Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: C. Dinkel und I. Karle

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Palmarum, 9. April 2006
Predigt zu Jesaja 50, 4-9, verfasst von Hans-Wilhelm Pietz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

wer weckt mich auf, was macht mich wach? Wie wachen wir eigentlich auf? Was vielleicht erst ganz selbstverständlich und unwichtig erscheint, sagt doch viel über uns aus: Darüber, wie es uns geht, in welchem Zusammenhang wir leben, wer oder was uns bestimmt.

Menschen aus meinem Umfeld berichten davon so:

Stimme 1
Unser Schlafzimmer hier in der Görlitzer Innenstadt geht auf einen alten Hof. Ein Baum ist da. Sträucher, die jetzt bald blühen. Ich werde wach vom Lied der Vögel. Ich lebe in einem großen Zusammenhang. In den hinein kann ich erwachen.

Stimme 2
Mit der Dämmerung höre ich die erste Straßenbahn. Da werde ich schon ein wenig munter. Ich weiß, ich habe noch eine Straßenbahn lang Zeit. Mich stören die Geräusche der Straße nicht. Sie geben mir ja auch Orientierung. Ich wache auf vom Leben der Stadt – und bin dankbar dafür, dass solches Leben hier ist bei uns.

Stimme 3
Meist werde ich wach von einem unbestimmten Druck. Irgendwie geht der Tag, der kommt, schon durch mich hindurch. Nicht zuerst durch den Kopf. Eher durchs Herz, durch die Brust, an die Nieren. Ich sag mir, da sind sie wieder, die Gespenster der Überforderung nehmen mir den Schlaf, wecken mich auf.

Stimme 4
Zuerst sind bei uns die Kinder wach. Das kann manchmal sehr fordernd sein – und dann wieder wie ein Fest. Sie singen im Bett, lachen. Und das Lachen geht mit in den Tag.

Stimme 5
Meist erwache ich durch das Gefühl der Leere. Meine Hand gleitet hinüber – dorthin, wo so viele Jahre lang mein vertrauter Partner war. Es ist, als ob ihn die Hand immer noch sucht. Ich habe es viele Jahre lang genossen, dass er mich weckte. Jetzt werde ich vom Suchen wach.

Stimme 6
Mich weckt der Weckerklang. Ich weiß: Kein Tag ist wie der andere. Ich weiß: Was kommt, liegt nicht in meiner Hand. Ich will mir die Neugier bewahren – auf jeden Tag. Ich will erfahren, was dieser Tag für mich bedeutet: Wenn es schwer wird – und wenn ich Schönes erleben darf. Ich hab da auch ein Zutrauen zum Wachwerden und Wachsein.

Wer weckt mich auf, was macht mich wach? Wir fragen nach den Kräften und der Kraft für jeden Tag. Wir fragen nach der Kraft zum Standhalten, zum Widerstehen. Wir fragen nach dem Zutrauen, das trägt, wenn es ganz schwer wird – und wenn Schönes wartet.
Der Predigttext steht im Prophetenbuch Jesaja, Kapitel 50:

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben,
dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.
Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören.

Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam
und weiche nicht zurück.

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen,
und meine Wangen denen, die mich rauften.
Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.

Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden.
Darum habe ich mein Angesicht hart gemacht wie ein Kieselstein;
Denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

ER ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten?
Lasst uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten?
Der komme her zu mir!

Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen?
Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.


Liebe Gemeinde,
wer weckt mich auf, was macht mich wach?
Es ist spannend, dieser Frage nachzugehen. Die Art und Weise, in der ich wach werde, sagt viel darüber aus, wie ich dran bin: Ob ich in einem großen Zusammenhang lebe, in einer Umgebung, die Orientierung bringt. Oder ob alles ist wie der Druck der Überforderung – oder wie das Lachen der Kinder. Ob mein Leben ein banges Suchen ist, oder ob ich offen sein kann für alles, was kommt.

