Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Okuli, 27. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt über Psalm 25,15, verfasst von Klaus Schwarzwäller
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"Meine Augen sehen stets auf den Herrn;
denn er wird meinen Fuss aus dem Netze ziehen."

„Meine Augen sehen stets auf den Herrn“ – meine Augen? und: stets? Nein, diesen Psalmsatz kann ich nur zitieren, doch ehrlicherweise nicht sprechen. Denn „meine Augen sehen stets auf“ – vieles, dabei natürlich durchaus auch auf den Herrn. Es ist dieses „auch...“ – Gott kommt auch vor in meinem Leben, ich sehe auch auf ihn. Indem ich das in meinen Gedanken wäge, drängt sich mir das biblische Ehegleichnis in den Sinn: Der eine Mann sieht stets auf seine Frau bzw. umgekehrt, und der/die andere sieht eben auch auf die eigene Frau/den eigenen Mann, und daneben gibt es viele andere Frauen oder Männer, die man halt auch sieht – unvermeidlich sieht, doch immer wieder auch so, daß man sie gerne, daß man sie gar zu gerne sieht, so daß man auf sie sieht. Das ist eben so; und solange ich treu bleibe und nichts passiert... In diesem Sinne sehe ich eben „auch“ und immer wieder auf den Herrn. Indem mir das bewußt wird, wird mir zugleich deutlich, nein, springt es mich geradezu an: Das stimmt in sich nicht! Es stimmt in sich so wenig, wie wenn Verheiratete halt auch auf den angetrauten Menschen blicken und im übrigen die Blicke schweifen lassen – Hauptsache, „es passiert nichts“. Ist nicht ebendamit längst schon „etwas passiert“?

Das mag man für sich selbst entscheiden; jetzt geht es darum, auf wen oder was „meine Augen sehen“, nachdem sie gerade nichtstets auf den Herrn“ blicken. Mit dieser Frage freilich scheint alles entschärft zu sein. Denn solange ich hinieden lebe und womöglich für andere Menschen Verantwortung trage, ist es nicht nur unvermeidlich, sondern unbedingt nötig, daß ich auch und höchst aufmerksam auf vieles Andere „sehe“: mein eigenes Leben, seine Führung, seinen Unterhalt; meine Aufgaben, Pflichten und Ziele; in alledem somit auf meine Verpflichtungen und insbesondere auf die Menschen, für die ich da bin oder zu sein hätte oder mit denen ich den Lebens-, den Arbeits-, den gesellschaftlichen... Raum teile. Nüchtern und realistisch betrachtet, mag es allenfalls im Kloster möglich sein, „stets auf den Herrn“ zu „sehen“. Das sage ich mir natürlich auch selbst. Dennoch bringe ich es nicht fertig, damit zur Tagesordnung überzugehen. Denn der diesen Psalm dichtete, war gewiß kein Mönch; und er lebte innerhalb der normalen, der alltäglichen persönlichen wie sächlichen Bezüge wie ich auch. Oder ist der Satz lediglich eine fromme Behauptung, gleichsam ein Motto, bei dem jeder weiß, es soll nur einstimmen?

Immer noch kaue ich auf diesem „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“, das sich ebenso leicht dahersagen wie auch als bloßes Gerede beiseitewischen läßt. Je länger ich diesem Satz nachdenke und ihn auf mich wirken lassen, desto mehr fühle ich mich gestellt, ja regelrecht ertappt, so oder so aber herausgefordert, nämlich eine Antwort auf die Frage zu finden: Auf wen oder was sehen „meine Augen“, und zwar so, daß ich sagen kann: Sie sehen „stets“? Oder – wer weiß – habe ich gar keinen steten Blick? Schweifen meine Augen herum, haften sie sich bald an diese Gestalt, bald an jene Möglichkeit, suchen sie mal hier, mal da und dann wieder dort? Wenn dem so wäre, dann – dann würde mein Leben keine Linie haben. Einmal von dem Satz des Psalms gestellt, zögere ich auf einmal, fest und klar zu behaupten: Doch, mein Leben hat eine Linie. Denn unversehens schleicht mich Mißtrauen gegen mich selber an: Und wie, wenn ich mich täuschte? Auf wen oder was ziele ich, wem oder was laufe ich nach, wen oder was habe ich im Blick, bestimmend und darum jederzeit im Blick?

