Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Palmarum, 20. März 2005
Predigt zu Psalm 22, verfasst von Tom Kleffmann
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Erläuterung:

Die Predigt ist für die Göttinger Jacobikirche gedacht. Im Chorraum ist dort ein Altarbild von 1402 zu sehen, auf dessen Sonntagsseite in der Predigt hingewiesen wird. Außerdem sind im nördlichen Kirchenschiff Fenster zu sehen, die Johannes Schreiter zu Psalm 22 gestaltet hat. Sie wurden 1997 eingesetzt.

-> Altarbild und Fenster

Predigt:

Passionszeit. Klingt schwermütig. Erinnert uns an etwas, an das wir nicht erinnert werden wollen. Muß das sein?
An Schmerz werden wir erinnert. An ausweglose Angst. Aber wir wollen doch leben!

Schauen sie sich das Altarbild an. Die Hälfte des Lebens Jesu ist dort seine Leidensgeschichte, die ganze untere Hälfte: die Einsamkeit. Die Gefangenschaft. Das Urteil. Die Geißelung. Das Kreuz und die Kreuzigung. Das Grab. Muß das sein? Müssen wir daran erinnert werden? Geht uns das was an?

Alles geht es uns an! All deine Gedanken kreisen darum, ob du es weißt oder nicht. Es ist deine eigene Angst. Es ist deine eigene Einsamkeit. All das, was wir von Gott hoffen, wissen, ahnen, erfahren, beten, schweigen – erst hier fängt es an zu sprechen. Oder es wäre alles nichts.

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus. Amen.

Ich predige heute über Psalm 22, Jesu Leidenspsalm.
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne.
Mein Gott, ich rufe, doch du antwortest nicht.

Wer schreit? Wer ruft? Der Mensch, der stirbt. Der Mensch, der Angst hat. Der Mensch, der Gott nicht sieht, sondern nur den Staub vor ihm auf dem Boden, die Fratzen des Todes, und dahinter die Menschen, die schon wieder vergessen, die essen, trinken, streiten, als wäre nichts.

Mein Gott, ich rufe, doch du antwortest nicht.

Wo bist du? Bist du unendlich fremd und kalt? Bist du hinter den Sternen, bist du im Grund der Moleküle? Wo bist du? Bist du ganz nah?

Seht, ein Mensch ! Ein Mensch, für den Gott ein Vater war. Ein Mensch, der Gottes Ewigkeit kommen sah: im Licht, in der Morgenröte, im Rascheln der Blätter im Wind. In denen, die Leid tragen, in den Sanftmütigen, in den Barmherzigen, in den Friedfertigen, in den Verfolgten, in den Einfältigen, in den Kindern. Und indem er es sagte, war es so. Gott kommt! Er gibt euch ein neues Herz!

Aber jetzt ist alles verklungen. Der Tod und seine Menschen-Einsamkeit ist noch nicht besiegt. Die Macht der Lebenslügen. Das milliardenfache Übermaß verlorener Menschen. Gott war noch nicht in unserer Angst. Gott war noch nicht in unserer Einsamkeit. Gott war noch nicht in unserem Sterben.

Was heißt das, was Paulus sagt: Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht? (2.Kor.5,21)

Und Jesus betete allein unter dem Nachthimmel im Garten Gethsemane. Meine Seele ist traurig bis an den Tod. Und es bleibt nur der dunkle Weg. Und die Welt wird ihm zu eng. Aber er bekennt seinen Gott vor Pilatus. Und sie kreuzigen ihn. Es gibt kein Zurück. Sein Leib wird zum Schmerz: die Hände, die Brust, der Atem. Und sie teilen seine Kleider unter sich und werfen das Los. Und die, die selbst nur wie Schatten leben, verspotten ihn: hilf dir nun selber und steig herab. Und er schreit zu seinem Gott, den er nicht sieht, und der doch allein das Leben sein kann, das Licht.

