Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Kantate, 24. April 2005
Predigt über Matthäus 21, 12-22, verfasst von Klaus Bäumlin
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Zweierlei Tempelbetrieb

Und Jesus zog in das Heiligtum ein. Und er trieb all die Händler und Käufer im Heiligtum hinaus. Die Tische der Wechsler und die Stühle der Taubenhändler stiess er um. Und er sagt zu ihnen: "Geschrieben ist: Mein Haus soll ein Bethaus genannt werden. Ihr aber macht es zur Räuberhöhle." Und Blinde und Lahme kamen zu ihm ins Heiligtum, und er machte sie heil. Als aber die Hohenpriester und die Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Heiligtum schrien und sagten: "Hosanna dem Sohn Davids!", entrüsteten sie sich. Und sie sprachen zu ihm: "Hörst du, was die da sagen?" Jesus sagt zu ihnen: "Ja! Habt ihr noch nie gelesen: Aus der Unmündigen und Säuglinge Mund hast rechtes Lob du dir bereitet". Und er liess sie stehen, ging aus der Stadt hinaus nach Betanien und nächtigte dort.

Als er früh wieder zur Stadt hinaufzog, ward er hungrig. Und er sah einen einzelnen Feigenbaum am Weg und ging zu ihm hin. Doch nichts fand er an ihm als Blätter. Und er sagt zu ihm: Nimmermehr komme aus dir eine Frucht – auf Weltzeit hin! Und verdorrt ward im Nu der Feigenbaum. Als die Jünger das sahen, staunten sie und sagten: Wie konnte der Feigenbaum im Nu verdorren? Da hob Jesus an und sprach: Wahr ist's, ich sage euch: Wenn ihr Glauben hättet und nicht zweifelt, würdet ihr nicht nur das mit dem Feigenbaum wirken. Nein, wenn ihr zu diesem Berg da sprecht: Heb dich weg und stürz ins Meer – so wird es geschehen. Und alles, was ihr im Gebet glaubend erbittet – ihr werdet es empfangen.

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Von zweierlei Tempelbetrieb berichtet uns das Matthäusevangelium. Bevor Jesus einschreitet, wird im Tempel verkauft und gekauft und gefeilscht, werden Geschäfte und Profite gemacht. Opfertiere werden angeboten, Lämmer und Tauben, und wohl auch Tempelsouvenirs und Devotionalien, welche die Pilger, die zum Teil von weit her zum Passahfest nach Jerusalem gekommen sind, an ihre Wallfahrt erinnern sollen. Geld wird umgesetzt und gewechselt, viel Geld.

Nachdem Jesus die Händler und Käufer aus dem Tempel getrieben und die Tische der Geldwechsler und Taubenhändler umgestossen und ein ordentliches Chaos angerichtet hat, kehrt im Tempel keineswegs andächtige Ruhe und Stille ein. Lahme und Blinde, die zuvor im grossen Getümmel keinen Zugang fanden, kommen zu Jesus und werden von ihm geheilt. Lautes, fröhliches Kindergeschrei erfüllt die heiligen Hallen. Mit kindlicher Intuition merken die Kinder, dass es da einer gut mit ihnen meint und jubeln ihm zu: "Hosanna dem Sohn Davids!" Den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, die sich über das Kindergeschrei entrüsten und mehr noch als über den Lärm darüber, was die Kinder schreien, antwortet Jesus mit dem Hinweis auf den 8. Psalm: "Aus der Unmündigen und Säuglinge Mund hast rechtes Lob du dir bereitet." Damit will Jesus sagen: Was ihr gelehrten und beamteten Theologen, die ihr doch die Bibel kennen solltet, nicht erkennt, das sprechen die Kinder aus. So wird der Tempel, zuvor ein Markt, wo das Geld regiert, zum Ort der Heilung und Befreiung, zum Ort von Gotteserkenntnis und Gotteslob. Behinderte, im Leben Benachteiligte und Kinder fühlen sich hier willkommen. Aus dem Kommerzzentrum, dem Supermarkt ist ein Ort des Lebens geworden.

