Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

21. Sonntag nach Trinitatis, 16. Oktober 2005
Predigt über Matthäus 10, 34-39, verfasst von Paul Kluge
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Geschwister,

einmal monatlich traf sich der Hauskreis einer Gemeinde; sie trafen sich reihum in den Wohnungen. Manchmal konnten sie in bequemen Sesseln im großen Kreis sitzen, manchmal auf harten Stühlen in zwei engen Reihen. Saßen sie in weichen Sesseln, gab es meistens Wein und ein paar herzhafte Häppchen, auf den Stühlen tranken sie meistens Tee oder Selters und knabberten ein paar Kekse von Aldi. Doch das waren unwichtige Äußerlichkeiten – wie auch die Alters- und Bildungsunterschiede keine Rolle spielten: Die Meinung der jungen Verkäuferin wurde genau so erst genommen wie die des alten Professors.

Wie und wann der Kreis entstanden war, wusste keiner mehr so recht. Des öfteren kam es vor, dass jemand das gerade konfirmierte Enkelkind mitbrachte, und weil auch diese jungen Leute hier sagen konnten, was sie dachten, fühlten sie sich erwachsen und wohl. So kam es, dass manche schon Jahrzehnte zu dem Kreis gehörten; andere, Studierende der Universität etwa, blieben, so lange sie am Ort waren; noch andere, die es an andere Orte verschlagen hatte, tauchten auf, wenn sie mal in ihrer Heimatstadt waren.

Der Gemeindepastor sah den Kreis mit gemischten Gefühlen: Einerseits war er stolz auf diese lebendige Gruppe, andererseits wurmte es ihn, dass sie ihn so gut wie nie einluden. Außerdem waren die Mitglieder dieses Hauskreises allesamt keine guten Kirchgänger. „Einmal im Monat ein biblisches Thema reicht uns,“ hatte ihm mal jemand auf seine Frage geantwortet, warum von ihnen kaum jemand zum Gottesdienst käme, und ergänzt, dass sie lieber ihre unterschiedlichen Meinungen und Sichtweisen austauschten, als die ohnehin bekannte Position des Pastors immer wieder zu hören. Seitdem plagte den Pastor die Sorge, ob in dem Kreis denn die Bibel wohl richtig ausgelegt würde – schließlich war kein Theologe darunter.

Nun saßen sie wieder einmal zusammen. Die Gastgeberin, eine Lehrerin von Anfang vierzig, hatte ihr Sofa, einige kleine Sessel, Küchen- und Gartenstühle bunt durcheinander zu einem Kreis gestellt, in der Mitte standen ein Blumenstrauß und eine flackernde Kerze. Als Gastgeberin stand ihr das Recht zu, den zu besprechenden Text auszusuchen. „Ich möchte heute mit Ihnen über den Predigttext für den kommenden Sonntag diskutieren,“ begann sie, „ein Text, an dem ich mich schon immer gestoßen habe: Mt 10,34 – 39 ... Ich wünschte, dieser Abschnitt stünde nicht in der Bibel,“ schloss sie.

