Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Erntedankfest, 2. Oktober 2005
Alle guten Gaben ... Liedpredigten zu Erntedank
EG 503 "Geh aus mein Herz und suche Freud", Erika Godel
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister.

Heute feiern wir mit der evangelischen Christenheit in Deutschland Erntedankfest. Die drei Wörter Ernte, Dank und Fest sind im Deutschen zu einem Begriff zusammengezogen worden, der in der Reihenfolge der Nennung der einzelnen Wörter eine Rangfolge erkennen lässt. Ernte ist der Anlass, Dank die Ursache und Fest die Folge des Umstands, dass Menschen für ihre Ernährung sorgen müssen und können, so Gott will. Mit der Ernte wird seit Urzeiten über die Zukunft von einzelnen Menschen, von Familien, Sippen und Völkern entschieden. Immer noch und immer wieder investieren Menschen viel Arbeit und Mühe, um eine gute Ernte zu haben. Aber trotz allen Fortschritts der Landwirtschaft, der Biologie, der Chemie und der Lebensmittelindustrie gibt es bis heute keine Garantie für gute Ernten. Global gesehen reicht das weltweit Geerntete immer noch nicht aus, um alle Menschen satt zu machen. Umso mehr haben wir Grund zur Dankbarkeit dafür, dass sich bei uns die Tische decken lassen, auch wenn die Blüte im Frühjahr verhagelt, anhaltende Hitze die Felder austrocknet oder sintflutartige Regenfälle Überschwemmungen zur Folge haben. Also feiern wir ein Fest, ein Erntedankfest. Aber wie? „Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freut in der Ernte…“(Jes. 9,2). So prophezeite Jesaja im Blick auf den erwarteten Friedefürsten, als den wir Christen Jesus erkannt haben. In der biblischen Lesung aus dem Ersten (Alten) Testament am Heiligen Abend erinnern wir uns daran. Vermutlich werden aber die wenigstens von uns aus eigener Erfahrung wissen, wie es ist, „sich in der Ente“ zu freuen. Wie können wir dann unsere Dankbarkeit für das, was meist andere für uns geerntet haben, ausdrücken? Paul Gerhard, ein Liederdichter aus dem 17. Jahrhundert macht einen Vorschlag, den ich auch heute noch brauchbar finde: „Lasset uns singen…!“ Denn: „.. dankbare Lieder sind Weihrauch und Widder, an welchen ER sich am meisten ergötzt“ (EG 449).

Singen ist für Paul Gerhard und für das gesamte Luthertum eine herausragende Form des Gotteslobs. Singen ist Ausdruck des integralen Bewusstseins, es ist ein leiblich-praktisches Tun und gleichzeitig macht es geistlich Sinn. Gesungen wird individuell und gemeinschaftlich zugleich. Singen ruft die Heilsgeschichte in Erinnerung. Es schafft erfüllte Gegenwart und ist eine Vorübung auf vollendetes Dasein im Paradies. Weil es viele Belege für himmlisches Musizieren gibt, kann Singen und Musizieren als ein Vorspiel der Ewigkeit verstanden werden. Wer lobsingt, spielt sich auf Gottes Zukunft ein.

Eines der schönsten Lieder, in dem zur Freude und Dankbarkeit der Geschöpfe Gottes inmitten der Schöpfung angeleitet wird, hat Paul Gerhardt selbst gedichtet. Hören und singen sie dieses Sommerlied heute als Anleitung zur Freude beim Erntedankfest.

„1: Geh aus, mein Herz, und suche Freud
in dieser lieben Sommerzeit
an deines Gottes Gaben;
schau an der schönen Gärten Zier
und siehe, wie sie mir und dir
sich ausgeschmücket haben.“