Lesung Ps.22, 2-9 .
Lied 381,1

Seht, ein Mensch ! Kann man sagen, daß er an seinem Gott zweifelt, am Gott der Väter? Er spürt die Dunkelheit. Er ruft, aber Gott ist nicht zu sehen. Der Blick wird eng. Haben wir nicht an den Gott geglaubt, der immer heraushilft, der immer rettet, der allem einen Sinn gibt – auch dem Sinnlosen: dem Unfall, der unheilbaren Krankheit, dem frühen Tod? Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?Ich rufe, aber du trohnst heilig über allem, und unendlich fern. Es gibt hier kein Wunder, keine Rettung in letzter Sekunde. Es ist Ernst. Es ist unser wirkliches Leben.

Wer bist du, Gott? Bist du ein Spieler? Warum wirfst du unsere Erde in ein Meer von Leere und Sternenfeuer? Ist es dir gleich, daß wir sterben, daß wir schreien? Urknall und letzter Tod – ist das alles?

Aber wir sind doch von dir! Es war doch dein Geist, der unsern Geist berührte. Es war doch dein Geist, in dem unser Geist sich erkannte. Du warst es doch, zu dem unser Jubel aufstieg. Du warst es, dem wir dankten, für den freien Atem, für die Kinder. Und von dir kam die gute Tiefe.

Lesung Ps.22, 10-12
Lied 381,2

Halten wir es aus? Eigentlich wollen wir nicht erinnert werden. Nicht freiwillig. Aber es geht ja nicht um ein schreckliches Unglück, um etwas, was nur die Andern trifft, und wir stehen am Grab.

Sicher, wir wollen leben, wollen lachen, wollen stark sein, wollen gewiß sein. Manchmal wissen wir selbst nicht, woher die herrliche Kraft kommt, der Lebenskitzel, der die Seele überflutet.

Aber die Angst, in der wir verloren sind, der Zweifel an Gott, das ist die einsamste Mitte. Gibt es einen Menschen, der dem ausweichen kann? Im Grunde kann dem keiner ausweichen – auch dem Zweifel nicht, kein Heiliger, kein Christ, kein Pastor. Der Verstand sieht Gott nicht. Er kann ihn nicht ausrechnen. Er rechnet mit Atomen, Galaxien, mit den Gesetzen von Kraft und Masse. Er sieht die Zeit. Er sieht die Gräber. Sicher, wir wissen auch, daß er begrenzt ist, der Verstand. Es ist nicht viel, was er wirklich versteht. Aber wo er aufhört, werden wir sprachlos.

Wir können uns den Glauben ja nicht einreden, um uns selbst zu beruhigen.
Dein Geist, Gott, nur der kann Glauben sein.
Wir rufen in die Stille. Wir hören in die Stille. - - -

Lesung Ps.22, 15-20
Lied 381,4

Kein Märchen mit einem glücklichen Ende – und wäre es das, würde es uns nichts angehen. Die ganze Last, die ganze Todeswürde des Menschenlebens wird bis zum Schluß getragen: Alle Angst. Aller Schmerz. Die Lebenslüge der ganzen Welt wird hier gebüßt. All das, was wir von Gott hoffen, was wir beten in der Nacht, hier findet es seinen Grund – oder es wäre alles nichts, ein Haschen nach Wind.

Wir rufen in die Stille. Wir hören in die Stille. - - -

Aber verliebe dich nicht in die Stille. Wenn der Geist Gottes kommt, dann spricht er wie ein Mensch; und höher als aller Verstand.

Gott für uns: ein Mensch in unserm Tod. Der gekreuzigte Gott. Gott in unserm Leiden. Gott, der den Zweifel auf sich nimmt. Der ein Gesicht hat. Der mit uns in die Tiefe geht.

In diesem Menschen ist Gott sich selbst gegenüber, verstehst du das? In diesem Tod beweist er seine Liebe, glaubst du das?

Wo ist seine Ewigkeit? Wann kommt seine Ewigkeit? - Du Narr!

Lesung Ps.22, 23-25.28-32

Sein Frieden, welcher höher ist als aller Verstand, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

PD Dr. Tom Kleffmann
tkleffm@gwdg


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