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Die Geschichte von der "Tempelreinigung" hat einen realen Hintergrund. Der Tempel hatte zur Zeit Jesu eine grosse Bedeutung für Jerusalem und die Juden. Er war nicht nur ihr religiöses und kultisches Zentrum, er war eine Institution, die aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben nicht wegzudenken war. Der Tempel war nicht nur ein eindrückliches Bauwerk mit vielen Nebengebäuden. Zu ihm gehörte ein Heer von Tempelbeamten, von den Hohenpriestern und Priestern bis hinab zu den Türhütern, Wächtern, Aufräumern und Putzmännern. Der Tempel war ein bedeutender Wirtschafts- und Tourismusfaktor, ein regelrechtes Unternehmen. Viele Leute lebten vom Tempeldienst und den zahllosen Einrichtungen und Geschäften, die dazu gehörten. Im Tempelbezirk durfte nur in jüdischer Währung, nicht etwa mit römischem Geld, bezahlt werden. Namentlich zu den hohen Festen pilgerten Juden aus aller Herren Länder nach Jerusalem. Wer ein Opfertier kaufen und schlachten lassen wollte, musste sein mitgebrachtes Geld in den Wechselstuben im Vorhof umtauschen. Wer es sich leisten konnte, opferte ein Lamm. Die armen Leute durften es bei einem Paar Tauben bewenden lassen. Ein Opfer bringen mussten auch sie. Dabei machten die Händler und Geldwechsler ihre Profite, auch mit dem Geld der kleinen, armen Leute. Zudem mussten sie der Tempelbehörde für ihr Geschäft Konzessionsgebühren bezahlen. Ausserdem waren Tempelsteuern zu entrichten. Begüterten wurde nahegelegt, bei einem Erbgang den Tempel zu berücksichtigen. Und schliesslich wurde von den Gläubigen erwartet, dass sie durch eine Spende in den Opferkasten ihren Beitrag an den Betrieb des Tempels leisteten.

Man denke bloss nicht, diese Verbindung und Vermischung von Religion und Geschäft sei typisch jüdisch. Kaum eine religiöse Institution, die im Zentrum der gesellschaftlichen Macht steht und den Leuten Vorschriften machen kann, wie sie ihre Frömmigkeit und ihren Glauben zum Ausdruck bringen sollen, entgeht der Versuchung, mit der Religion ein Geschäft zu machen, die Bedürfnisse und Sehnsüchte der Menschen auszunützen. Die christliche Kirche liefert in ihrer Geschichte Beispiele genug. Und wenn für uns heute diese Versuchung nicht mehr so gross ist, dann nicht aufgrund besserer Einsicht, sondern weil christlicher Glaube und Kirche heutzutage schlicht nicht mehr im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens stehen und niemand mehr verpflichtet oder sogar gezwungen ist, mitzumachen.

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Jesus treibt radikale Religionskritik, und er steht dabei in bester prophetischer Tradition Israels, zum Beispiel derjenigen Jeremias. Zur Zeit Jeremias gab es eine Tempeltheologie, die den Leuten Sand in die Augen streute: Israel könne ruhig und ohne Sorgen leben, brauche sich über seine Zukunft keine Gedanken zu machen, denn in seiner Mitte, in Jerusalem, stehe ja der Tempel des Herrn, und das bedeute doch Gegenwart Gottes und garantiere Frieden und Sicherheit. Solange der Tempel stehe und das Volk in ihm seine Opfer bringe und die religiösen Pflichten erfülle, sei alles in bester Ordnung. Diesem verblendeten Israel muss Jeremia im Auftrag Gottes zurufen: "Vertraut nicht auf die trügerischen Worte: Der Tempel des Herrn! Der Tempel des Herrn! Der Tempel des Herrn ist hier! Denn nur, wenn ihr euer Verhalten und euer Tun von Grund auf bessert, wenn ihr gerecht entscheidet im Rechtsstreit, wenn ihr die Fremden, die Waisen und Witwen nicht unterdrückt, kein unschuldiges Blut vergiesst und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem Schaden, dann will ich bei euch wohnen an diesem Ort." (Jer. 7,4). Diese alte prophetische Tradition der Religionskritik, der kritischen Auseinandersetzung mit den Zuständen der eigenen Religion nimmt Jesus hier auf und spitzt sie zu auf seine Zeit. Selbst den Vergleich des Tempelbetriebs mit einer "Räuberhöhle" hat er dem Propheten Jeremia (7,11) entnommen.

