Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reminiscere, 20. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt über Psalm 25, verfasst von Gerlinde Feine
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Psalm 25
Nach dir, HERR, verlanget mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich; laß mich nicht zuschanden werden, daß meine Feinde nicht frohlocken über mich. Denn keiner wird zuschanden, der auf dich harret, aber zuschanden werden die leichtfertigen Verächter.

HERR, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich! Denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich auf dich. Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner Güte willen.

Der HERR ist gut und gerecht; darum weist er Sündern den Weg. Er leitet die Elenden recht und lehrt die Elenden seinen Weg. Die Wege des HERRN sind lauter Güte und Treue für alle, die seinen Bund und seine Gebote halten.

Um deines Namens willen, HERR, vergib mir meine Schuld, die so groß ist! Wer ist der Mann, der den Herrn fürchtet? Er wird ihm den Weg weisen, den er wählen soll. Er wird im Guten wohnen, und sein Geschlecht wird das Land besitzen. Der HERR ist denen Freund, die ihn fürchten; und seinen Bund läßt er sie wissen.

Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen. Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend. Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich aus meinen Nöten! Sieh an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden! Sieh, wie meiner Feinde so viele sind und zu Unrecht mich hassen. Bewahre meine Seele und errette mich; laß mich nicht zuschanden werden, denn ich traue auf dich! Unschuld und Redlichkeit mögen mich behüten, denn ich harre auf dich.

Gott, erlöse Israel aus aller seiner Not!

Liebe Gemeinde –

In manchen Gegenden der USA gibt es den Brauch, zu besonderen Ereignissen im Leben einen sogenannten Quilt anzufertigen. Auf dem ersten Blick ist das eine große Steppdecke mit einer dekorativen Schauseite aus Patchwork, robust und farbenfroh, „ein Stück fürs Leben“, das man ganz vielseitig verwenden kann: als Tagesdecke oder als wärmenden Überwurf, als Wandschmuck oder als Krabbeldecke für den Nachwuchs. Aber dort, wo diese Quilts noch von Hand gemacht werden, da entstehen sie gemeinsam – mehrere Frauen sitzen beieinander, fügen die kleinen Stoffstücke aneinander, die sie vorher nach Farbe und Zweck ausgewählt haben, und dabei erzählen sie, welche Bedeutung das Design, das sich da zusammensetzen soll, für sie hat. Wichtig sind auch die Anlässe, für die diese großen Decken gefertigt werden: zur Hochzeit beispielsweise, oder für ein neues Haus, oder in Erinnerung an jemanden, der verstorben ist. Da wird dann vielleicht ein oft getragenes Kleidungsstück mit in die Handarbeit aufgenommen, und wenn man später einmal zufällig über dieses kleine Muster streift, dann weckt das Erinnerungen an diesen ganz bestimmten Menschen und an die Dinge, die man mit ihm erlebt hat.

Manchmal sind auch Wünsche mit hineingenäht, Ratschläge und Ermahnungen, was wir für wert halten, bewahrt zu werden, weitergeben wollen an die nächste Generation – anderes wird besser weggelassen, gelegentlich auch noch beim Nähen selbst verworfen, die Naht wieder aufgetrennt, die Anordnung der einzelnen Stücke nochmals verändert. Heraus kommen dann ganz individuelle, großartige Muster, keines wie das andere, alles Unikate, trotz der sich wiederholenden Formen, der geometrischen Muster, der kleinen Stoffbilder, die wir darin entdecken oder hineinlesen können. Was anfangs bunt zusammengewürfelt im Nähkorb lag, ist nun ein Stück Lebensgeschichte, nicht nur derjenigen, die den Quilt genäht hat, sondern auch der anderen, die ihr dabei halfen und zuhörten.

