Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

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4. Sonntag nach Epiphanias, 29. Januar 2006
Predigt zu Epheser 1, 15-20a, verfasst von Johannes Block
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


I.

Herzensangelegenheiten sind immer eine schwierige Sache. Das gilt schon rein äußerlich, wenn man etwa an Herzerkrankungen denkt. So ist eine Operation am offenen Herzen ein gewagtes Unternehmen. Während das menschliche Zentralorgan schlägt und pumpt, müssen die Ärzte am OP-Tisch Millimeterarbeit leisten. Alles steht buchstäblich auf Messers Schneide.

Eine vergleichbare Operation vollzieht sich in unserem Predigtwort. Auch hier liegt ein Herz offen zutage. Es ist das Herz des Glaubens, die Herzkammer der Kirche, die im Predigtwort sich öffnet. Hören wir nochmals in den Anfang hinein:

Nachdem ich gehört habe von dem Glauben bei euch und von eurer Liebe, höre ich nicht auf zu danken für euch und gedenke euer in meinem Gebet.

Das Herz des Glaubens und die Herzkammer der Kirche – das ist das Gebet. Eine Kirche kann vieles besitzen: geschmückte Altäre und renovierte Orgeln, Kindergärten und Friedhöfe, lebendige Arbeitskreise und gut besuchte Konzerte. Die eigentliche Kirche aber kommt erst zu sich selbst als betende Kirche. Im Gebet hat sie ihr Wesen, hat sie ihr Herz gefunden. Martin Luther faßt es knapp und plakativ zusammen: “Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das höchste Amt in der Christenheit“.

Und was der Kirche billig ist, soll der Theologie recht sein. Seit alters gibt es die Überzeugung, daß das Gebet auch eine Keimzelle der theologischen Wissenschaft ist. Lex orandi - lex credendi, lautet eine tradierte Formel aus dem Mittelalter: auf daß das Gesetz des Betens das Gesetz des Glaubens bestimme. Hier scheinen zwei Herzkammern miteinander zu arbeiten: das Gebet und die Dogmatik, der Gottesdienst und die Theologie.
Bereits der so genannte erste christliche Theologe, der Apostel Paulus, verfaßt seine vielfältigen Briefe gewissermaßen mit “Doppel-Herz“. Er ist liturgischer Theologe und theologischer Liturg. In seinen Sätzen sind Belehrung und Lobpreis, Theologie und Doxologie miteinander verwoben. Auch im Blick auf das Predigtwort läßt sich der Einfluß des Apostels Paulus entdecken. So ist das gesamte erste Kapitel des Epheserbriefes als ein Loblied und Gebet komponiert. Und inmitten des Briefes, am Ende eines Gedankenganges, findet sich ebenfalls eine jubelnde Doxologie (Eph 3,20-21) :

Dem aber, der überschwenglich tun kann über alles hinaus, was wir bitten oder verstehen, dem sei Ehre in der Gemeinde und in Christus Jesus zu aller Zeit, von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.

II.

Wir haben gesehen: Das Predigtwort vollzieht so etwas wie eine Operation am offenen Herzen der Kirche: an ihrem Lobpreis und Gebet. Wie an einem OP-Tisch ist auch diese theologische Operation nicht ohne Risiko. Denn unser Predigen und unser Hören kann gelingen, es kann aber auch scheitern! Es hat etwas von unwägbarer Millimeterarbeit, ob sich etwas von dem überträgt, was im Herzen der Kirche schlägt. Daß man etwas vom Pulsschlag des Glaubens spüren, daß überschwengliche Kraft, Macht und Stärke - wie es im Predigtwort heißt - in uns wirksam wird (Eph 1,19) , all das hängt an Gottes freier Epiphanie. Hier ist jede Operation und jede Predigt ohne Garantie.

Nun hat sich eine Grenze gezeigt - eine Grenze zwischen den operativen Möglichkeiten des Menschen und der freien Epiphanie Gottes. Und irgendwie auf dieser Grenze hält sich das Predigtwort mit seinem Gebet und Lobpreis auf. Im Gebet scheint sich die menschliche mit der göttlichen Herzkammer zu verstricken und zu verschwistern.

