Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

5. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juni 2005
Predigt über Johannes 1, 35-42, verfasst von Günter Goldbach
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„Was sucht ihr?“ Mit dieser Frage beginnt der Predigttext. Es ist das erste Wort überhaupt, das Jesus im (Johannes - ) Evangelium spricht! „Was sucht ihr?“ - Sollte ER das nicht wissen?! Aber natürlich: Das ist keine banale Frage. Keine schlichte Frage, aus der Situation geboren. Im ductus der Erzählung ist sie übrigens widersinnig. Nach der Logik der Geschichte suchen die beiden Jünger ja gar nicht mehr. Auf den eindeutigen, wiederholten Hinweis des Täufers hin hatte ihre Suche doch ein Ende gefunden. Sie haben ja gefunden, was sie suchten: Den, auf den sie und ihr ganzes Volk so lange gewartet haben. Da ist er. Doch er fragt sie. „Was sucht ihr?“ Kein Wunder: Sie sind sprachlos. Wie unsereins sprachlos geblieben wäre. Aber: „Es ist offenbar die erste Frage, die an den gerichtet werden muss, der zu Jesus kommt“ (Rudolf Bultmann).

Also: Vielleicht haben sie es ja auch verstanden: die tiefere Bedeutung, den Hintersinn der Frage. Immerhin: Sie werden da auf ihre „existentielle Befindlichkeit“ hin befragt - erklären es die Ausleger. Jedenfalls: Indem Jesus die Jünger so fragt, klärt er sie auf über das, was sie eigentlich tun. Was sie tun sollen. Besser: was sie sein sollen. Sie sollen Suchende sein. Ja wirklich: Er kann es kaum gewollt haben: dass die Jünger ihm auf den Hinweis ihres Meisters hin nachlaufen. Vielmehr meint Johannes wohl: Sie sollen ihn aus eigenem Antrieb, mit eigenen Fragen suchen. „Darum ruft Jesus sie nicht in die Nachfolge, sondern in die Nachfrage“ (Johann Hinrich Claussen).

Einer von ihnen tut es bald sehr deutlich nach dem Bericht des Johannes: „Gutes aus Nazareth?“ lautet seine skeptische Frage. Jesus, Sohn des Josef, geboren von Maria - der der Sohn Gottes?! Jesus aus Nazareth, den man so leicht foltern und beseitigen konnte - der das Heil der Welt?! Jesus, der atmen und schlafen, essen und trinken, weinen und Schmerzen ertragen musste - der das Licht der Welt, das Brot des Lebens, die Auferstehung und das Leben?!

So oder ähnlich muss man den Nathanael wohl verstehen. Er kann es einfach nicht glauben. Er hat andere Vorstellungen. Er weiß es besser aus den Verheißungen und Weissagungen heiliger Schriften. Er hat etwas anderes gelesen. Oder hineingelesen in das, was er gelesen hat. Wunschträume hat er entwickelt. Illusionen über den verheißenen Messias. Eben deshalb kann er nicht sehen, was er sieht. Nicht spüren, was ihm greifbar nahe ist. Nicht glauben was er hört.

Geht es uns anders? Anders gefragt: Beschreibt Johannes nicht, „was sich in der Kirche immer neu wiederholt“?! (Eduard Schweizer). Darum: Haben wir irgendeinen Grund, uns zu überheben über den Nathanael? Den Jesus doch - wie die anderen Jünger - mit seiner Frage offenbar aufforderte, die Wahrheit zu suchen! Dem Jesus doch offenbar - wie den anderen Jüngern - Fragen und Zweifel ausdrücklich gestatten wollte! Darum also auch: Sind die Zweifel der Jünger nicht unsere Zweifel?! Ist ihre Skepsis nicht unsere Skepsis?! Oder können wir Zweifel und Skepsis etwa nicht prolongieren auf das, was wir sehen und doch nicht sehen?! Was wir spüren und doch nicht erfassen?! Was wir hören und doch kaum glauben können:

Das Wasser der Taufe, das wir sehen - unter diesem natürlichen datum sollte uns das ewige Heil unwiderruflich zugeeignet worden sein?! Brot und Wein, die wir schmecken - mit diesen äußerlichen Nahrungsmitteln sollte der lebendige Christus in uns hineinkommen?! Die Worte der Pastorinnen und Pastoren, die wir hören: der eine ein Schwachkopf, die zweite ein Wirrkopf, der dritte ein Querkopf - in ihren schwachbegabten, verwirrten und verqueren Worten sollte Gottes wahrhaftiges Wort zu uns kommen?!