Ein wenig ähnelt die Entstehung unseres Psalms diesem Vorgang des Quiltens. Die alttestamentliche Forschung tut sich schwer damit, ihn einer bestimmten Gattung zuzuordnen, denn er schlägt viele verschiedene Töne an – zu viele, als dass man ihn in irgend eine bestimmte Schublade stecken könnte (wie das Wissenschaftler gerne machen) und ihn auf Anhieb zu verstehen (was wir uns ja wünschen, wenn wir ihn danach befragen, was er uns heute zu sagen hat). Für einen Gottesdienst, der Gottes Bund mit den Menschen feiert, taucht der Begriff des Bundes zu selten auf (V.10.14); für ein Klagelied des Einzelnen ist zu viel Lebensbejahendes enthalten – Lob und Dank für die Bewahrung, also auch kein Rachepsalm, der sich an der Vernichtung der Feinde freuen möchte. Kein Wallfahrtslied, kein Weisheitlicher Hymnus, kein Was-es-sonst-noch-alles-gibt… Dem König David wird der Psalm zugeschrieben, aber so recht will er dann doch nicht passen auf eine bestimmte Situation im Leben dieses frommen Staatsgründers. Da sind viele Möglichkeiten angesprochen, in denen ein Mensch Gottes Hilfe erbittet, Feinde von außen ebenso wie der Feind, der in mir selbst sitzt und mich mein Leben verfehlen lässt.

Und doch ist dieser Psalm in seiner Abfolge der unterschiedlichsten Bitten und Aussagen über Gott wohlgeordnet und schön – ein Formlied (das wenigstens kann man sagen), bei dem im hebräischen Text jeder Vers mit dem jeweils nächsten Buchstaben des Alphabets beginnt, von A bis Z oder besser von Aleph bis Tau, ein Gebets-ABC, und diese Anordnung gibt dem Text, der beim ersten Hinhören so zusammengewürfelt wirkt wie ein Patchwork, sein eigenes, unverwechselbares Muster, aus dem einzelne Details besonders hervortreten.

Da erkennen wir zunächst das Bild vom Weg: Die Wege des Herrn sind lauter Güte und Treue, heißt es da zB.: Wer ist der Mensch, der Gott fürchtet? Er wird ihm den Weg weisen, den er gehen soll. – Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! bittet der Beter und meint damit die 10 Gebote und alles, was dazu gehört an Weisungen und Regeln für ein Leben in Gottesfurcht und Nächstenliebe, das den Fremden achtet und ihm nicht von vorneherein misstraut, das nicht ausgrenzt, sondern bewahrt, das mitleidet mit Witwen und Waisen und allen Geschöpfen, die unsere Hilfe und Fürsorge brauchen.

Das ist der „rechte Weg“, der Weg Gottes, auf dem der Beter bleiben möchte, weil er weiß: Nur dort ist er sicher. Und gleichzeitig merken wir wohl, es ist nicht unbestimmte Angst, die ihn so reden lässt, sondern Erfahrung. Er denkt an seine „Jugendsünden“ (und das sind ja nicht immer solche Bagatellen, wie die Redensart uns glauben macht), er erinnert sich daran, wie es ihm ergangen ist, wenn er sich vom rechten Weg entfernt hat, aus Leichtsinn oder Gedankenlosigkeit, vielleicht auch aus Trotz und Selbstüberschätzung (das erfahren wir nicht), aber eben: Er hat sein Ziel aus den Augen verloren, und das soll ihm nicht wieder geschehen.

Nun bittet er um Vergebung. Um einen neuen Anfang. Um einen festen Halt. Und er hat nichts, was für ihn spräche, nichts, was er vorweisen oder womit er etwas einfordern könnte. Er wagt es nicht einmal, zu sagen, woher seine Schuld rührt, mit der er nun „inmitten seiner Feinde“ steht, und da geht es ihm wie einer ganzen Generation junger Menschen, die am Ende des letzten Weltkrieges in Deutschland dastand, besiegt von außen und beschämt von innen heraus über das, was nun offen zutage trat an Verbrechen und Schuld, auch an Mitläufertum und Gedankenlosigkeit, wovon kein Persilschein reinwaschen konnte und was auch die Trauer und den Schmerz nicht wegnehmen konnte um die verlorene Jugend und die vielen Toten. Bis heute halten diese Gefühle an bei denen, die es erlebt haben – wenn wir in diesen Tagen der Zerstörung Dresdens vor 60 Jahren gedenken, erzählen die Zeitzeugen eindrücklich davon. So wie sie steht nun der Beter des Psalmes vor Gott und bittet: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner Güte willen.

Da kommt kein Verweis auf eigene Ruhmestaten (wenigstens ein König David, den wir uns ja in der Rolle des Beters vorstellen sollen, hätte da doch einiges zu sagen). Vielmehr erinnert der, der da (stellvertretend für uns) spricht, Gott an dessen Selbstverpflichtung, an seine Zusagen gegenüber Noah und Abraham und Mose, an seine Treue, und an die Hoffnung, die er in den Menschen wachgerufen hat.

