Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Karfreitag, 14. April 2006
Predigt zu Hebräer 9, 15.26b-28, verfasst von Claudia Bruweleit
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Christus ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.
Und wie den Menschen bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht:
so ist auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.

Liebe Gemeinde!

Karfreitag ist nicht erbaulich. Der Gottesdienst am Karfreitag ist schwer auszuhalten. Er steht quer zu unseren Wünschen und Neigungen. Wir feiern gerne schöne Gottesdienste, lassen uns bestärken im Lob Gottes, das fröhlich stimmt. Zu Recht tun wir dies – an allen anderen Sonn- und Feiertagen des Jahres. An diesem Tag jedoch sehen wir auf die dunkle Seite des Lebens. Gerne würden wir die Augen verschließen davor, weglaufen, uns ablenken, nicht hinsehen müssen auf das, was weh tut, was wir nicht ändern können. Einmal im Jahr, am Karfreitag, bringen wir genau diese Erfahrungen vor den Altar Gottes. Am Karfreitag gilt es, den Schmerz zu ertragen. Das Leiden und die Gottverlassenheit Jesu. Und das Leiden und die Gottverlassenheit der Welt. In der Passionsgeschichte, die wir eben gehört haben, sind es die Frauen, die stark genug sind, der Realität ins Angesicht zu sehen. Alle Jünger (bis auf Johannes) sind geflohen, doch die Frauen beobachten das Geschehen von ferne. Sie harren unter dem Kreuz aus.

Und warten. Es sind Karfreitagsmenschen, Menschen, die unter dem Kreuz ausharren – ausharren müssen und deren Leid so groß ist, das es keine Worte gibt, mit denen man das Geschehen bewältigen kann. Darin, dass sie dort am Fuße des Kreuzes Jesu warten, suchen nach einem Halt – dass sie nicht sich allein überlassen sind. Gemeinsam warten, das Gott handelt.

Karfreitagsmenschen. Menschen, die unendlichen Schmerz aushalten müssen. Ich denke an eine junge Mutter, die ihr Kind im zweiten Drittel der Schwangerschaft verloren hat – es wäre ihr erstes gewesen. Gemeinsam mit ihrem Freund hatte sie in der Klinik von der Möglichkeit gehört, ihr totes Baby in dem Grab für ungeborene Kinder beisetzen zu lassen und so kamen beide zu mir. Diese Frau wirkte wie versteinert. Sie schwieg. Worte schienen keinen Widerhall in ihr zu finden. Trost war unerreichbar. Selten habe ich in einem Seelsorgegespräch so viel Hilflosigkeit empfunden. Ich war dankbar, dass es einen Menschen an ihrer Seite gab, der die Trauer mit aushielt.

Karfreitagsmenschen. Menschen, die nichts tun können als warten, bis Gott handelt. Ich sehe das Photo einer Flüchtlingsmutter in Afrika vor mir, der sich die vertrocknete Hand ihres einjährigen Kindes auf den Mund presst. (Prämiert als World-Press Photo 2005.) Ihre Augen scheinen in weite Ferne gerichtet, ohne Ziel. Hunger aushalten, den eigenen und, schlimmer noch, den des Kindes. Und nicht wissen, ob es ein besseres Morgen geben wird.

Karfreitagsmenschen. Menschen, die keinen Weg finden aus der Hoffnungslosigkeit. Ich sehe vor mir eine alte Frau, deren Mann nach sechzig gemeinsamen Jahren gestorben ist. Kinder haben sie nicht. Verwandte wohnen weit weg. Still und zurückgezogen hatten sie ihr Leben geteilt, hatten sich gefreut an der gemeinsamen Lektüre der Tageszeitungen, an kurzen Spaziergängen und besorgungen. Nun, da er tot ist, ist die Wohnung ganz still. Die Lektüre erscheint ihr inhaltsleer, es fehlt der, der ihr die interessantesten Artikel weiterreicht, darüber mit ihr spricht. Das Essen zuzubereiten scheint ihr müßig, für sich allein will sie nicht kochen. Auf die Straße geht sie nicht aus Angst, sie könnte fallen. Freunde kommen selten, mögen nicht mehr hören, wie schwierig alles für sie geworden ist.

Die Leere aushalten. Warten, dass neuer Lebensmut sich einstellt. Dass ein Gedanke aufblitzt mit der Kraft, etwas zu tun.

Karfreitagsmenschen. Ihr Anblick ist nicht erbaulich. Sie sind gezeichnete, von der Unerlöstheit in unserer Welt berührte. Ihren Schmerz anzusehen, tut weh. Wohl ihnen, wenn jemand da ist, der ihre Nähe nicht scheut. Der hineingeht in ihre Situation und sie tragen hilft.

