Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Passionszeit 2006
Theologische und kirchenmusikalische Anregungen zu Passionsliedern
Alexander Völker und Thomas Schmidt
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Zum 3. Sonntag der Passionszeit (19. März 2006)

Wenn meine Sünd’ mich kränken EG 82

Bei einem Lied geben zuweilen die in ihm gebrauchten „Tätigkeitswörter“ einen direkten Aufschluss über den singenden Menschen, vergleichbar bestimmten, wiederkehrenden Melodieformeln, die seine Singweise prägen. Die Folge von Sünd’ mich kränken (1,1), wohl bedenken (1,3), wenn man’s betrachtet recht (2,2) über was kann mir ... schaden? (3,1), nicht mehr ... fürchten (3,6) bis sag ich dir ... Lob und Dank (4,1ff.) – diese Abfolge lässt den Gnadenstand (3,3) des durch Jesu Leiden und Sterben gerechtfertigten Sünders erkennen. Dabei werden Passion, Leiden und Sterben des Herrn „summarisch“ kommemoriert: Sind Einzelstationen genannt (Kreuz, 1,6; sich martern lassen, 2,3; Herr-Knecht-Wechsel, 2,4; Not und Angstgeschrei, 4,5; Wunden, 8,1), ist immer das Ganze der Passion gemeint.

Unter den im zweiten Liedteil (ab Str. 5) anzutreffenden „Tätigkeiten“ – vieles ist ja ohnehin geläufigen Sprachmustern überlieferter Frömmigkeit entnommen – fällt die Bitte auf dass mir nie komme aus dem Sinn, wie viel es dich gekostet ... (5,5ff.). Eine solche Wendung (stammt sie vom Liedautor oder -bearbeiter Justus Gesenius selbst?) mag den hohen Grad geistlicher Aneignung gerade traditionell-formelhafter Glaubenssprache vergangener Zeiten anzeigen.

Bezieht der Predigttext (1. Petr 1,[13-17] 18-21) den fakultativen ersten Abschnitt mit ein, könnte es reizvoll sein, dessen Erwartung und Anspruch an die Christen – „heilig“ zu sein (1,15ff.) – mit den „Tätigkeiten“, die die Strophen 5 bis 8 zur Sprache bringen, zu „synchronisieren“: zu meiden die sündliche Begier (5,3f.) korrespondiert 1,14. Dieses Heiligsein begegnet im Lied nicht wörtlich (vgl. 5,1), der Sache nach eher in unterschiedlicher Brechung: von geduldig tragen (6,3) über das folgen (6,6f.), dienen (7,4) bis zum des versichern mich (8,4) und trau (8,5). Dass lieben (7,3; 7,7) sich auf üben (7,1) reimen kann, gäbe allein schon Stoff für eine ganze Liedpredigt!

Umgekehrt entspricht 1. Petr 1,18-21 mit seiner so grundsätzlichen Aussage den Strophen 1 bis 4 (das Stichwort erlöset begegnet im Lied 5,7; Luthers „Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi“ betont das ‚sacramentum’ und das ‚exemplum’). Doch keine der Folgestrophen versäumt es, sich für die Konkretionen des Alltags der Christen auf Jesu Exempel (6,6) zu berufen und zu gründen.

Die auf eine Kirchentonart zurückgehende Melodie erschließt sich nicht beim ersten Hören. Zwei Melodieformeln helfen zum „Lernen“ und „Behalten“: die Figur eines Sekund-, danach eines Terzschritts nach unten (Z. 1 –ne Sünd’ mich; Z. 2 Herr Jesu Christ, vgl. Z. 5, 6 und 7); sodann ein Terzschritt aufwärts auf immer gleicher Höhe (b-d’) (Z. 2, 4, 6, 7). Beide geben dem Lied, das von Anfang bis Ende ein einziges Gebet ist, etwas „schwebend Auffangendes“. (Das zu erleben lohnt auch hier unbegleitetes Vor- und Nachsingen.)

oder

Du schöner Lebensbaum des Paradieses EG 96

Lieder aus der Ökumene bereichern das Singen und Glauben der Gemeinde, lassen gewohnte Glaubensvorstellungen/Frömmigkeitsformen in einem anderen Licht erscheinen, auch neu verstehen. Mit Vilmos Gyöngyösi hat Dieter Trautwein aus dem alten ungarischen Passionslied, von dem nur das Lebensbaum-Motiv (Offb 22,2; 1,1) erhalten ist, ein Gebet zu Jesus (1,2; 3,1) geformt, das mit seiner klaren Ineinssetzung von Gotteslamm, Retter (auch 6,2), Befreier vor allem zwei Anliegen erkennen lässt: Neben der Einzigartigkeit des stellvertretenden Leidens (Du bist der wahre ..., 1,3) ist es die unauflösliche schuldhafte Verflochtenheit der Menschen mit diesem Geschick (besonders Str. 2, aber auch 1,3f.; 6,2f.), die der Übertragung am Herzen liegt. Beides liefert den Grund für die zentrale Bitte wandle uns von Grund auf (3,1) – eine eher ungewöhnliche Ausdrucksweise für die neu zu schaffende Existenz der Christen, die sich im gern vergeben (3,2 bis 4,1; nach Mt 5,44; Röm 12,14) erweisen soll. Die Wendung nach deinem Vorbild (4,2) lässt annehmen, dass der ‚Schächer am Kreuz’ das biblische Bild der Strophen 3 und 4 (Stichwort Paradies, 1,1) ist; auch das in deine Hände (5,2) weist direkt auf Lk 23,46 hin. Schließlich verdient das Frieden-Motiv (4,4; 6,3) Erwähnung.

Das Lied mit seinem zuweilen ‚prosahaften’ Sprachduktus (musstest du bezahlen, 2,3; sich selbst verfehlten, 3,4; Retter der verlornen Menschheit, 6,2) verzichtet auf Reim und verbindet drei Langzeilen pro Strophe mit einem knappen Abspann; die Strophen 2 bis 4 sollten eigentlich nicht auseinander gerissen werden. Es zeigt da und dort Konvergenzen zum Predigttext (etwa zum „Heilig“-Sein, 1,15ff., zum „teuren Blut eines Lammes“, 1,19, zum „die ihr durch ihn glaubt“, 1,21). Unterstützt wird dies durch eine unspektakuläre Melodie, die sich bis auf Z. 3 im Rahmen von fünf Tönen bewegt, wie der Quintsprung im Abspann beweist.

-> EG 82 / EG 96 (mit freundlicher Genehmigung des Bärenreiter-Verlags, Kassel)

Alexander Völker
asvoelker@teleos-web.de


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