„Er steht da aber,“ konterte ein junger Mann, der gerade seinen Wehrdienst ableistete und sich gern betont schroff gab; seine einst eher langen Haare hatte er bedenklich kurz schneiden lassen. „Was stört Sie denn an dem Text?“ fragte eine Krankenschwester vermittelnd und hörte von der Lehrerin: „Was da steht, passt so gar nicht in meine Vorstellung von Jesus, dem Friedefürst. Jesus ist für mich ein grundgütiger Mensch, der jede Gewalt ablehnt. Der kann doch nicht, wie es hier heißt, das Schwert bringen!“ – „Selektive Wahrnehmung,“ warf ein Psychologiestudent in die Runde, „man sieht nur das, was man kennt oder was man sehen will. Kann es sein, dass Ihr Jesusbild etwas einseitig ist?“ Die Lehrerin bat ihn, das doch näher zu erklären, die anderen unterstützten sie, und so fand der eher schüchterne Student sich unversehens im Mittelpunkt. „Also,“ begann er, „aus dem, was wir über Jesus gehört und gelesen haben, besonders in unserer Kindheit, haben wir uns unser Bild von ihm gemacht. Das ist dann unser Jesus, wie wir ihn gern hätten und dann auch gern haben können. Das haben schon die Evangelisten so gemacht; jeder von denen zeichnet sein eigenes Jesusbild und zeigt es anderen. Die machen daraus dann wieder ihr persönliches Bild – und so weiter. Was nicht ins Bild passt, wird weggelassen oder übersehen. Manchmal auch retuschiert, also passend gemacht. Und das Ganze passiert oft ungeplant und unbewusst, manchmal aber auch in voller Absicht. Mit dem Bild, das wir von uns selbst haben, machen wir das übrigens genau so; bestimmt hat jeder von uns etwas in seinem Leben, das er niemandem erzählt und das er eigentlich nicht wahr haben will.“ Ein Hustenanfall des alten Professors unterbrach den kleinen Vortrag, dann sagte die Lehrerin: „Berthold Brecht und sein Herr Keuner fallen mir ein: Da wird Herr Keuner einmal gefragt, was er macht, wenn er einen Menschen liebt. Und Herr Keuner antwortet ungefähr so: Ich mache mir ein Bild von ihm und passe den Menschen diesem Bild an.“ – „Ist Ihnen das mit ihrem Bild von Jesus vielleicht auch passiert?“ fragte die junge Verkäuferin etwas zaghaft, denn die Lehrerin war ihre Klassenlehrerin gewesen, und erzählte, sie habe die vier Evangelien gelesen, jeden Abend ein Kapitel, und dabei Geschichten über Jesus gelesen, von denen sie vorher noch nie gehört hatte. Ihr habe eingeleuchtet, wandte sie sich an den Psychologiestudenten, was er vorhin über Bilder gesagt habe. Der Student errötete und sah im Laufe des Abends häufig und so unauffällig zu der Verkäuferin, dass alle es bemerkten.

„Also, Jesus hat das Schwert gebracht, und nicht den Frieden,“ bemerkte der Soldat; „Frieden zu sichern, ist unser Job.“ – „Nun mal langsam,“ wand die nicht mehr ganz junge Krankenschwester ein, „Jesus als Schwertbringer ist wohl auch ein sehr einseitiges Bild. Wenn ich vorhin richtig zugehört habe, geht es in dem Text um die Entscheidung ‚Jesus oder Verwandtschaft.’ Das war damals, als der Text aufgeschrieben wurde, wohl viel schwerer als heute. Ich denke, wer sich damals zu Christus bekehrte, stellte sich außerhalb seiner Familie, musste mit ihr brechen, um von deren Religion wegzukommen. Ich glaube nicht, dass das heute auch noch so ist.“ – „Ich krieg von den Kameraden manchmal ganz schön was zu hören, wenn ich zum Gottesdienst gehe,“ reagierte der Soldat, „aber meinen Eltern ist das egal, dass ich in der Gemeinde aktiv bin.“ Die Krankenschwester räusperte sich, erzählte dann, ihre Kinder, getauft und konfirmiert, seien inzwischen alle drei aus der Kirche ausgetreten. Deshalb habe es viel Streit gegeben, und lange Zeit sei das Verhältnis zwischen ihr und den Kindern dadurch ernsthaft gestört gewesen. „Ich hoffe und bete immer noch, dass sie den Weg wieder zurück finden,“ schloss sie. „Und ich bete für meine Eltern,“ gestand die Verkäuferin, „wir sind ja kurz vor der Wende aus Magdeburg hierher gezogen. Meine Eltern sind, wie sie sagen, ‚bekennende Atheisten.’ Sie zweifeln ernsthaft an meinem Verstand, weil ich mich vor ein paar Jahren habe taufen lassen. Wenn ich es mir leisten könnte, hätte ich längst eine eigene kleine Wohnung.“ – „In meiner WG wird bald was frei,“ warf der Student schnell ein, und nun war es die Verkäuferin, die errötete.

