Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Theologische Meditationen zur Passionszeit
Texte im Anschluß an Briefe, Gedichte und Reflexionen aus Dietrich Bonhoeffers „Widerstand und Ergebung“
Meditationstext zu dem Gedicht: "Christen und Heiden" (WEN 382), Jörg Neijenhuis
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Wenn wir während der Passionszeit das Leiden Christi bedenken, ja, wenn wir den Leidensweg Christi abschreiten, erkennen wir in diesem Weg auch Wegabschnitte unseres eigenen Lebens und auch unseres Leidens. Wir erkennen unser Leben im Leiden, unser Leben in der Not – wir erkennen auch Leben, das Leiden und Not überwindet. Der Mensch Jesus von Nazareth und wir Menschen begegnen uns im Leiden. Wir begegnen uns aber ebenso in der Hoffnung, dass das Leiden ein Ende haben möge. Wie viel Leiden hat Jesus nicht an den Kranken, Stummen, Tauben, Blinden und Lahmen beendet? Diese wundervollen Begegnungen finden in dem Gedicht »Christen und Heiden« von Dietrich Bonhoeffer einen außergewöhnlichen Ausdruck.

(Gedicht vorlesen; abgedruckt in: Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge [Neuausgabe], München 1977, 382; oder in: Dietrich Bonhoeffer: widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft (Dietrich Bonhoeffer Werke, Bd. 8), hg. v. Christian Gremmels u.a., München 1998, 515 f.)

Das Gedicht »Christen und Heiden« hat Dietrich Bonhoeffer im Gefängnis geschrieben. Seit April 1943 war Bonhoeffer in Haft. Während der Monate vor dem Attentatsversuch auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 muss das Gedicht entstanden sein, es war einem Brief vom 8. Juli 1944 beigegeben. Bonhoeffer wusste von dem Anschlag, banges Warten und Hoffen kennzeichneten seine Situation. Dann das fehlgeschlagene Attentat. Das Leiden an der politischen Situation sollte noch kein Ende haben. Damit verbunden war natürlich auch das persönliche Leiden, gefangen zu sein und um das eigene und das Leben der Verwandten und Freunde bangen zu müssen. Trotz oder gerade wegen dieses Leidens nimmt Bonhoeffer Christen und Heiden gemeinsam und doch sehr differenziert in den Blick.

Das Gedicht hat drei Strophen. Die erste Zeile jeder Strophe gibt die Begegnungen zwischen Menschen und Gott an. Drei Begegnungen werden genannt: Menschen gehen zu Gott in ihrer Not. Menschen gehen zu Gott in Seiner Not. Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not.

Die Begegnung in der ersten Strophe nimmt Naheliegendes auf, nämlich, dass wir Menschen zu Gott in unserer Not gehen. Leidende Menschen flehen ihn um Hilfe an, sie bitten um Glück und Brot, ja sogar um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. Warum sollte man Gott auch nicht darum bitten? Es gibt ja keinen Menschen, der diese Nöte beheben könnte. Wer kann schon aus Schuld und Tod erretten als Gott allein? Wer kann schon wirklich Glück schenken, das nicht bald vergeht? Wer kann denn Brot schenken, das auch die Seele satt macht? Wer schenkt Hilfe, die die Not endgültig wendet? Das kann nur Gott tun. Das kann kein Mensch vollbringen. Und das wissen nicht nur wir Christen, das wissen auch die Heiden. Bonhoeffer sieht alle Menschen, seien es Christen, seien es Heiden, in ihrer Gottesbegegnung. Diese Begegnung begründet er nicht damit, dass Gott alle Menschen liebt. Vielmehr sieht er, dass auch Heiden Gott um Abwendung der Not bitten. Es ist das Verlangen aller Menschen, dass das Leiden ein Ende haben soll.

In der zweiten Strophe geht es wieder um die Begegnung zwischen Menschen und Gott. Aber nun ist nicht mehr der allmächtige, der allumfassende Gott im Blick, sondern der Gott, der mitten in der Welt, mitten im Trubel des Lebens, auch mitten im Leiden zugegen ist. Es regt sich etwas in uns Menschen, wenn wir Not sehen, denn sie lässt uns nicht gleichgültig. Man kann sich kaltschnäuzig abwenden und die Not links liegen lassen, oder man lässt sich von ihr anrühren. Wer von Not nicht absieht, sondern hinsieht, der sieht darin Gott. Bonhoeffer schreibt: Menschen, die zu Gott in seiner Not gehen, finden ihn arm, geschmäht, sie finden ihn ohne Obdach und Brot. Er teilt das Schicksal jener Menschen, die in Not sind: Sie stehen nicht im Mittelpunkt des Lebens, sie halten sich am Rand des Lebens auf und fürchten, abzustürzen ins Nirgendwo. Ja, es ist noch viel mehr zu sehen: Sie sehen Gott verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.

