Gottes“, ohne ein aufdringliches, nur Sie selbst entlastendes Wort. Schließlich deuten die story von den Zehn Jungfrauen, die Speisungen und vielen Aufrufe zur Wachsamkeit darauf hin, dass wir beim Allerall-täglichsten, beim Essen und Trinken, das Danken und Loben des Gottes nicht vergessen, dessen Reich „mitten unter euch“ längst angefangen hat.

Zu Pilatus hatte Jesus gesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36) – das heißt ja nicht, dass Gottes Reich nicht in dieser Welt ist. In diesen Worten liegt die große Spannung zwischen Gottes Herrschaft und weltlichem Herrschen, Regieren, „Reich“, eine Spannung sowie Konfliktstoff für Jahrhunderte. Der Staat Israel vor Jesus ist das einmalige, einzigartige Beispiel dafür, dass Gottes Reich und weltliche Herrschaft identisch sein sollten. Seit dem Wort ihres Herrn zu Pilatus sind Christen grundsätzlich „herrschaftskritisch“, sei es dem römischen Kaiser, den Fürsten der Reformationszeit, neuzeitlichen Diktaturen oder einem islamischen Gottesstaat gegenüber, kritisch auch, sobald irgendetwas in dieser Welt auf einmal „Kultstatus“ bekommt. Christen beten nämlich Dein Reich komme – lassen Sie uns doch noch einmal diese Bitte sprechen! Weil sie „Bürgerrecht (πολίτευμα) im Himmel“ haben, wie Paulus sagt (Phil 3,20), leben sie in der Freiheit, den jetzigen Staat unter dem Vorbehalt ‚Dein Reich komme’ zu bejahen, das ist ja sehr viel mehr und anderes als etwa nur Steuern zahlen, zur Wahl gehen, „sich nichts zuschulden kommen lassen“. Warum in der Fürbitte heute eigentlich nicht Horst Köhler und Angela Merkel in ihren Ämtern als Vertreter/in für alle Männer und Frauen nennen, die öffentlich Verantwortung für andere zu tragen haben? Der Staat, den wir bilden, hat doch auch ein Gesicht „auf Zeit“, es gibt in ihm nicht „die da oben“ und dann nur stumm-ergebene Untertanen, wie manche sagen. Hieß es nicht irgend- wann in jüngster Vergangenheit Wir sind das Volk ?! Wieviele großartige Einsatz- möglichkeiten für Jung und Alt tun sich gerade in Zeichen finanzieller Engpässe auf, in denen wir helfend, vermittelnd, zusammenführend, nicht nachtragend, nicht auf- und abrechnend für andere neue Wege gehen können! An der Stelle wünsche ich mir Ihre einfallsreichen Ideen, Diskussionen unter uns auch mit gegensätzlichen Standpunkten, vor allem aber konkrete Verabredungen für das, was wir tun können.

Eilen Sie bitte zum Ende des Vaterunsers und sprechen mit mir: Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit ... Für uns, für unseren Glauben und für (berech-tigten) Zweifel scheint mir das wichtigste Wort in diesem Gebetssatz das Denn: Dieser lobpreisende Schlusssatz spricht die Begründung, den tragenden Grund für all das, was wir hier und heute bedacht haben, aus: Weil dir, dem unbegreiflichen Gott spätestens, seit Jesu Tod und Auferstehen endgültig das Reich und die Herrschaft gehört, beten wir: Dein Reich komme. Es könnte ja sein, dass meine Predigt heute doch nur ein Stück christlicher Ideologie ist, die an der harten Wirklichkeit des Lebens vorbeigeht ... Sollte dem so sein, dann vertraue ich dennoch auf dieses Denn – es spricht Wahrheit und Wirklichkeit aus, und darauf verlasse ich mich. Amen.

Alexander Völker
asvoelker@teleos-web.de

 


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