Der alte Professor hatte die ganze Zeit sehr aufmerksam zugehört, aber noch nichts gesagt. Nun spürte er, dass alle auf einen Beitrag von ihm warteten. „Dieser Kreis,“ begann er, „ist für mich so etwas wie eine Familie – gemäß Markus drei und Parallelen: ‚Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.’ Und Ihnen geht es, scheint mir, nicht unähnlich. Wenn wir auf der einen Seite etwas verlieren, gewinnen wir auf der anderen hinzu. Aber ich will hier keine Altersweisheiten absondern. Mir liegt etwas schwer auf dem Herzen, das ich noch keinem Menschen erzählt habe. Wie Sie alle wissen, habe ich mich als noch recht junger Mensch in der Bekennenden Kirche engagiert. Was sie alle nicht wissen ist, dass mein Vater Offizier der Waffen-SS war. Natürlich kam es zum Bruch zwischen uns, und ich ging zum Studium in die Schweiz; wegen meiner Augen galt ich als „kriegsuntauglich.“ Nach dem Krieg war mein Vater untergetaucht, ich habe nach ihm geforscht und seine damalige Adresse herausbekommen, die ich dann der Entnazifizierungsbehörde gegeben habe. Mein Vater wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, kam als gebrochener Mann, dessen Welt eingestürzt war, wieder frei und lebte bis an sein Ende von Sozialhilfe. Mich quält seitdem die Frage, ob ich sein Leben zerstört habe, und wenn die Qual zuweilen groß wurde, dann hat mich gerade dieser Text getröstet. Die Bindung an Christus ist wertvoller als sogenannte Familienbande oder Blutsbande, wie das damals hieß. Die Trennung solcher Bande ist zwar schmerzhaft, aber zu verschmerzen. Der einzige Trost im Leben und im Sterben ist und bleibt Christus.“

Der alte Professor machte eine Pause, alle anderen schwiegen nachdenklich. Dann sagte der Professor mit leisem Lächeln: „Nun müssen Sie alle Ihr Bild von mir korrigieren. Sie gestatten, dass ich mich für heute verabschiede.“ Er erhob sich, die Gastgeberin begleitete ihn bis zur Tür. Als sie zurückkam, war eine lebhafte Debatte über das im Gange, was der Professor erzählt hatte. Amen

Gebet:

Guter Gott, du erinnerst uns gelegentlich daran, dass unsere Vorstellungen, unsere Bilder unvollständig und unvollkommen sind – unsere Bilder von uns selbst und unseren Mitmenschen, unser Bild von Christus. Denn wir vergessen gern, dass das Bildermachen nicht gut ist. Wir danken dir für diese Mahnung und bitten dich um offene Augen für das, was ist.

Wir sind in Bindungen hineingeboren und gehen in unserem Leben mancherlei Bindungen ein. Denn es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; du hast uns so geschaffen, dass wir einander brauchen. Manchmal aber geben wir oder andere solchen Bindungen eine Bedeutung, die ihnen nicht zusteht, und dann stehen sie uns im Wege auf dem Weg zu dir. Davor bewahre uns.

Manchmal zerbrechen solche Bindungen, wenn und weil Menschen sich für dich entschieden haben. Lass sie dann erfahren, dass sie den besseren Teil erwählt haben; lass sie andere Menschen und neue Gemeinschaft finden, damit sie nicht allein sind, sondern bergende Geschwisterlichkeit erleben.

In diesen Tagen wird in Berlin über politische Bindungen verhandelt. Gib den Verhandlungen dein Gedeihen, dass sie zum Wohl der Menschen und der Menschheit geführt werden. Und was uns in unserem Ort, in unserer Gemeinde, in unserer Familie und in uns selbst an Traurigem und Fröhlichem, an Sorge und an Zuversicht bewegt, bringen wir vor dich und beten gemeinsam: Unser Vater im Himmel ...

Gesänge: EG 444, 1 – 4; EG 276, 1 – 5; EG 377, 1 – 4; EG RWL 656, 1 – 3

Paul Kluge, Pastor emeritus
Großer Werder 17
39114 Magdeburg
Mail: Paul.Kluge@t-online.de

 

 


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