Ehrlich gesagt hat mich als Kind die fröhliche Aufforderung, dass mein Herz aus mir herausgehen soll, immer ein bisschen erschreckt. Ich stellte mir vor, dass ich ohne Herz ja tot wäre und erst dann in den sinnenfreudigen Genuss all dessen kommen sollte, von dem das Lied spricht. Ich war dann richtig erleichtert als ich später lernte, dass mit „mein Herz“ Paul Gerhardts Frau angeredet war. Für sie hat er das Lied gedichtet, als sie sehr traurig über den Tod eines ihrer Kinder war. Das Lied sollte Frau Gerhardt ermuntern. Sie sollte damit aufgefordert werden, sich nicht in ihrem Leiden einzurichten und darüber zu verbittern, sondern stattdessen aus sich herauszugehen und Freude zu suchen. Das war ein guter Rat, der auch heute noch vielen hilfreich sein kann. Denn gerade in unseren alltäglichen Beschwernissen und im Leiden übersehen wir das leicht: Die Aktivität und das Wollen sind wichtige Eigenbeiträge zum Wohlbefinden, auch wenn es letztendlich Geschenk und Gnade ist, dass wir über Menschen und Dinge Freude empfinden. Gegen Niedergeschlagenheit hilft nicht nur sich behandeln zu lassen, sondern auch selbst zu Handeln.

„Schau an“ und „Sieh“ sind weitere Aufforderungen zur Eigeninitiative. Dass wir Schauen und Sehen können ist eine Schöpfungsgabe. Sie verbindet uns mit unseren Mitgeschöpfen und dem Schöpfer selbst, von dem in 1. Mose 1,34 erzählt wird: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut“. Wir bezweifeln das ja heutzutage oft und gerne und gefallen uns gut in der Rolle von Weltverbesserern, obwohl die Fortschritte in Bezug auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung immer erst mäßig sind. Vielleicht hilft es weiter, das Anschauen und Hinsehen zu intensivieren: Ist ein Mensch, der nach allen Regeln bio- und anthropotechnischer Kunst ‚designt’ ist, wirklich erstrebenswert? Wie weit ist grüne Gentechnik bekömmlich? Sind Wachstum und Gedeihen in unseren Händen wirklich gut aufgehoben?

In den ersten sieben Versen seines Liedes reiht Paul Gerhardt viele Naturbeschreibungen aneinander, um sie als Gottes Gaben auszuweisen. Fast alle haben einen biblischen oder christologischen Bezug: Das Bild der Glucke erinnert an die fürsorgliche Beziehung Christi zu uns Gläubigen (Mt 23,37). Das Bild vom süßen Weinstock und dessen starkem Saft lässt an das Ich-bin-Wort Jesu vom Weinstock und den Reben denken (Joh 15,5) und die Nennung des Weizens spielt auf das Abendmahl und das Brot des Lebens an (Joh 6,35). Alles, was die Welt schön macht, ist auch für mich gemacht, aber nicht nur: Die Welt ist ausgeschmückt nicht nur für mich, für einen einzelnen Menschen, nicht nur für ein Volk oder für eine politische Großmacht, sondern für alle: „Und siehe, wie sie (die Gärten) mir und dir sich ausgeschmücket haben!“ Es geht hier nicht um Erbauung, um naturverliebte individuelle Innerlichkeit, sondern um Wertschätzung der Schöpfung in Gegenseitigkeit (mutuality). Die spöttische Umdichtung des Liedes in der 80er Jahren weist ja nicht zu Unrecht darauf hin, dass wir zur Gefährdung der Schöpfung beitragen und den Raum, in den wir ausgehen sollen, um unsere Freude zu suchen, schon lange nicht mehr so pfleglich behandeln, wie es nötig ist, um sie nicht nur jetzt mir und dir, sondern auch noch morgen unseren Kindern und Enkelkindern zu erhalten:

„Geh aus mein Herz, und suche Freud,
denn du hast nicht mehr lange Zeit,
dich an Natur zu laben.
Schau an der schönen Gärten Zier,
solange Blume, Baum und Tier
noch Raum zum Leben haben.“

Die Dynamik des Liedes steigert sich. In den Versen 1-7 wird die Schönheit der Schöpfung gepriesen, was in Vers 8 zum Jubel führt:

„8: Ich selber kann und mag nicht ruhn,
des großen Gottes großes Tun
erweckt mir alle Sinnen;
ich singe mit, wenn alles singt,
und lasse, was dem Höchsten klingt,
aus meinem Herzen rinnen.“