Auf diesen fröhlicher Wechsel im Herzen möchte ich jetzt gemeinsam mit Ihnen blicken. Das Predigtwort ist gleichsam der operierende Chefarzt, der zeigt, wie das Herz der Kirche schlägt und pumpt und wie die beiden Herzkammern arbeiten. All das ist, wie gesagt, nicht ohne Risiko. Es gibt keine Garantie, ob sich das betende Herz der Kirche öffnet. Es gibt kein Rezept dafür, daß überschwengliche Kraft, Macht und Stärke in uns wirksam wird. So kann man in diese Operation nur gebannt und gespannt gehen - vielleicht mit einem Gebet auf den Lippen, während man über die Schwelle in den OP-Saal gefahren wird.

Aber immerhin gibt es eine zeitliche Entwarnung. Denn jetzt steht uns keine doppelstündige Operation bevor, sondern nur ein kleiner Eingriff in drei Schritten. Es geht um den Geist, um den Dank und um die Fürbitte - gleichsam als den Blutfluß im betenden Herzen der Kirche.

III.

Am Anfang steht das Gebet aus dem Geist heraus. Im Predigtwort heißt es:
Ich gedenke euer in meinem Gebet, daß der Gott unseres Herrn Jesus Christus euch gebe den Geist der Weisheit und der Offenbarung, ihn zu erkennen.

Beten ist ein kirchliches und menschliches Tun. Man kann es wie ein Handwerk lernen, sagt der langjährige Benediktinermönch Fulbert Steffensky. Man kann die Sprache, die Zeiten und die Gebärden des Betens lernen. Aber das Ineinanderfließen aller Elemente hängt an der Gabe des Geistes. Der Geist ist die Quelle, der alles in Bewegung versetzt und fließen läßt. Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, sagt der Apostel Paulus (Röm 8,26) . Auf einmal werden einem die Zunge und die Gedanken geführt. Niemand wird ausgeschlossen: weder verschrobene noch sprachlose Menschen. Niemand bekommt ein Vorrecht: weder sprach- noch redegewandte Zeitgenossen. Der Geist weht, wo er will (Joh 3,8) . Und auf einmal kann Einfaches und selbst Einfältiges zum großen Gebet werden. Eine Geschichte nach Leo Tolstoi erzählt davon:

Drei russische Mönche lebten auf einer fernen, einsamen Insel. Niemand hatte sie bisher dort besucht, bis sich eines Tages ihr Bischof entschloss, eine Visitation abzuhalten. Als er dann bei ihnen zu Gast war, stellte er fest, dass sie noch nicht einmal das Gebet des Herrn kannten. So lehrte er sie mit aller Geduld das Vaterunser, reiste dann zufrieden mit seinem Erfolg wieder ab.

Als das Schiff von der Insel abgelegt hatte, sah der Bischof erstaunt, wie die drei Mönche über das Wasser hinter dem Schiff herliefen und laut riefen: “Heiliger Vater, wir haben das Gebet vergessen, das du uns gelehrt hast!“ Der Bischof war ganz überwältigt von ihrem Glauben und fragte zurück: “Liebe Brüder, wie betet ihr denn?“ Sie antworteten: “Also wir sagen nur: Lieber Gott, wir sind zu dritt, und du bist zu dritt, erbarme dich unser!“ Der Bischof war von ihrer Heiligkeit und Einfalt so ergriffen, dass er sie mit seinem Friedenswunsch auf ihre Insel zurücksandte.

Es ist ein Stück heilige Einfalt, die aus dieser russischen Geschichte spricht: Lieber Gott, wir sind zu dritt, und du bist zu dritt, erbarme dich unser! Vielleicht bedarf jedes Gebet einer gewissen heiligen Naivität, einer kindlichen Hingabe. Wo man nichts hat und doch alles erwartet, dort scheint sich der Heilige Geist wohlzufühlen.