Religion kann etwas Falsches, Verkehrtes, Unfruchtbares und Unnützes sein. Die seltsame Episode mit dem Feigenbaum, den Jesus auf immer verdorren und absterben lässt, weil er keine Frucht bringt – nichts als Blätter –, ist ein Gleichnis dafür. Nichts als schöner Schein, äusserliche Pracht- und Machtentfaltung, nichts als Betriebsamkeit, Geschäftigkeit und Wichtigtuerei, nichts als ehrwürdige Institutionen, Rituale und Kunstdenkmäler, aber nichts, was den Hunger der Menschen stillen und ihre Gebrechen heilen könnte.

Jesus gibt dem Tempel, dieser ganzen Art von Religion, keine Zukunft. Wie der unfruchtbare Feigenbaum ist sie zum Verdorren und Absterben verurteilt. Wenige Jahrzehnte später ist der Tempel in Jerusalem von den Römern bis auf die Grundmauern zerstört worden. Die Juden aber, für die der Tempel einst der Bezugspunkt ihrer Frömmigkeit war, haben, zerstreut in alle Welt, ihren Glauben an Gott neu zu leben begonnen, ohne Tempel, im gemeinsamen Hören auf das Wort der Schrift, in der Beachtung des Sabbats und im gemeinsamen Fragen nach dem Willen Gottes.

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Ich denke, genau dazu wollte Jesus seine jüdischen Brüder und Schwestern, seine Jünger ermutigen, und dazu will er uns Christen ermutigen und ermächtigen. "Wahr ist's: Ich sage euch: Wenn ihr Glauben hättet!" Zwischen Gott und den Menschen braucht es keine vermittelnden Instanzen und Institutionen, keine Tempel und Kirchen, keine Opfer und Rituale. Gottes heilende und befreiende Gegenwart ist nicht abhängig von heiligen Orten und Zeiten. Traut euch den Glauben an Gott und seine Möglichkeiten zu! Traut euch zu, freie Menschen zu sein, Kinder Gottes, die ihren Vater im Himmel kennen und mit ihm reden in der Gewissheit, dass sie es nicht vergeblich tun. Traut eurem Glauben und dem Gott, dem ihr glaubt, einiges zu. Traut ihm zu, dass er Berge, die unüberwindlich vor uns zu stehen scheinen, ins Meer stürzt: Berge des Misstrauens unter Menschen und Völkern, Berge von Macht und Gewalt und Profit, die Menschen unter sich begraben und krank machen, Berge von Schuld, Not, Leid und Angst.

"Wir sind doch der Tempel des lebendigen Gottes", hat Paulus der christlichen Gemeinde geschrieben (2. Kor. 6,16). Sind wir's? Ein Tempel, in dem Gottes befreiende und heilende Kraft erfahren wird? Ein Tempel, in dem Kinder schreien und lachen und sich des Lebens freuen können?

Vater im Himmel, lebendiger Gott,
hier auf unserer Erde, unter uns willst du wohnen;
hier willst Du lebendig sein.
Unsere Körper, unsere Herzen, unsere Köpfe und Sinnen –
Dein Tempel, Deine Wohnung dürfen sie sein,
damit wir und andere Deine befreiende und heilende Nähe spüren,
Deiner Liebe und Gerechtigkeit begegnen.

Aber unsere Herzen, Köpfe und Sinnen sind so vollgestopft
mit Geschäften und Geschäftigkeiten, mit Sorgen und Ängsten,
mit dem Gerümpel eigener Wünsche und Bedürfnisse,
dass für Dich kein Raum, keine Zeit übrig bleibt.
Darum räume weg, was uns von Dir trennt.
Lass Deinen reinigen Geist durch unsere Herzen, Köpfe und Sinnen fahren,
damit Du, lebendiger Gott, unter uns wohnen, leben und wirken kannst.

Und Deine Kirche hier und überall auf der Erde –
Mach sie frei von aller Selbstherrlichkeit, Selbstgenügsamkeit und Selbstgerechtigkeit.
Befreie sie vom Wahn, gross und mächtig zu sein,
Besitzstände und Positionen verteidigen zu müssen.
Lass sie zum Ort und zur Gelegenheit werden,
wo Menschen den Weg zu einander finden,
heilende und befreiende Zuwendung erfahren,
gemeinsam nach der Gerechtigkeit fragen und Deinem Frieden entgegengehen.

Gott des Lebens, bau Dir auf Erden Deinen Tempel:
aus lebendigen Menschen, die auf Dich vertrauen.
Baue uns ein als lebendige Steine.
Amen.

Pfarrer i.R. Klaus Bäumlin
Liebeggweg 19
CH-3006 Bern
klaus.baeumlin@bluewin.ch


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