Die Jünger werden nach dem Bericht des Evangeliums überzeugt - gegen allen Augenschein. Gegen ihre Zweifel und Skepsis. Sie kommen zu Jesus. Sie sehen. Sie bleiben. Nach dem, was der eine vom anderen sich hat sagen lassen. Denn: „Die Wahrheit kommt über die Person“ (Hans -Otto Wölber). So lassen sie sich „finden“: Andreas. Philippus. Nathanael. Nikodemus, später, bei Nacht. Und natürlich: Simon, der „Fels“, der Petrus. Eher ein „Wackelpeter“ - wie Spötter meinen (Rainer Stuhlmann). Nicht ganz zu unrecht - nach dem, was das Evangelium von ihm berichtet. Nun: Die „Kette des Findens“ im Weitersagen des Gefundenen gipfelt jedenfalls in dem Bekenntnis: „Wir haben den Messias gefunden“.

„Was sucht ihr?“ - Die Frage bleibt im Evangelium des Johannes nur scheinbar unbeantwortet. Die Jünger geben die Antwort mit der Tat ihres Lebens in der Nachfolge.

Wenn wir uns doch auch so fragen lassen könnten! Wenn wir doch auch solche Antworten finden könnten!

Wir müssen es wohl zugeben: Meistens lassen wir uns gar nicht fragen. Oder wir stellen die falsche Frage - selbst wenn wir die gleichen Worte gebrauchen. Kein Wunder, wenn wir dann die falsche oder gar keine Antwort bekommen.

Rom. Eher zufällig - weil seit langem geplant - in jenen Tagen, als sich dort dramatische Ereignisse abspielten, die historisch genannt zu werden verdienen. Untergebracht im Ordenshaus der Suore di carità mit Blick auf San Pietro und den Apostolischen Palast. In der Nacht zum 1. April fanden wir auf der Dachterrasse, umgeben von seinen Kameras und Mikrofonen, unter einem kleinen Zelt kauernd einen Reporter von CNN: „What you are seeking here?“ - „I’m waiting for that, the world is waiting for“. (Was suchen Sie hier? - Ich warte auf das, worauf die ganze Welt wartet). - Der Mann wartete auf eine Todesnachricht! Wie die ganze Welt. Behauptete er.

Die Nachricht kam dann übrigens bald. Und Millionen Menschen kamen. Unter ihnen Präsidenten und Könige. Um dem die letzte Ehre zu erweisen, in dem viele einen der Nachfolger des Petrus sahen.

„A catholic moment“ - analysierten die Religionssoziologen jener Konfession sogleich jene Tage, in denen sich die römische Weltkirche so eindrucksvoll erleben ließ. Ein weltweites mediales Interesse. Millionen Pilger in Rom. Über 200 Staats -und Regierungschefs: Repräsentanten aller Länder, Religionen und Konfessionen.

„Was sucht ihr?“ - hätte man fragen mögen. Aber die Frage ließ sich natürlich nicht stellen. Sie wäre wohl auch ohne Antwort geblieben.

„Was sucht ihr?“ - Den Weg, die Wahrheit und das Leben haben wir gefunden. Das Heil der Welt ist uns erschienen. Der Sohn Gottes ist uns begegnet. Das können die Jünger als seine Nachfolger schließlich bekennen. - Wie sind sie dahin gekommen: zu dieser Einsicht? Zu dieser Gewissheit? Zu diesem Glauben?

