Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
„Gottes Leiden in der Welt mitleiden“, Ralf Wüstenberg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Gottes Leiden in der Welt mitleiden“ Bonhoeffers Brief an E. Bethge vom 21.7.1944 – Eine Betrachtung zweier Briefpassagen

„Heute will ich Dir nur so einen kurzen Gruß schicken“ - Der Brief vom 21. Juli beginnt lapidar. Wenn im Anschluss von einem „Lebenszeichen“ die Rede ist, so klingt das ebenfalls lapidar, ist es jedoch keineswegs: Bonhoeffer verfasst diesen Brief einen Tag nach dem missglückten Attentat auf Hitler. Für Mitwisser der Verschwörung ist ein Lebenszeichen am 21.7.1944 viel. Dabei gehört es zur Unaufgeregtheit eines Charakters wie Bonhoeffer, dass man kaum eine Zäsur zu den theologisch motivierten Briefen zuvor spürt. Mit ruhiger Hand scheint er zu schreiben, in Glaubensgewissheit gebettet und doch in der „vollen Diesseitigkeit“ stehend.

Briefpassage 1

„Ich habe in den letzten Jahren mehr und mehr die tiefe Diesseitigkeit des Christentums kennen und verstehen gelernt; nicht ein homo religiosus, sondern ein Mensch schlechthin ist der Christ, wie Jesus … Mensch war. Nicht die platte und banale Diesseitigkeit der Aufgeklärten, der Betriebsamen, der Bequemen oder der Lasziven, sondern die tiefe Diesseitigkeit, die voller Zucht ist und in der die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung immer gegenwärtig ist, meine ich.“

Wenn Bonhoeffer von „den letzten Jahren“ spricht, wird er biographisch den Anschluss an die Widerstandsbewegung meinen, theologisch sein Ringen um Rechtfertigung angesichts der Schuld, die er damit auf sich lädt und die seine Ethik-Fragmente und große Teile seiner Tegeler Theologie durchziehen. Bonhoeffer, für den es kein Entrinnen aus der Fall des Schuldigwerdens gibt (denn ein „Nichtstun“ im Hitler-Deutschland würde ihn noch schuldiger werden lassen als ein Handeln) – ihn treibt sein Gewissen in den politischen Widerstand.

Im verantwortlichen Handeln entscheidet sich Bonhoeffer für das Gegenteil dessen, was seiner Ansicht nach „Religion“ kennzeichnet. Ein „homo religiosus“ ist nach Bonhoeffer ein Mensch, der sich entweder in sein Schneckenhaus verkriecht und den Rückzug in die Innerlichkeit antritt oder ins andere Extrem verfällt, nämlich sich ins Jenseits flüchtet statt sich im gelebten Leben „im Beten und Tun des Gerechten“ als Christenmensch zu bewähren.

Religion ist für Bonhoeffer so etwas wie eine Chiffre: Der Begriff steht für das Gegenteil von Leben. Nichtreligiöse Interpretation beabsichtigt nach Bonhoeffer eine auf das konkrete Leben bezogene Auslegung biblischer Begriffe. „Leben“ ist dabei offenbar mehr als „Lebendigkeit“ oder „biologisches Dasein“. Denn für dieses Leben gilt: „Die Erkenntnis des Todes und der Auferstehung ist immer gegenwärtig“. Hier ist keine Flucht ins Jenseits gemeint (und damit letztlich doch etwas „Religiöses“), sondern eine Diesseitigkeit, die christologisch qualifiziert ist. Das meint zum einen den qualitativen Unterschied zu aller religiösen Weltflucht; zum anderen aber auch einen qualitativen Unterschied zum rein weltlichen Verständnis von Diesseitigkeit, wie es für Bonhoeffer die Lebensphilosophie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verkörperte. Bonhoeffer las mit großem Eifer im Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis von Tegel Wilhelm Dilthey und Jose Ortega y Gasset, die ebenfalls alles Metaphysische zugunsten einer Erkenntnis, die aus der Fülle des Lebens gewonnen wird, ablehnten. Leben ist für Bonhoeffer mehr und etwas anderes als die „Fülle des Lebens.“ Er signalisiert dieses, wenn er von „tiefer Diesseitigkeit“ spricht. Leben ist nun nicht mehr nur genießen, sondern Teilnahme am Leiden Gottes in der Welt, das heißt wie Bonhoeffer an anderer Stelle schreibt: „Gottes Leiden in der Welt mit zu leiden“. Diese Teilnahme setzt „Zucht“ voraus: „Ziehst du aus , die Freiheit zu suchen, so lerne vor allem Zucht der Sinne und deiner Seele, dass die Begierden und deine Glieder dich nicht bald hierhin und bald dorthin führen. Keusch sei dein Geist und dein Leib, gänzlich dir selbst unterworfen, und gehorsam, das Ziel zu suchen, das ihm gesetzt ist. Niemand erfährt das Geheimnis der Freiheit, es sein den durch Zucht.“ – So schreibt Bonhoeffer über die „Zucht“ als „Station auf dem Weg zur Freiheit“, einem der letzten von ihm erhaltenen Gedichten.

Briefpassage 2:

„Erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens“ lernt man glauben. „Wenn man völlig darauf verzichtet hat, etwas aus sich zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann (eine so genannte „priesterliche Gestalt“!), einen Gerechten oder einen Ungerechten, einen Kranken oder einen Gesunden, und dies nenne ich Diesseitigkeit, nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten leben, - dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst, dann wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist „metanoia“ (Umkehr, Buße); und so wird man ein Mensch, ein Christ.“

Für Bonhoeffers konkrete Ethik ist bezeichnend, dass es nichts „Statisches“, „Immer“ geltendes gibt. Der antimetaphysische Zug wirkt sich auch auf das Glaubensverständnis aus. Der Glaube lässt sich nicht einfach in die Zeit hinein ausdehnen. Er „ist“ nicht so oder so. Glaube „wird“ wie die Tat im konkreten Tun. Man „wird ein Mensch, ein Christ“. Im „Bezogensein auf“ ist der Glaubende Christus nahe. Ganz den Blick auf Christus lenken, so formuliert er in den Ethik. Gut lutherisch bringt Bonhoeffer in unserem Brief dieses Bezogensein in einen Gegensatz. Bezogensein auf sich selbst – Bezogensein auf Gott; bei Bonhoeffer: nicht die eigenen Leiden, sondern Gottes Leiden in der Welt ernst nehmen. Auch der Leidensbegriff ist – wie der Lebensbegriff im Allgemeinen und der der Diesseitigkeit im Besonderen – christologisch qualifiziert: Leiden als Teilnahme Gottes in der Welt. Die Qualifikation erschließt sich erst über den Gottesbezug. Glaube wird zur „Teilnahme am Sein Jesu“, das sich selbst als „Dasein für andere“ qualifiziert.

Dieses Glaubensverständnis ist voller Dynamik, weil er nicht schon immer gegeben ist, sondern Wagnis bleibt, Herausforderung. Es kommt immer wieder erst in der „vollen Diesseitigkeit“ zur Entfaltung. Hier wird glauben gelernt - „gelernt“ in dem Sinne, dass immer wieder neu der Blick auf Christus gerichtet wird – ein echter „Lernprozeß“, in dem schließlich auch die eigne Müdigkeit im Glauben überwunden werden kann (vgl. Bonhoeffers Anspielung auf Gethsemane).

Ralf Wüstenberg
wustenbe@zedat.fu-berlin.de


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