Göttinger Predigten im Internet
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Heiliger Abend, 24. Dezember 2005
Predigt am Heiligen Abend, verfasst von Elof Westergaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es war kurz vor Weihnachten. Es war Krieg. Der Nachbar drüben auf der anderen Seite, England, hatte wenige Jahre zuvor, im Jahr 1807, Kopenhagen bombardiert. Dänemark hatte daraufhin seine Neutralität aufgegeben. Die unabhängige Linie ließ sich nun nicht mehr aufrecht erhalten.

Dänemark war dann auf der Seite Napoleons in den Krieg eingetreten, ohne jedoch dadurch den Engländern den Zugang zu den dänischen Hoheitsgewässern versperren zu können. Wenige Jahre später ging Dänemark bankerott und wurde gezwungen, große Landgebiete abzutreten.

Draußen an der Küste, nördlich von uns, bei Fjaltring, war kurz vor Weihnachten ein Schiff gestrandet, und eine Masse Treibgut war an Land getrieben worden. Einige Leute aus der Umgebung hielten an dem Strandgut Wache.

Es war die letzte Nacht. In der Nacht zwischen dem 23. und 24. Dezember. Es war kein Vergnügen, Wache zu schieben. Denn das Wetter war unruhig. Es war fürchterlich kalt und stürmisch, ja, es kamen orkanartige Böen. Zwar hatten sich die Leute, die Wache hielten, aus Stöcken und alten Lappen ein Zelt gebaut. Dort konnten sie Schutz finden.

Aber bald regnete, bald hagelte es. Die Männer schauderten vor Kälte und mussten immer wieder die Arme um die Brust schlagen, um sich warm zu halten, oder sie mussten sich noch einen Schluck aus der Schnapsflasche erlauben, um etwas in den Leib zu bekommen, was sie wenigstens eine Zeitlang Wärme spüren ließ.

„Möge sich der Friede der Weihnacht über Land und Meer senken!“ Die Männer warteten auf den Frieden der Weihnacht, und sie hofften, er würde dann auch den Wind zur Ruhe bringen, dem Regen und Hagel Einhalt gebieten.

Wenn der Weihnachtsfriede komme, so hatten die Alten erzählt, dann würde man Gold auf den Weg legen können, ohne dass jemand es wegnehmen würde, niemand würde seine geringe Habe verschließen müssen. Der Bauer würde dann kein Schloss mehr für seine Kommode brauchen. Und die nächtlichen Wachen bei Fjaltring würden dort auch nicht in der Nacht draußen zu stehen und zu frieren und an Land gespültes Wrackgut zu bewachen haben.

Wenn es doch nur bald Weihnachten wäre und sich Friede über Land und Meer senkte!

Frühmorgens am 24. Dezember, als es noch dunkel war, hörten die Wachen einen Höllenlärm. Es klang wie kräftige Schüsse in der Dunkelheit. Aber zugleich hörte es sich auch wie das Rufen von Menschen an. War da noch ein Schiff in Seenot? Die Wachen liefen alle hinab zum Strand. Sie sahen über das Meer hinaus. Sie glaubten, sie könnten ein großes Schiff dort draußen wahrnehmen. Ja, die Masten fehlten zwar, aber die Konturen waren unverkannbar. Es war ein Schiff dort draußen.

Und Treibgut, das bereits an Land trieb, zeugte davon, dass es sich um Schiffbruch handelte. Holzstücke, Kisten, alles Mögliche wurde durch die Brandung an Land gespült und dort auf dem Stand hin- und hergespült. Und dort, an ein rundes Holz mit Tauwerkresten geklammert, glitt ihnen ein Mensch entgegen. Ein lebendiges Gesicht, ein Körper mit Händen und Füßen, der mit letzter Kraft an Tauen und Holz festhielt. Die Wachen bekamen ihn schnell zu fassen und retteten ihn an Land.

Und alles ging jetzt schrecklich schnell. Ein weiterer Seemann wurde gerettet. Die Männer spähten umher, gingen am Strand entlang, um zu sehen, ob sich unter dem Wirrwar von Kisten, Holz, Tauen, Tonnen und allem Möglichen, was sich im Schaum des Meeres tummelte und ihnen entgegenschwamm, noch mehr Überlebende fänden. Und da, auf einem primitiv zusammengebundenen Floß von Rundhölzern kamen weitere fünf Männer heran. Auch sie wurden gerettet. Das Meer spuckte auch sie aus aus seinem großen nächtlichen Mund.

Der eine der Männer konnte allerdings nur mit knapper Not gerettet werden mit einem ganz besonderen Einsatz einer der Wachen, weil der Mann mit dem einen Fuß zwischen den Hölzern festgeklemmt saß. Nur mit einem gewaltigen Ruck und festem Zupacken wurde der Mann gerettet.