Es ist wirklich nicht egal, wer mich aufweckt, was mich wach macht, wie ich aufwache.
Lange habe ich dieser Frage gar keine Beachtung geschenkt. Lange Zeit hindurch war das Aufwachen etwas Unbedachtes und Selbstverständliches: aus den Kinderträumen ging es in den Kindertag. Kinderleicht war das. Dann das Gewecktwerden im Internat. Das war schon anders, etwas polternd, wie eine Drohung manchmal: Du bist nicht allein – nicht beim Aufwachen und nicht beim Schlafen. Den ganzen Tag lang bist du einer unter anderen.

Und dann weiß ich noch, wie das war, zum ersten Mal nicht allein im Bett aufzuwachen. Wie das war, mit einem Augen-Blick aufzuwachen. Und nie werde ich die Zeit vergessen, wo wir zu dritt aufwachten: Wie wunderbar das war, so vom Strampeln und Lallen eines Kindes wach zu werden.

Wunderbar ist es, wenn wir lebendig angerührt werden – und so wach werden dürfen. Sogar in einer ganz bedrohlichen Situation kann das etwas entscheidend verändern. So hat es der Gottesknecht erfahren. So klingt seine Stimme aus dem Prophetenbuch Jesaja. Durch mehr als 2500 Jahre hindurch ist sie gedrungen:

Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Gott der HERR hat mich lebendig angerührt. Er weckt mich alle Morgen – so weiche ich nicht zurück. Überrascht klingt die Stimme – und dankbar – und entschieden: Ich weiche nicht zurück.

Da hat der Gottesknecht gar nichts Knechtisches. Der duckt sich nicht ab. Er versteckt sich nicht. Der weicht nicht zurück, wenn es problematisch wird. Gott hat ihn geweckt: Da ist der Knecht ein Herr.

Das gibt es ja wirklich: Dass einer mitten in einer bedrohlichen Situation eine geradezu königliche Freiheit gewinnt. Heute, am 9. April, dem Tag, an dem vor 61 Jahren Dietrich Bonhoeffer ums Leben gebracht wurde, denken viele da an ihn: Für seine Mitgefangenen hat er zu Weihnachten 1943 Gebete aufgeschrieben, Gebete als Helfer zur Freiheit:

In mir ist es finster,
aber bei Dir ist das Licht;
ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht;
ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe;
ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede;
in mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld;
ich verstehe deine Wege nicht,
aber Du weißt den Weg für mich.

Und viele hier im Raum können dazu Geschichten aus eigenem Erleben erzählen. Aus der DDR-Zeit: Vom Vater, der - in einer herrlichen Freiheit - mit dem Moped im Schlosseranzug in die Schule fuhr, als sie seine Tochter zur Jugendweihe zwingen wollten. Aus dem vergangenen Jahr: Von der jungen Frau, die sich ganz allein gegen die Wachdienstleute stellte, die einen Obdachlosen niedermachten. Vom heutigen Tag: Wie eine in den Sonntag geht - trotz aller Lasten und Probleme – wie eine in den Sonntag geht, als wäre sie ein Sonntagskind: Weil Gott sie angerührt hat, weil Gott ihr das Ohr geweckt hat, weil das eine Würde gibt, die stärker ist als alles, was wir tun und erleiden können.

Und wir wissen auch, wie schnell es umgekehrt abläuft: Wie vermeintliche Herren (und Damen) zu Knechten werden: Weil sie z.B. schon vom Gedanken an einen schnellen Gewinn wach geworden sind – und diesem Gedanken nachjagen durch Tag und Nacht. Der Schriftsteller und Journalist Uwe von Seltmann, der für einige Jahre bei uns in Görlitz gelebt hat, benutzt in einem seiner Romane nicht zufällig den Namen „Knecht“. In seinem Buch „Karlebachs Vermächtnis“ erzählt er die Geschichte vom Judenhaus in einem kleinen Ort in Deutschland heute. Keiner will sich an die Geschichte des Judenhauses erinnern: Nicht die Nachbarn, nicht der korrupte Bürgermeister, - und auch nicht der Oberkirchenrat Knecht, wie er im Roman heißt. Auch er hat dunklen Gewinn gemacht. Und so heißt er in jenem Buch ganz einfach: Knecht. Merkwürdig: Wie schnell gerade hohe Herren in den Ruf kommen können, wie ein Knecht zu sein und zu handeln ...