Aber es ist an dieser Stelle gewiß besser, wenn man nicht weiter in Geheimnissen bohrt. Ich freue mich vielmehr darauf, wo, wann und wie ein heiliger Wind die Zunge und die Gedanken löst. Mit gespannter Erwartung kann man sich dann dem Leben stellen - und vielleicht auch dem ein oder anderen Risiko. Von daher stelle ich mich weiterhin dem Predigtrisiko am Sonntag, indem ich den zweiten, kleinen Eingriff auf dem theologischen OP-Tisch vorantreibe.

IV.

In einem zweiten Schritt geht es um das Gebet aus dem Dank heraus. Hören wir wiederum in das Predigtwort hinein:

Nachdem ich gehört habe von dem Glauben bei euch und von eurer Liebe, höre ich nicht auf zu danken für euch und gedenke euer in meinem Gebet.

Die Dankbarkeit bildet mit das unverzichtbare Blut im betenden Herzen der Kirche. Gewiß: Not lehrt beten, heißt es im Volksmund. Aber Nöte, Krisen und Katastrophen sind nur eine Seite des Betens. Daß man die Hände vor lauter Freude und Dankbarkeit falten könnte, das rutscht einem immer wieder durch die Roste des Alltags. Was ist einmalig schön in meinem Leben? Wofür bin ich dankbar? Diese Meditation gehört mit zum Handwerkszeug des Betens. Unverkrampft und unverstellt spricht sich die Dankbarkeit in einem kleinen Kindergebet aus (Max Bollinger) :

Was mir gefällt auf dieser Welt,
lieber Gott, erhalte es mir.
Mit Vater Kuchen backen, mit Mutter Rätsel knacken,
Karussell fahren, Geheimnisse wahren,
Muscheln zählen, Farben wählen,
an Geschichten denken, das Fahrrad lenken,
beim Spiel verweilen, die Freude teilen.
Was mir gefällt auf dieser Welt,
lieber Gott, dafür danke ich dir.

Unverkrampft dankbar: so wirkt dieses Kindergebet auf mich. Aber es ist weitaus schwieriger, in der Berufs- und Alltagswelt Dankbarkeit zu zeigen. Denn wer dankbar ist, der ist scheinbar nicht ausgelastet; wer sich dankbar zeigt, der ist scheinbar zufrieden ohne weiteren Leistungswillen; wer dankbar ist, der denkt scheinbar nicht an die drohenden Geschäftskurven des kommenden Tages. Vielleicht zeigt sich heute die Dankbarkeit deshalb so schmalbrüstig, weil sie immer auch den Geruch kindlicher Naivität an sich trägt. Und kindliche Naivität ist erst einmal kein guter Ratgeber angesichts der bundesdeutschen Haushaltslage, angesichts der Arbeitsmarktsituation, angesichts der Sparprogramme in Schulen, Bibliotheken und Instituten. Wer hier Dankbarkeit zeigen würde, wäre schon aus dem Spiel, wenn es um die Verteilung des Haushalts geht. Es ist politisch und taktisch unklug, in Verhandlungen mit Dankbarkeit den Hut zu ziehen.

Aber mit in’s Gebet darf man die Dankbarkeit nehmen! Es sei laut und deutlich oder still und leise. Hier ist zu sagen möglich, was im Büro und auf der Straße nicht angesagt ist: daß man dankbar ist für eine Regierung, die rund um die Uhr plant und arbeitet; daß man dankbar ist für eine Stadtverwaltung, die auf vielen Baustellen gleichzeitig tanzt; daß man dankbar ist für ein Landeskirchenamt, das mit weniger Geld immer mehr Wünsche zu erfüllen hat. Ungewohnt ist es mit der Dankbarkeit. Im Gebet läßt sie sich entdecken und pflegen - laut und deutlich oder still und leise.

V.

Nehmen wir nun unseren dritten Eingriff auf dem theologischen OP-Tisch vor. Ich blicke zum Schluß auf das Gebet aus der Fürbitte heraus. Hören wir ein letztes Mal in das Predigtwort hinein:

Der Gott unseres Herrn Jesus Christus gebe euch erleuchtete Augen des Herzens, damit ihr erkennt, zu welcher Hoffnung ihr von ihm berufen seid, wie reich die Herrlichkeit seines Erbes ist und wie überschwenglich groß seine Kraft an uns, die wir glauben, weil die Macht seiner Stärke bei uns wirksam wurde, mit der er in Christus gewirkt hat. Durch sie hat er ihn von den Toten auferweckt.