Singend kommen wir nach dem siebenstrophigen Spaziergang durch die schöne Welt, durch den uns Herz und Sinne durch Gottes großes Tun erweckt wurden, bei uns selbst an. „Ich selber“ bin gefragt. Ich kann und mag nicht ruhen: „Ich will dem Herrn singen mein Leben lang und meinen Gott loben, solange ich bin“ (Ps. 104,33). Aber geht es denn so einfach, sich von irdischen Naturerfahrungen in den Himmel hineinzukatapultieren? „Wer Gott in der Natur sucht, soll sich gefälligst auch vom Oberförster beerdigen lassen“, spotten wir, um nur ja nicht auf den Weg der natürlichen Theologie zu geraten, den wir mit Karl Barth doch längst als einen Irrweg erkannt haben. Im Gegensatz zu vielen Theologen heute hatte Paul Gerhardt noch keine Scheu, einen großen Bogen zu spannen von der Schönheit der Schöpfung, die jedermann jederzeit anschauen kann, zur Schönheit des Himmels und des Paradieses. Im Vergleich des irdischen mit dem himmlischen Garten zeigt er tröstlich auf, dass der irdische Garten nur, beziehungsweise schon einen Vorgeschmack auf den himmlischen darstellt. Die Schöpfung ist für ihn ein Gleichnis für die geglaubte, kommende Erlösung. Nahezu todessehnsüchtig schwärmt er: „O wär ich da! O stünd ich schon..!“ (V 11). Die Sehnsucht nach dem himmlischen Garten ist die Sehnsucht nach Erlösung, weil das Leben auch in schönster Umgebung aufs Ganze gesehen doch in einem Jammertal stattfindet.

Wer an dieser Stelle aus der Predigt des Liedes aussteigt, wird das Evangelium in ihm nicht entdecken. Paul Gerhardt gelingt nämlich in Vers 12 die Kurve zurück ins diesseitige Leben. Er weiß ja nur zu gut, wie schwer das irdische Joch auf Menschen lastet. Er lebt nach dem 30 jährigen Krieg in einer Zeit, in der Städte und Dörfer verwüstet sind, und bittere Armut; Krankheit und Tod die Menschen niederdrücken. Trotzdem strengt er sich an und bietet alles ihm Mögliche auf, um auch auf dieser „armen Erde“ Grund zum Lobpreis zu finden. Weil er es erlebt, wie schwer es ist, im Leben zu bestehen und nicht an der Güte Gottes zu zweifeln, bittet er in den Versen 12-15 um die Hilfe Gottes:

„13: Hilf mir und segne meinen Geist
mit Segen, der vom Himmel fleußt,
dass ich dir stetig blühe;
gib, dass der Sommer deiner Gnad
in meiner Seele früh und spat
viel Glaubensfrüchte ziehe.“

Im Wachsen und Werden der Natur erkennen wir gleichnishaft den Segen Gottes in der Welt, der jeden und jede von uns dazu befähigt, Glaubensfrüchte hervorzubringen. Eine dieser Früchte könnte sein, dass wir die Angst verlieren, dass uns die Natur beherrschen könnte und wir sie deshalb beherrschen müssen. Uns wird geistliches Wachstum zugetraut. Wenn wir aus uns selbst herausgehen, schaffen wir Raum für Gottes Geist. So können wir Wurzeln treiben, Grünen und Fruchtbringen trotz des Leibes Joch. Am Ende werden wir alle wieder ein Stück der Schöpfung. Die Herrschaft hatte, hat und wird haben der, den wir als Schöpfer des Himmels und der Erde bekennen. Eigentlich haben wir nichts weiter zu tun als es uns in der Schöpfung wohl sein zu lassen (zu ernten), zu danken, dass es uns gut geht und – wie hier und jetzt – Gottesdienst zu feiern.

Amen.

Literatur:
Christian Brunners, Paul Gerhardt, Berlin 1993
Christian Möller (Hg.), Ich singe Dir mit Herz und Mund, Stuttgart 1997
Gerhard Hahn, Jürgen Henkys (Hg.), Liederkunde zum Evangelischen gesangbuch, Heft 9, Göttingen 2004


Dr. Erika Godel
Olympische Str. 10
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Tel.: 030 304 34 52
Fax: 030 304 53 54
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