Wollten wir Menschen Gott nicht bitten, uns davon zu befreien? Wo ist seine Kraft, unsere Not zu wenden, wenn er selbst von solcher Not verschlungen wird? Ist das ein Gott, der selbst Beistand benötigt? Bonhoeffer scheint das anzudeuten, wenn er die zweite Strophe beendet mit dem Satz, dass Christen Gott bei seinem Leiden beistehen. Bonhoeffer nennt nur Christen, die Heiden kommen an dieser Stelle nicht vor. Das ist kein Zufall. Denn man wird der geistlichen Bedeutung des Leidensweges Christi nur gewahr, wenn man ihn im Glauben abschreitet. Ja, man kann sich wohl ohne Glauben während der Passionszeit den Leidensweg Christi ansehen, um dann an Karfreitag unterm Kreuz zu stehen und zuzuschauen, was passiert. Christen aber schauen nicht von außen zu, wenn Gott leidet. Sie selbst leiden mit. Es ist auch ihr eigenes Leiden, an dem Gott leidet. Paulus schreibt, dass er Anteil hat am Leiden Christi (II Kor 4,10 f., Phil 3,10 f.). Daran Anteil zu haben, ist allein Christen im Glauben möglich, warum sollten Heiden mit Christus leiden wollen oder gar können? Für dies Mitleiden ist der Glaube an Christus unabdingbar. Darum schreibt Bonhoeffer hier nicht, dass auch Heiden mitleiden, so wie Heiden und Christen gleichermaßen Gott um die Errettung aus der Not bitten. Vielmehr heißt es, dass Christen bei Gott in seinem Leiden stehen. Ist das vielleicht die uns manchmal abgründig erscheinende Tiefe des Glaubens? Dass Christen und Gott, dass Christen und Christus sich im Leiden begegnen, dort, wo es etwas auszuhalten gilt, wo es etwas zu ertragen gilt. Dort, wo der Schmerz sticht, wo die Not zu triumphieren scheint, wo Sünde das Sagen hat, wo der Tod regiert. Dort, wo es dunkel wird, dort wo nicht die Freude und nicht das helle Licht gesucht werden. Dort, wo im Glauben allein die Liebe zählt, jene Liebe des Beistehens, des Daseins, des Naheseins, die absehen kann davon, was man dafür erhält – sei es Brot oder Glück, sei es Vergebung oder ewiges Leben.

Die dritte Strophe beschreibt eine überraschend andere Begegnung. Nun geht Gott zu allen Menschen in ihrer Not. Nun sättigt er Leib und Seele mit seinem eigenen Brot, und er stirbt den Kreuzestod für Christen und Heiden, ja, er vergibt beiden, Christen und Heiden. Nun wird wahr, was wir Menschen hoffen. Wir hoffen ja, dass das Leiden ein Ende hat, dass alle Not gewendet wird, dass Schuld vergeben und der Tod besiegt wird. Dass wir das nicht nur hören, sondern leben können.

Das Gedicht steht vielleicht für das Lebensgeschick Jesu: Sein Leben unter den Menschen, die ihn in ihrer Not um Hilfe bitten – das mag die erste Strophe im Blick haben. Mit der zweiten Strophe folgen die Passion und der Kreuzestod, das Leiden Gottes am Leiden der Menschen. Die dritte Strophe nimmt die Auferstehung in den Blick: Nach der Überwindung von Tod und Sünde wendet sich Gott allen Menschen gnädig zu.

Als Bonhoeffer dieses Gedicht im Jahr 1944 schrieb, war das Leiden in Deutschland und in den Kriegsgebieten unermesslich. Der Gedanke und der Entschluss, Hitler zu töten, um Deutschland und die Welt von diesem Irrsinn zu befreien, gehen ebenso über alles menschliche Ermessen hinaus. Christen entschließen sich, einen Menschen zu töten, um Menschen zu retten, um Leben zu ermöglichen. Christen beschließen, um der Not der Menschen – die um Hilfe, die um Glück und Brot bitten –, selbst Schuld auf sich zu nehmen. Ja, sogar die Schuld vor Gott auf sich zu nehmen, einen Menschen getötet zu haben. Sie nehmen Leiden bewusst auf sich. Sie geraten nicht zufällig in das Leiden hinein, es kommt nicht über sie, sondern sie rufen es hervor. Sie gefährden nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Angehörigen. Sie nehmen in Kauf, selbst getötet zu werden.

Es ist wohl der nicht zu ergründende Gedanke, dass Leiden nur mit Leiden überwunden werden kann, der aus der Kraft der Liebe kommt. Damit kommt nicht nur das Leiden anderer Menschen in den Blick, sondern das eigene Leiden, das in diesem Schritt Anteil hat am Leiden Christi.

PD Dr. Jörg Neijenhuis, Pfarrer
Joerg.Neijenhuis@web.de

 


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