Es ist etwas anderes, Leid anzusehen als selbst zu erfahren. Die Trauer eines anderen Menschen ist eine andere Trauer als die, die mich überrollt. Dennoch gelingt es zu Zeiten, mit zu fühlen. In eine Situation von Angst und Abschied hineinzugehen und sie mit auszuhalten. Manchmal ist einem dann nur noch zum Heulen zumute und alles eigene einmal erfahrene Leid steigt mit auf und auch die ungeweinten Tränen, die noch kommen werden. Und doch ist es gut, den anderen nicht allein zu lassen. Den Tränen Raum zu geben und zu wissen: der Berg der Trauer wird abgetragen durch die Tränen und das Reden und das Schweigen über dem, was geschehen ist.

Manchmal gelingt es auch, Halt zu geben.

Die Frauen und der Lieblingsjünger halten es aus, hinzusehen. Sie tragen das Zeichen der Gottesverlassenheit dieser Welt. Und zugleich das Geheimnis Gottes, der gerade um dieser Gottesferne willen in die Welt gekommen ist.

Nun aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben.

Der Predigttext beschreibt dies Geheimnis als ein Opfer, als ein bewusstes Eintreten Gottes, ein Hineingehen Gottes in die Situation der leidenden Menschen.

Karfreitagsmenschen gehören zu dem, der am Kreuz gestorben ist. Der verlassen war von allen. Selbst Gott verbarg sich Jesus in diesem Moment. „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ ruft er in Todesangst.

Karfreitag hat er erlebt, wie es ist, wenn der Tod der nächste Verwandte ist.

Die Frauen und der Lieblingsjünger unter dem Kreuz, sie sind die erste Karfreitagsgemeinde, ja die erste Gemeinde überhaupt, die hinschaut, die harrt und wartet. Und unter ihnen ist auch Gott.

Das Rätsel von Karfreitag, unser Nichtverstehen, warum es kein Eingreifen und kein Lösen der Fesseln gibt, warum es Jesu Tod am Kreuz gibt und Menschen davor dieses hilflos anschauen, miterleiden müssen, dieses Rätsel wird uns angesagt als ein Ort, an dem doch Trost, und das bedeutet, Gott zu finden ist. Wenn es stimmt, dass wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, Gott unter ihnen ist, dann ist Gott auch hier, unter den Menschen am Kreuz, die warten, aushalten und ertragen. Er ist unter denen, die auf das Kreuz schauen, einer von ihnen, verharrend im Schmerz. Gott hat nicht die Ferne des Himmels für sich erwählt hat, sondern die Nähe der Menschen, die aus eigener Kraft nichts vermögen.

In Gottes Gegenwart ist auch das Nichtwissen um das, was geschehen wird, eingeschlossen.
Seitdem sammelt sich Gemeinde Christi unter dem Kreuz.

Die Trauer der Mutter, die mit ihrem Kind alle Träume vom Leben mit einem Baby, alle Zärtlichkeit für dieses schutzlose Wesen mit begräbt, Gott kennt auch sie. Er hat seinen eigenen Sohn am Kreuz sterben sehen und konnte nichts dagegen tun.

Der Schmerz der Flüchtlingsfrau, der das Kind unter den Händen zu verhungern droht, er spiegelt sich in den Augen des Gekreuzigten, den dürstet und er bekommt doch nur Essig dargeboten.

Die Angst der einsamen Witwe vor dem nächsten Schritt in einem Leben, das fremd und unwirtlich geworden ist, sie schreit aus den Worten des Gekreuzigten, Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen.

Karfreitag ist der Tag, an dem wir für einen Moment die Abgründe in uns und im Leben anderer ansehen und aushalten können in dem Wissen, dass Gott sie kennt und durchmessen hat. Dass wir in seinem Geheimnis geborgen sind. Gott hat sie selbst durchschritten. Er kommt uns von ihrem Ende her entgegen.

„Zum zweiten Mal wird Christus nicht der Sünde wegen erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil“, sagt der Hebräerbrief. Er sagt dies aus der Erfahrung von Ostern her. Durch diese Worte scheint die Ewigkeit durch. Mit der Verheißung, dass aus Leidenden Leid-Tragende werden können, Menschen, die an der Erfahrung von Leid nicht zugrunde gehen, sondern Kraft bekommen, es zu tragen und weiter zu leben und Freude zu erleben.

Karfreitag ist nicht erbaulich. Karfreitag ist jedoch der Moment, an dem wir das Geheimnis Gottes erahnen können, der unsere Nähe sucht – dort, wo wir schwach sind.

Karfreitagsmenschen sind Menschen, die das erfahren haben. Als Gemeinde stellen wir uns zu ihnen unter das Kreuz und ahnen, dass wir nicht aus unserer Stärke, sondern aus Gottes Nähe leben.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle unser Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Claudia Bruweleit
Pastorin an der Pauluskirche zu Kiel
bruweleit@heiligengeistgemeinde.de


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