Der Gottesknecht aus dem Jesajabuch aber ist anderer Art. Wer seine Worte hört, sieht es wie Bilder eines Zuges, der eben auch durch die Geschichte zieht. Sieht Gestalten, die dafür stehen, dass das Bild des Menschen nicht verlorengegangen ist unter Ichsucht, Korruption und brutaler Gewalt. Sieht einen, der nicht weicht. Sieht eine, die nicht nachlässt. Sieht sie dafür richtig eintreten, dass die Kleinen nicht vergessen und die Schwachen nicht verlacht werden. Und eben darin sind sie gehorsame Gottesknechte, sind sie zugleich freie Herren. Wen Gott geweckt hat, wen Gott wach gemacht hat: der geht so los.

Es sind starke Bilder, die das Jesajabuch vom Gottesknecht vorstellt. Nicht die Bilder eines Heroen, eines Überfliegers in Sachen Gerechtigkeit. Es sind vielmehr Bilder eines Ringens und Widerstehens, das weiß: Du wirst den Rücken hinhalten müssen dafür. Es wird Spuren hinterlassen an dir selbst. Schmerzhafte Spuren. Aber es wird nicht umsonst sein.

Manchmal denke ich, der Gottesknecht zeigt hier etwas von Gott selbst. In denen, die so sind wie der Gottesknecht, begegnet doch Gottes eigenes Geheimnis: Er bleibt ja nicht draußen. Er weicht ja nicht, wenn es ernst wird. Gott ringt doch gegen alle Lebenszerstörung: dass es gut wird. Anders als in diesen Bildern des Ringens und Widerstehens, des Mitgehens und Aufweckens kann ich Gott und die Geschichte gar nicht zusammenbringen. Er ist ja kein müßiger Zuschauer. Er ist es ja selbst, der mitleidet und widersteht; der weiß: Es wird Spuren hinterlassen an ihm selbst. Schmerzhafte Spuren. Aber es wird auch nicht umsonst sein.

Und alle Morgen weckt er seinen Knecht, weckt er ihm das Ohr, rührt er ihn lebendig an, dass er mit den Müden rede zu rechter Zeit.

Wenn etwas hilft, wenn etwas wirklich weiterhilft in dieser Welt, dann sind es ja nicht die hehren Appelle oder die großen Forderungen. Wenn etwas hilft, dann ist es ein Ringen, das den Rücken hinhält – und das Reden mit den Müden zur rechten Zeit.

Vielleicht sind es gerade Menschen wie der Gottesknecht, der so ganz und gar nicht zu den gängigen Gewinnertypen zählende Gottesknecht, die dazu helfen, dass andere am Leben bleiben und am Leben festhalten. Denn wenn einer müde ist, so richtig lebensmüde, dann helfen keine Appelle. Dann helfen auch keine Forderungen, hilft auch kein Angstmachen. Dann hilft aber - wenn es gut geht - einer, der selber durch die dunklen Strecken gegangen ist, einer, der die Finsternis gespürt hat, dem Gott darin das Ohr geweckt hat, den Gott geweckt hat.

Es sind nicht die, die bei jeder Gelegenheit reden, die wirklich helfen. Es sind die, die dem Müden zur rechten Zeit etwas zu sagen haben. Vielleicht gerade dies: ER, er weckt dich auf. Nicht die Gespenster der Nacht, nicht der Druck des kommenden Tages, nicht die Last der Überforderung.

Denn es ist wirklich nicht egal, wer uns aufweckt, was uns wach macht, wie wir aufwachen. Ja, in allem, was mich umgibt, in allem, was mir widerfährt, kann ich sagen: Ich danke dir, Gott, dass DU mich aufweckst.

Amen.

Lied: Er weckt mich alle Morgen, EG 452

Evangelische Generalsuperintendentur Görlitz
Regionalbischof Dr. Hans-Wilhelm Pietz
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