Es ist zugegebenerweise schwierig. Wir müssen genau hinhören, wie es Johannes zu erklären unternimmt. Es ist wohl eben nicht so: Ein Mensch entschließt sich aus freier Selbstbestimmung zur Nachfolge Jesu. Es ist wohl eben nicht so: Aus rational durchsichtigen Gründen entscheidet sich einer oder eine zum Glauben an den Christus. Deshalb: Wie die Erkenntnis der Person Jesu, wie der „Entschluss“ zur Nachfolge des Christus in einem Menschen entsteht - darüber macht Johannes keine direkten Aussagen. Man muss es wohl eher indirekt ableiten. Johannes sagt: Jesus „sieht“ den Simon und erkennt, wer der sein wird. So wie er die anderen Jünger „sieht“, ihre wahre Bestimmung erkennt. Ihnen so im Bleiben bei IHM die Teilnahme an SEINEM Leben eröffnet. Deutlicher gesagt: Wenn ER uns „ansieht“, dann hat das schöpferischen Charakter. Dieses „An -sehen“ stellt nicht fest, was ist. Es stellt vielmehr her, was zuvor nicht war. Jedenfalls nicht als Anlage oder Begabung. Aber dann ist für den so „An -gesehenen“ Nachfolge erkennbar als Bestimmung seines Lebens. Als seine fremde Bestimmung. Denn sie besteht nicht in der Realisierung eigener Möglichkeiten. Vor allem: als seine gnädige Bestimmung. Denn sie ist identisch mit der unverdienten Gewährung der Gegenwart des Herrn.

Fragt einer oder eine: Sieht ER denn auch mich an? - Nun: Immer nur für sich selbst kann jeder diese Frage beantworten. Denn noch einmal: Nachfolge ist kein Objekt neutraler Wahrnehmung. Stille sollte wohl hilfreich sein, um es im Herzen feststellen zu können. Aufmerksamkeit. Konzentration. Keine Hektik. Auch keine fromme Hektik.

Hannover. Eröffnungsgottesdienst des Kirchentages. Zig -tausende von Menschen. Gedränge. Kommen und Gehen. Begrüßungen hin und her. Unruhe. Hubschrauberlärm über dem Platz: für die Bilder in den Abendnachrichten des Fernsehens. - „Was suchen die Menschen in Europa?“ fragte neben mir ein indischer Christ. „Gott werden sie nicht finden. Bei diesem Lärm. In dieser Unruhe“.

Andere sahen es anders: „Das ist wie Weihnachten bei 30 Grad“, begeisterte sich die Bischöfin meiner Landeskirche. Angesichts der Hunderttausende, die gekommen waren - selbst bei der Hitze. Um zu suchen. Zu finden. Zu beten. Zu singen. Zu bekennen. Okay. Solcher Art events sind heutzutage eben „in“. Ich will es auch nicht diskreditieren - zumal ja selbst beteiligt. Und wohl wahr: Schöne Begegnungen waren möglich. Gute und hilfreiche Gespräche. Förderliche Denkanstöße.

Gleichwohl - wenn es einem überzeugten Protestanten erlaubt sein mag: Meine größere Sympathie gilt dem schlichten Bekenntnis jenes Nachfolgers seines Herrn, auf dessen Sterbezimmer die Kameras der ganzen Welt in jenen römischen Tagen und Nächten gerichtet waren. Ein Bekenntnis vom Suchen und Finden, Bleiben und Glauben - am Abgrund des Todes. Ein Bekenntnis, ausgeplaudert von einem „Vertrauten“, der das wohl für richtig hielt. Sprachlos geworden, schrieb es Johannes Paul II. in seiner Sterbestunde mit zittrigen Händen auf einen Zettel. Für die polnischen Schwestern, die ihn seit Jahren gepflegt hatten: „Ich bin froh, seid ihr es auch“.

Dr. Dr. Günter Goldbach
guenter.goldbach@Uni-Osnabrueck.de


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