Andere Leute aus der Gegend waren jetzt geweckt worden, und sie kamen hinzu mit Pferd und Wagen, Decken und Schnaps. Sie spähten alle zum Wrack hinaus. Aber es gab niemanden mehr, der gerettet wurde, von der etwa 550 Mann starken Besatzung. Und schon verbreitete sich das Gerücht von einem weiteren Schiff, das in derselben Nacht Schiffbruch erlitten hatte, bloß wenig weiter im Süden.

Die meisten unter uns hier in der Gegend kennen diese Geschichte von der Defence und vor allem dann auch die Geschichte von dem zweiten der beiden großen englischen Linienschiffe, die hier draußen vor unserer Küste in unserem Pastorat in der Nacht zwischen dem 23. und 24. Dezember 1811 untergingen. Das war die St. George.

Das Museum in Thorsminde erzählt ihre Geschichte und vermittelt mit allen Funden, die aus dem Meer geborgen werden konnten, ein eindrucksvolles Bild von dem Leben an Bord dieser Schiffe. Die Gegenstände von den Schiffen sprechen zu uns.

Es waren damals am 23. Dezember mehrere britische Schiffe, die hier mit dem Kurs nach Süden unterwegs waren. Es waren die Schiffe Cressy, St. George und Defence. Am 23. Dezember gegen Abend kam westlich von Bovbjerg ein Orkan auf. Die Cressy entschloss sich im letzten Moment zur Umkehr, die beiden anderen englischen Schiffe setzten also ihre Reise in Richtung Fjaltring fort, wo die Defence strandete, und weiter im Süden, südlich von Thorsminde, bei Fjand, ging die St. George unter.

Alles ging schief in jener Nacht.

Die beiden Schiffe strandeten und nur 18 Menschen kamen mit dem Leben davon, 6 von der Defence und 12 von der St. George.

Die wenigen Überlebenden konnten später von dem Kampf auf Leben und Tod gegen das Meer in dieser Nacht berichten. Von Kameraden, die sie verloren, und von Freunden und Arbeitskollegen, die in den Wellen verschwanden.

Und die Menschen hier in der Gegend waren von dem Untergang gezeichnet, bei dem man noch in der folgenden Nacht, am Heiligen Abend, heute Nacht, Menschen auf dem Deck der St. George sehen konnte, ohne dass man ihnen hätte helfen können. Man konnte nicht zu ihnen hinauskommen.

Die Erinnerungen waren auch geprägt von den zahlreichen Toten, die man während des folgenden Winters auf dem Strand an Land getrieben fand.

Das wilde Meer, die harte Winterkälte kannte man, wie wir nun einmal hier in der Gegend unvermeidlich die Kräfte der Natur kennen.

Aber es war das Erlebnis von Verlust und Tod, ja das starke Gefühl von Gebrechlichkeit und Machtlosigkeit von uns Menschen, das in jener Nacht so schrecklich zunahm und seitdem die Gemüter beherrscht hat.

Es waren das Mitgefühl und die Trauer, die sie trafen. Man behielt diesen Schiffsuntergang in der Erinnerung. Aber unter die Sorge mischte sich auch die Erinnerung an ein Weihnachten, das man mit fremden Menschen teilte. Die wenigen Geretteten konnten von der Hilfe am Stand erzählen, von dem Schnaps, der sie wärmte, von den Decken, von der Hilfsbereitschaft der örtlichen Bevölkerung. Wie einer der Geretteten in einer englischen Zeitung schrieb: „sie kamen ja als Gäste vom Meer her, mitten in der Weihnachtszeit“ und sie seien obendrein „zu einem gastlichen Empfang mit Anteil an der Weihnachtsmahlzeit der armen Leute in den Dünen“ gekommen.

Die Schiffbrüchigen waren ja eigentlich Feinde, – einige von ihnen waren sicher dabeigewesen, als die Engländer im Jahre 1807Kopenhagen bombardiert hatten. Sie trugen Gesicht und Namen des Feindes, aber in der Nacht an den Strand gespült erwiesen sie sich als das, was sie zu allererst waren: Mitmenschen, die an fremder Künste gestrandet sind.

Die Menschen in den Dünen wurden für sie die Nächsten. Sie gaben ihnen ganz natürlich Unterkunft und Speise. Und die Fremden wurden auch ein Teil ihrer Weihnachtsfeier. Sie kamen ins Haus zu Weihnachten, und sie waren ganz selbstverständlich mit dabei als Teilhaber ihrer Weihnacht an diesem Ort.