Und wenn wir auf uns und unser Leben sehen, dann stimmen wir da mit ein: Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Denke nicht an das, was zwischen uns steht, sondern denke an das, was du selbst versprochen und zugesagt hast, weil dein Name, Gott, Barmherzigkeit ist und dein Wesen unendliche Güte. So legen wir das Leben und die Zukunft unserer Kinder in die Hand Gottes, so wie wir auch das Leben und die Vergangenheit unserer Verstorbenen vor ihn bringen und so, wie wir einmal selbst vor seinem Thron stehen werden, wenn die Zeit da ist: Gedenke doch dann, Herr, unser nach deiner Barmherzigkeit und Güte!

Und so wie die vielen verschiedenen Bitten des Psalms durch die Reihenfolge der Buchstaben im Alphabet ihre Ordnung finden, so fügt sich, mit Gottes Hilfe und durch sein Gedenken, aus dem vielen flickenhaften Material an Erfahrenem und Erlebten, das unser Leben gewesen ist, ein wunderbares Muster, das uns schmückt und wärmt, wenn die Kälte des Todes und der Gottesferne nach uns greifen wollen. Wie so eine besondere, liebevoll gewirkte Decke, ein Amerikanischer Quilt, liegt es dann da. Denn Gott gedenkt der Menschen, die sich auf ihn berufen, gerade derer gedenkt er, die nichts vorzuweisen haben, die wissen, wie es um sie steht, aus lauter Güte und Barmherzigkeit.

Und er gedenkt derer, die gar nicht wissen, wie ihnen geschieht, die sich umgeben sehen von einer Gefahr, die sie nicht greifen können, die zu Schaden gekommen sind, ohne recht zu fassen, wie und warum. Als Zeichen des Gedenkens sind in den letzten Jahren zwei ganz besondere Quilts entstanden (und verändern sich weiter), der AIDS-Memorial-Quilt für die vielen Tausend Tote, die die Immunschwächekrankheit seit ihrem ersten Auftreten Mitte der 80er Jahre gefordert hat, und der National Tribute Quilt, der an die Toten des 11.September 2001 erinnert. Beide Quilts kann man zB im Internet ansehen, sie gehen aber auch auf Reisen, werden ausgestellt und laden ein zum Gedenken und zum Gebet. Zusammengesetzt sind sie aus lauter kleinen Feldern, die von den Angehörigen der Verstorbenen entworfen und gefertigt wurden, ganz individuell, mit persönlichen Erinnerungsstücken, mit Liebe und Sorgfalt zusammengesetzt aus dem, was als bemerkenswert angesehen wurde, eigenwillig, bitter manchmal und auch fragmentarisch, und doch schön und bunt wie das Leben selbst, das sie miteinander geteilt haben.

Hinter jedem Feld verbergen sich Ereignisse, Träume und Sehnsüchte eines ganzen Lebens, so wie wir in jedem Vers dieses so zusammengewürfelten und aus vielen Anlässen und Umständen geformten Psalms uns selbst und unsere eigenen Bitten, unser Leben und unsere Hoffnung hineinlesen und vor Gott bringen können. Und weil er so reich ist an Erfahrung und doch so fest gefügt in seiner Form als Gebets-ABC, deshalb hat er gleich zwei Passionssonntagen ein Motto und einen Namen geschenkt: Reminiszere – Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit – und Okuli – Meine Augen sehen stets auf den Herrn, der mir den rechten Weg weist und meiner liebevoll gedenkt, der „meinen Fuss aus dem Netz zieht“ und mir Leben ermöglicht vor seinem Angesicht.

So ist dieses Gebet in all seinen Facetten wirklich wie ein Amerikanischer Quilt, zusammengesetzt aus einzelnen Erfahrungen, Hoffnungen und Wünschen, mit liebevollen Details und großen Mustern, dabei zusammengehalten von der Bitte um Gottes Gedenken, das unser Leben in Ewigkeit wärmt, schützt und schmückt: Gott aber gedenke unser, er gedenke derer, die uns vorausgegangen sind und er gedenke der Generationen, die nach uns kommen werden – und tue uns nach seiner großen Barmherzigkeit und Güte! Amen.

Pfarrerin Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
D-72131 Ofterdingen
Tel. 07473-6334
Fax 07473-270266
gerlinde.feine@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)