Der Brief an die Epheser verkneift sich die Fürbitte nicht. Eigentlich ist das erstaunlich. Denn seine Adressaten scheinen eine ideale Gemeinde zu sein. Gleich zu Anfang wird für ihren Glauben und für ihre Liebe gedankt (Eph 1,15) . Was will man mehr! Hier scheint im Glauben die Gottesbeziehung und in der Liebe die Menschenbeziehung lebendig zu sein. Dennoch hält der Briefschreiber an der Fürbitte fest. Wird hier das Haar in der Suppe gesucht? Hat man denn nie seine geistliche Ruhe?

Wahrscheinlich liegt genau darin die Gefahr für eine Kirche ohne Fürbitte: daß sie im eigenen Saft schmort; daß sie mit sich gänzlich zufrieden - oder umgekehrt: gänzlich unzufrieden ist. In jedem Fall bleibt sie nur bei sich in der Gegenwart stehen. Sie dreht sich mit positiven oder mit negativen Gefühlen um sich selbst. Und aus diesem Selbstbezug befreit die Fürbitte. Das Predigtwort treibt die Idealgemeinde in Ephesus wieder zum Aufbruch. Es reicht nicht, mit den äußerlichen Augen auf die eigene Gemeinde zu blicken: wie man in Kirchen aus Stein den Gottesdienst feiert und wie man in festen Häusern seinen Nächsten aufsucht. Der Briefschreiber bittet um geistliche Augen - um erleuchtete Augen des Herzens, wie er an die Epheser schreibt.
Es ist also immer wieder ein Aufbruch nötig - ein geistlicher Aufbruch aus den schönen Mauern der Kirche, auch aus den bewährten Mauern der Frömmigkeit, selbst aus den klugen Mauern der Theologie. Denn erst mit den geistlichen Augen des Herzens läßt sich eine Welt ohne Mauern entdecken: ein Reich voller Hoffnung, ein Reich voller überschwenglicher Kraft, Macht und Stärke. Wir werden uns die Augen reiben, weil es eine Kraft, Macht und Stärke ist, die selbst in den Toten mächtig ist.

Vielleicht ist es auch an dieser Stelle besser, wenn man nicht weiter in mächtigen Geheimnissen bohrt. Vielleicht sollte man auf der Grenze zu einer Welt ohne Mauern ein Gebet auf den Lippen haben. Das Predigtwort hält Fürbitte und springt damit weit über alte Grenzen hinaus.
Gewiß, all das läßt sich nicht einfach machen und erzwingen. Es bleibt ein gewagtes Unternehmen wie eine Operation am offenen Herzen. Aber manchmal spürt man etwas vom Pulsschlag des Glaubens, von überschwenglicher Kraft, Macht und Stärke. Plötzlich und unverhofft kann das an dem Platz geschehen, an den man in diese Welt gestellt ist. Dann steht man gewissermaßen anbetend da. Davon erzählt eine letzte und abschließende Geschichte. Sie erzählt von einem anbetenden Moment - wie es einem Bauer widererfuhr mitten auf seinem alltäglichen Ackerfeld.

Ein Pfarrer wanderte einmal durch die Felder, auf denen das Getreide reifte. Da begegnete er einem Bauern, der in der glühenden Sonne ohne Hut ging. Auf die Empfehlung des Pfarrers, den Hut doch aufzusetzen, entgegnete der Bauer: “Wenn ich durch meine reifenden Felder gehe, setze ich den Hut nicht auf, weil man Dankbarkeit haben muß vor dem geheimnisvollen Walten und Wirken Gottes, das sich da still vollzieht“ .

Dr. Johannes Block
Universitaet Leipzig, Institut fuer Praktische Theologie
Otto-Schill-Str.2
04109 Leipzig
Tel: 0341-9735460 Fax: 0341-9735469
Internet: www.uni-leipzig.de/~prtheol
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