Wieder: Das mag man für sich selbst ausmachen. Ich meinerseits muß, durch diesen Satz wie festgenagelt, plötzlich an die Zeit der ersten großen Liebe denken. Doch, da lebte ich mit beiden Füßen auf dem Erdboden und mit klarem Blick für alles um mich herum. Und es gab viel Verlockendes um mich herum und herausfordernde, lohnende Ziele. Und es gab nicht zuletzt viele, sehr viele schöne Frauen und Mädchen – die waren nicht auf einmal vom Erdboden verschwunden, und ich nahm sie auch durchaus wahr. Nur: Sie interessierten mich nicht weiter. In meinem Sinn war „SIE, die einzig Eine“. Und wenn man mich gefragt hätte, wen ich im Blick habe, auf wen meine Augen „stets sehen“, die Antwort wäre klar gewesen: Auf SIE natürlich; SIE habe ich im Blick. Das hat mir auch immer wieder Vermögen, Mut oder Einsicht verliehen, dies oder jenes zu tun, zu riskieren oder auch eiskalt zu planen – um IHRETwillen natürlich! Und was habe ich mir damals nicht alles einfallen lassen... Und was lassen wir uns dann nicht alles einfallen und führen es aus – oft genug wider jede Vernunft und jedes bessere Wissen! Dabei gucken wir genau hin, ganz genau, und das aus dem einen einzigen Grunde, daß „meine Augen stets auf“ SIE bzw. IHN „sehen“. Das schließt einander gerade nicht aus – Wissen und Erfahrung jedes Erwachsenen.

„SIE“ bzw. „ER“, der „einzig eine“ geliebte Mensch ist sichtbar, teilt meine Lebenswelt oder berührt sie zumindest, kann also hier oder dort bestimmt getroffen und kann in einem Foto festgehalten werden, das man sich dann auf Nachttisch oder Schreibtisch stellt. Der Herr hingegen, Gott –

„Niemand hat Gott je gesehen. Der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt“ heißt es zu Beginn des Johannesevangeliums. Und er hat ihn uns verkündigt nicht allein mit Worten, sondern durch sein Leben selbst, gerade auch dadurch, daß es am Kreuz und im Grab endete, aus dem er dann freilich drei Tage später auferweckt wurde. Beides hat dazu geführt, daß wir im Kreuz und in der Darstellung des Gekreuzigten uns etwas geschaffen und aufgestellt haben, woran unsere Augen legitimen Halt finden, so daß sie „stets auf den“ unsichtbaren „Herrn“ und Gott „sehen“ können. Wir wissen: Das heißt nicht, daß wir nun überall und in allem den Gekreuzigten oder „den lieben Herrn Jesus“ sähen oder daß wir ihn ständig im Munde führten; ganz gewiß nicht! Es heißt vielmehr –

Das muß nicht lange erklärt werden! Hier ist’s ähnlich wie bei der großen Liebe: Auf ihn zielt dann das Denken und Streben; um ihn geht es mir und darum, daß er sich über mich freuen könne; und wie er etwas sehen oder anstellen würde, ist mir nun Maßstab. Dann mag ich um mich herum erblicken, wen oder was ich will; dann kann ich auch zugeben, daß vieles vorteilhaft ist und attraktiv und auch für mich verführerisch oder zumindest geeignet, mich ins Nachdenken zu bringen: Meinen Blick, also meine Lebenslinie wird es gerade nicht festhalten und abwenden – schon darum nicht, weil ich damit mich selbst verlöre. Selbst die höchsten Werte unserer Gesellschaft: die Zahl, der €uro und der Erfolg, selbst sie können mich dann nicht in den Bann ziehen, so daß ich zu Knecht oder Ackermann des modernen Götzenkults würde.

Der Punkt ist ja nicht, daß uns das nicht klar wäre. Der Punkt ist, daß es uns so über die Maßen schwer fällt, „stets auf den Herrn“ zu „sehen“. Dafür sorgt nicht nur das Regiment der drei genannten Götter unserer Gegenwart – immerhin bietet es hohe Prämien für die, die sich ihm unterwerfen und ihre Seelen ausliefern. Dafür sorgt vor allem, daß auch der Herr, wie er als der Gekreuzigte uns vor Augen steht, uns immer ferner rückt und damit uns als immer irrealer vorkommt. Wo, wo in den Gegebenheiten des Alltags, wo erfahren wir ihn denn? erfahren wir ihn so, daß er unsere Seele und Blicke auf sich ziehen kann und sie womöglich so bindet wie die große Liebe? Längst verkam seine Wahrheit zum netten Kinderlied: „Stets auch mir zur Seite still und unerkannt, daß es (sc. das Christuskind) treu mich leite an der lieben Hand.“ St. €uro hält dagegen: „Mag sein – doch bei mir bist du erfolgreich; bei mir hast du Rendite von 20 % und mehr!“ Da kann der Gekreuzigte nicht mithalten –

Unser Vers allerdings hat eine Fortsetzung: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.“ Will sagen: Ich weiß, und ich werde erfahren, daß er mich nicht losläßt, sondern mir mein Leben sichert. Indem ich „stets auf den Herrn“ sehe – setze ich mich den kritischen Fragen und den eigenen Zweifeln aus, wo denn der Herr blieb, als es mir schlecht ging oder ich mir selbst verloren ging; wo er denn sei, wenn wieder einmal Menschen abgeschlachtet und gerade auch Gläubige unterdrückt werden; wo denn seine Macht, sein Vermögen merklich werde, wenn wieder einmal die Bosheit feixend triumphiert und das produziert, was der menschenverachtende Ausdruck als „Sozialschutt“ bezeichnet: Menschen, die unter die Räder kamen und froh sein können, wenn sie überhaupt ihr Leben retten. Daß der Herr „meinen Fuß aus dem Netze ziehen“ werde, ist doch längst als bloßer frommer Spruch erwiesen – etwa nicht?

