Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Okuli, 27. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt über Psalm 25,15, verfasst von Annedore Wendebourg
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Gesang EG 789.5 „Oculi nostri ad dominum Deum“ (Taizé)

Liebe Gemeinde!

„Oculi nostri ad dominum Deum. Unsere Augen sehn stets auf den Herren.”
So haben wir es eben gesungen. Eine Zeile aus dem Psalm, den wir vorhin im Wechsel gebetet haben. Aber stimmt das? Schauen unsere Augen stets auf Gott? Ich schaue morgens auf all die Arbeit, die getan werden muss. Ich schaue auf Menschen, in deren Augen ich gut dastehen möchte. Ich schaue auf Dinge, die ich gern haben möchte.
Wann richte ich meine Augen überhaupt auf Gott?
Vielleicht am ehesten dann, wenn es mir so geht wie jenem Psalmdichter. Im Psalm geht der Satz nämlich noch weiter: Da heißt es: „Meine Augen sehen stets auf den Herren, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen“. Der Beter ist gefangen in Angst und Verstrickung. Angstvoll schaut er aus nach Hilfe und da kommt ihm Gott in den Sinn. „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat.“ So beschreibt ein anderer Psalm diesen angstvoll hoffenden Blick auf Gott.

Gefangen im Netz, das kann vieles sein: Das Mobbing-Netz aus Verleumdungen, Andeutungen, Halbwahrheiten, das sich immer enger um die Mitarbeiterin eines Büros zusammenzieht: Sie wird immer unsicherer, macht schließlich wirklich Fehler, leidet unter Bauchschmerzen, meldet sich oft krank und befürchtet die Entlassung.
Gefangen im Netz, das können die eigenen Lügen sein, in die sich der 12-jährige mehr und mehr verheddert, nachdem er Geld aus der Klassenkasse „geborgt“ hat, für ein teures Computerspiel. Er zimmert sich ein Alibi zurecht und versucht auf alle möglichen Arten an Geld heranzukommen, um es heimlich zurückzulegen.
Gefangen im Netz, das kann das Chaos sein, in dem die alleinstehende Mutter versinkt. Die Aufgaben wachsen ihr über den Kopf, die Schulden: Berge von Wäsche, von Müll, von ungeöffneten Rechnungen. Je größer das Chaos wird, desto unfähiger wird sie, sich aus dem Netz zu befreien.
Gefangen im Netz, das kann auch einfach das Netz unseres Alltags sein. Für das, was uns eigentlich wichtig ist sind wir nicht mehr frei durch unsere vielen Verpflichtungen, unsere Angewohnheiten und Zerstreuungen.

Beklemmungen, Angst, Lähmung, Verzweiflung, Unzufriedenheit: Gut, wenn jemand da noch den Blick frei genug hat, um die Augen aufzuheben dahin, von wo Hilfe kommen kann!
Der Ruf nach Hilfe, so erfahren es Therapeuten, ist schon der erste Schritt zu einer Lösung.
Und ein allererster Schritt, bevor man sich einem Menschen anvertraut mit seiner Not oder seiner Schuld, ist oft der Blick auf Gott, das Stoßgebet „Herr, hilf mir!“, „Herr, erbarme dich!“ Wer so betet, muss nicht besonders fromm sein. Dieser Blick auf Gott in der Not ist allgemein-menschlich, Religion im weitesten Sinne.
Dietrich Bonhoeffer, der vor fast genau 60 Jahren, im KZ Flossenbrück umgebracht wurde, hat das in seiner Haft oft genug erlebt und drückt es in einem Gedicht so aus:

„Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie es alle, Christen und Heiden.“

Gesang EG 789.5 „Oculi nostri ad dominum Deum“ (Taizé)

„Meine Augen sehen stets auf den Herren.“ – Für uns Christen gibt es noch einen anderen Blick auf Gott. Jetzt in der Passionszeit vor Ostern richten wir unsere Augen auf Jesus, auf sein Leiden und Sterben. In ihm ist Gott Mensch geworden, unser Bruder, so glauben wir. Gott selber also schwach und elend, leidend und sterbend, nicht der starke Helfer und Rächer, als den wir ihn so gern sehen möchten, nicht der Sündenbock, den wir verantwortlich machen können für Kriege, Gewalt und Ungerechtigkeit, für Naturkatastrophen. Statt dessen ein Gott, der aufsteht gegen Gewalt und Ungerechtigkeit und selber ihr Opfer wird.
Das ist schwer auszuhalten, auch und gerade für uns fromme Leute. Die Jünger damals hatten es nicht ausgehalten, sie waren weggelaufen. Viele Christen durch die Jahrhunderte haben es nicht ausgehalten. Sie wollten und wollen den starken, den siegenden Gott: Mit dem enthusiastischen Ruf „Gott will es“ zogen sie in die Kreuzzüge, in den heiligen Krieg gegen die Muslime.
1924 war es nicht viel anders: „Gott mit uns!“ stand auf den Koppelschlössern der deutschen jungen Männer, als sie - ebenfalls jubelnd - in den ersten Weltkrieg zogen. Aus der allerjüngsten Vergangenheit gibt es ähnliche Beispiele.

Die Passionszeit lädt uns ein, den Blick auf den leidenden Gott zu wagen, den Kreuzweg mitzugehen. Die Passionszeit lädt uns ein, in Christus unseren leidenden Bruder und in unserem leidenden Bruder, in unserer leidenden Schwester Christus zu sehen.
Die Passionszeit lädt uns ein, nicht wegzulaufen wie die Jünger, sondern dazubleiben wie die Frauen unterm Kreuz und am Grab. dazubleiben und mit auszuhalten.