Denn die Botschaft, die die Engel den Hirten auf dem Felde bei Betlehem in der Weihnacht brachten, war und ist ja nicht nur für Menschen bestimmt, die gegenseitige Freunde und Familienangehörige sind. Es ist, wie der Engel sagt, eine frohe Botschaft für das ganze Volk. Eine Gemeinschaft quer über Nationalitäten und ethnische Herkunft, über soziale Unterschiede und Stellung in der Gesellschaft hinweg.

Weihnachten enthält eine Botschaft des Friedens, des Friedens Gottes – eines Friedens, der nicht einfach gebrochen und zunichte gemacht werden kann von nationalen, internationalen und politischen Konflikten, – ein Frieden, der stattdessen alle unsere persönlichen Gegensätze enthüllt und sie in eine andere und größere Perspektive einordnet, so dass sie als das gesehen werden, was sie in Wirklichkeit sind: nämlich menschlicher Kleinkram.

Weihnachten enthält dann auch eine andere und andersgeartete Gemeinschaft als das Brausen der Wellen und das tiefe Meer. Es sind ja nicht nur Tod und Nichtigkeit, das Fallen der Blätter und dunkle ohnmächtige und sorgenvolle Nächte, die wir als Menschen gemeinsam haben. Wie ja auch unsere eigene Menschlichkeit und unsere eigene Güte nicht das ist, worin unsere Hoffnung besteht.

Nein. Die Hoffnung ist die Gemeinschaft, die uns geschenkt ist, im Schöpfer des Lebens, im Versöhner des Lebens und in der Sonne aller Hoffnung: im Kind in der Krippe, geboren in einem Stall, geboren in elenden Verhältnissen in Betlehem – ja, geboren, als wäre das in einer Lehmhütte in Fjaltring geschehen.

Die geretteten Seeleute feierten Weihnachten gemeinsam mit den Leuten hier in der Gegend in jenem Jahr 1811. Sie hatten ein paar Tage Ruhe und weihnachtlichen Frieden, bis sie weiter nach Viborg gebracht wurden, um dann als Kriegsgefangene gegen andere dänische Seeleute in britischer Gefangenschaft ausgetauscht zu werden.

Die Seeleute, die noch am Leben waren, als sie an Land getrieben worden waren, kamen auf die Höfe und in die kleinen Lehmhütten. Sie kamen hinein in den Geruch von Roggenbrot, Graubrot und Weißbrot – je nach Vermögen des Hauses. Bier und Gerstenbrot mögen einige von ihnen wohl auch bekommen haben.

Auf einmal waren sie alle von weihnachtlicher Besorgnis erfüllt, von der Besorgnis, die wir selbst nicht überwinden können, sondern die zu überwinden wir Gott bitten müssen, weil die Welt immer irgendwo aus den Fugen geraten ist und weil unser Menschenleben nicht immer nur leicht ist. Ja, weil wir selbst nicht alles hier im Dasein zu bewältigen vermögen. Wir sind – jeder für sich – dem Leben ausgeliefert, sowohl an das Dunkle als auch an das Lichte. Die Leute damals waren von dieser Trauer gezeichnet, die zum menschlichen Leben dazugehört, die aber durch die beiden Schiffskatastrophen verstärkt worden war. Zugleich aber senkte sich auch der weihnachtliche Frieden für einen Augenblick auch hier über die Menschen. Der Weihnachtsfrieden.

Eine Zeitlang ohne Hagel und Regen, Schnee und Matsch. Wärme statt Kälte. Schutz vor dem Sturm. Ein Augenblick Frieden. Freundliche Worte. Ein Teller mit Essen. Es herrschte ein Klang des Engelsgesangs an die Hirten in der Weihnacht, des Gesangs von Frieden und Freude. Von dem Frieden, an dem uns das Jesuskind durch die Gnade Gottes noch immer teilhaben lässt. In ihm werden wir aus der Not gerettet. Die Liebe erweist sich in ihm stärker als der Tod. In ihm erhalten wir Anteil an dem Frieden, den wir selbst nicht schaffen können, auf den wir nur hoffen dürfen.

In ihm zeigt Gott seine Liebe und seinen Willen zum Frieden in der Welt. Nicht paradiesisches Idyll und Harmonie, sondern ein Frieden, der Lebensmut verleiht und Kraft, das Leben zu wagen. Denn Gott gibt sich selbst in dem kleinen gebrechlichen Kind zu erkennen, geboren in der Weihnacht in Betlehem. In ihm wird der Frieden geschenkt, den keine Trauer zu rühren wagt.

In Jesu Namen. Amen.

Pastor Elof Westergaard
Mariehøj 17
DK-8600 Silkeborg
Tlf.: +0+ 45 – 86 80 08 15
E-mail: eve@km.dk

Übersetzung aus dem Dänischen: Dietrich Harbsmeier

 


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