Wo andere oder der eigene Zweifel diese Einwände erheben, ist es sinnlos, das Gegenteil beweisen zu wollen. Selbst wenn’s beweisbar wäre: Es ist zu wenig offensichtlich, liegt zu wenig klar auf der Hand, als daß es zu überzeugen vermöchte. Ja, man kann es uns mies und madig machen und es uns ausreden und kann uns zu Kinderspott machen, wenn wir an diesem Versteil festhalten. Es ist schon so: Wir können uns hier nicht wehren. Das freilich ist nicht alles. Und was wäre hier noch zu beachten?

Zweierlei. Einmal daß ich regelmäßig nicht weiß noch überhaupt wissen kann, wo und wie oft ich dank Gottes Fürsorge mich gar nicht erst in mancherlei Netzen verfing und wo ich, als ich hängen blieb, von ihm befreit wurde – geräuschlos, unmerklich, scheinbar von selbst, so daß ich, wenn ich’s dennoch einmal mitbekam, aufatmend sagte: „Ist nochmal gut gegangen“ oder auch: „Da hab‘ ich aber Glück gehabt!“ Und wenn ich an die vielen Netze denke, die ich mir aus Gedankenlosigkeit oder auch Dummheit selber aufstellte und in denen ich mich dennoch nicht verfing – das wäre schon Grund, wundergläubig zu werden. Der Punkt hier ist, daß es unter uns ungewöhnlich ist und fast als ungehörig gilt, hier die helfende Hand des Herrn erkennen zu wollen. Schließlich kann man sie ja nicht nachweisen, schon gar nicht wissenschaftlich... Zum anderen aber ist hier zu beachten: Es geht nicht um das Handeln des Herrn im allgemeinen – das überblicke ich ohnehin nicht – , sondern es geht hier um mich und mein Verhältnis zum Herrn. Und wenn er es für gut befindet, meinen Fuß sich im Netz verfangen zu lassen – ich muß anders ansetzen: Die Lebenserfahrung lehrt, daß in sehr vielen Fällen, ich vermute sogar – wer weiß – in der Mehrzahl der Fälle die entscheidenden, die einschneidenden Mißerfolge oder die folgenschweren Irrtümer es sind, die mich reifen lassen, zu mir selber bringen, mir meinen Weg finden helfen usw.; daß also es immer wieder gerade ein Unglück war, das mich weiterbrachte; ein Unglück, das mir widerfuhr auch dank der Bosheit von Mitmenschen.

Ich widerstehe der Versuchung, auch nur eines der Ereignisse hier zu nennen, durch das mir das – an mir selber wie an anderen – deutlich wurde, ja sich geradezu aufdrängte. Jeder muß die eigenen Erfahrungen machen – und wird sie auch machen, machen können, machen können jedenfalls dann, wenn der Blick sich nicht vom Herrn ablenken läßt, vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn. Und dann weiß ich auch: Selbst wenn er mich in Dreck und Elend „hängen läßt“ – auch er wurde „hängen gelassen“, und das sogar buchstäblich. Gott jedoch hat noch andere Dimensionen. Der Gekreuzigte wurde von den Toten erweckt. Und die, deren „Augen stets auf den Herrn sehen“, läßt er auch mit Sterben und Tod nicht aus der Hand, gibt sie nicht preis – so wahr der gekreuzigte Herr lebt.

Meine Augen sehen stets auf den Herrn;
denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.

Er wäre nicht Gott, wenn er’s nicht auch immer wieder täte, wenn ich nicht auf ihn „sehe“, sondern meine Augen schweifen lasse. Also wär’s einerlei – so oder so wird er schon helfen? Genau umgekehrt! Weil ich weiß, daß er „meinen Fuß aus dem Netze ziehen“ wird, ER und sonst niemand, ist / wird / sei es mir Ziel, ja Bedürfnis, „stets auf den Herrn“ zu sehen, es wäre denn, daß mir alles, daß mir mein Leben egal ist. IHM aber nicht! Darum wird er „meinen Fuß aus dem Netze ziehen“, bis daß ich einmal begreife und darum „stets auf den Herrn sehe“.

AMEN.

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller
hweissenfeldt@foni.net

 


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