Ob Frauen dafür eine größere Begabung haben? Vor kurzem bei einem Trauergespräch erzählte mir der Sohn der Verstorbenen: „Nachdem meine Mutter ins Heim gekommen ist, konnte ich sie nicht mehr besuchen. Ich ertrage das Elend dort nicht. Aber meine Frau ist regelmäßig bei ihr gewesen.“
Vielleicht aus der selben Angst vor dem menschlichen Elend machte ein Amtsbruder von mir keine Krankenhausbesuche. Als ein Kirchenvorsteher seiner Gemeinde im Spital im Sterben lag, musste man den Pastor beinahe hintragen. Er blieb dann bis zuletzt bei dem Sterbenden und seiner Familie. Später erzählte er, dies sei eines der wichtigsten Erlebnisse in seinem Leben gewesen. Nie vorher sei er Menschen so nahe gekommen.
Dem Drang wegzulaufen zu widerstehen, auszuhalten bei dem oder der anderen, das kann fast über die Kräfte gehen, das kann aber auch unendlich bereichern.
Von diesem Aushalten spricht Bonhoeffer in der zweiten Strophe seines Gedichtes:

„Menschen gehen zu Gott in seiner Not.
Finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehen ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.

Gesang EG 789.5 „Oculi nostri ad dominum Deum“ (Taizé)

“Meine Augen sehen stets auf den Herren, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.“
Wird Gott denn helfen, ja kann Gott überhaupt helfen? Kann Gott mich aus dem Netz befreien, aus meiner Gefangenschaft, aus meiner Verstrickung, meiner Angst?
Was für einen Sinn macht mein Blick auf Gott, mein Stoßgebet, wenn Gott selbst leidend ist, verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod, wie Bonhoeffer er ausdrückt?

Die Passionszeit vor Ostern ist von alters her eine Bußzeit, die uns zur Umkehr führen will. Sie eröffnet uns ein eine neue Blickrichtung: nicht länger auf unser Netz, das uns gefangen hält, und nicht länger auf einen Gott, der unsere Wünsche und Hoffnungen erfüllt, aber hin auf den Gott, der in Jesus Christus unsere Schuld, unsere Verstrickungen ans Kreuz getragen hat, hin auf den Gott, der uns Bruder im Leiden geworden ist.
Viele unserer Verstrickungen sind ja Verstrickungen in uns selbst. Wir sehen nur noch das Netzt, strampeln und strampeln und ziehen es dadurch nur noch weiter zu, unsere Füße verheddern sich mehr und mehr. Der Blick auf Christus schafft Abstand und Weite, Der Schritt auf ihn zu ist vielleicht schon der erste Schritt heraus aus dem Netz.

Die Passionszeit können wir nutzen, diesen neuen Blick einzuüben, den Blick der Anteilnahme, des Mit-Leidens mit dem liebenden, leidenden Gott. Die Passionszeit können wir nutzen, den Blick einzuüben auf den Menschen neben mir mit seinen Ängsten, seiner Unzufriedenheit, seiner Verstrickung und Verzweiflung, auf den Menschen, in dem Christus mir begegnen will.

Und da kommt er mir plötzlich nahe, dieser Gott, auf den ich da schaue, auch mit seiner Kraft und Hilfe. So habe ich es jedenfalls schon mehrfach erlebt.
Der Prophet Elia in der Alttestamentlichen Lesung fand plötzlich Brot und Wasser neben sich und bekam Kraft, Tage und Nächte zu laufen. Sein Blick war dabei nicht mehr auf das Netz gerichtet, das Königin Isebel ihm gelegt hatte, sondern auf den neuen Auftrag Gottes.
Eine ähnliche Kraft habe ich manches Mal gespürt, wenn ich mich auf Menschen eingelassen habe, die mich brauchten. Von dieser Kraft sprach der Kollege, der beim Sterben seines Kirchenvorstehers ausharrte. Und ich denke, auch manche von Ihnen und Euch haben diese Kraft schon kennen gelernt.
Vielleicht hat diese Kraft bei dem einen oder der anderen auch in eine neue Freiheit hineingeführt.

Nutzen wir diese Passionszeit um Erfahrungen zu machen mit dem, was uns der Psalmbeter anbietet: Meine Augen sehen stets auf den Herren. Denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.

Dietrich Bonhoeffer bekennt in der letzten Strophe seines Gedichtes was er in seiner Haft erfahren hat:

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Amen.

Ablauf des Gottesdienstes:

Musik zum Eingang

Begrüßung

454 ,1-6 „Auf und macht die Herzen weit“

713 Psalm 25, im Wechsel gelesen
„Ehr sei dem Vater und dem Sohn“
178.2 Kyrie eleison
Gebet

AT-Lesung: 1. Kg.19,1-8

595,1-3 „Fürchte dich nicht“

Ankündigung des Evangeliums
„Ehre sei dir, Herre“
Evangelium: Luk . 9,57-62
„Lob sei dir, o Christus“

789.5„Oculi nostri ad Dominum Deum“
Predigt I
789.5„Oculi nostri ad Dominum Deum“
Predigt II
789.5„Oculi nostri ad Dominum Deum“
Predigt III
789.5„Oculi nostri ad Dominum Deum“

Glaubensbekenntnis

Abkündigungen

96,1-4 „Du schöner Lebensbaum“

178,12 Fürbitten-Gebet mit „Kyrie“
Vaterunser

661.5 Entlassung
Segen

Musik zum Ausgang

Annedore Wendebourg
E-Mail


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