Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Reminiscere, 20. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt über Psalm 25,6, verfasst von Jan Greso
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"Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind."

Im ersten Augenblick kann es scheinen, als ob der Mensch, der diese Worte sagt, den Herrn an etwas erinnern möchte, was er, der Herr, vergessen hat, in diesem Fall: ihn an seine Barmherzigkeit und Güte erinnern. So ist das freilich nicht gemeint – das wäre ein grober Anthropomorphismus, eine zu menschliche, unerlaubt menschliche Vorstellung von Gott. Der Sinn dieses Satzes – wenn wir ihn im Kontext des ganzen Psalmes lesen – ist eine dringende Bitte um die Hilfe Gottes.

Der Mensch, der diese Bitte ausspricht, ist von mehreren Seiten bedrängt. – Er ist von vielen Feinden umgeben, die ihn hassen. – In verschiedenen Situationen ist er nicht weise genung, um sich für den richtigen Weg zu entscheiden. – Er kann nicht die Sünden in seiner Vergangenheit („die Sünden meiner Jugend“) vergessen. – Er ist einsam, verlassen. – Die Angst erfüllt sein Herz. – Sogar sein Leben ist bedroht. – Er weiss von den Versuchungen, die auf ihn lauern und er weiss zugleich, dass er zu schwach ist, um ihnen zu widerstehen. – Nicht nur seine persönliche Not ist dies alles, sondern er betet für die ganze Gemeinschaft, in der er lebt. – So ist die Situation beschrieben, aus der er ruft: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.

Warum erwähnt der Beter gerade die Barmherzigkeit und die Güte Gottes? Um zu zeigen, dass wenn er um die Hilfe Gottes bittet, kann er diese Hilfe nicht beanspruchen als etwas, auf das er ein Anrecht hat. Er weiss ja von seinen Sünden. Im folgenden Vers (27) ist das ganz eindeutig ausgesprochen: „ Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, HERR, um deiner Güte willen!“ Derselbe Gedanke ist in diesem Psalm auch mit den Worten ausgedrückt: „Um deines Namens willen, HERR, vergib mir meine Schuld, die so groß ist!“. „Um deines Namens willen“: Nur in dir ist der Grund, nur du bist der Grund der Vergebung, die ich erbitte. Du, dein Wesen – das ist die letzte Begr ündung und Erklärung dessen, dass es Vergebung geben kann. Hinter diese Begründung ist es nicht möglich weiterzugehen. Um diese grosse Vergebung bittet der Mensch, der hier betet.

Genauso ist es auch mit unseren Gebeten um Vergebung. Unsere Verdienste helfen uns nicht, auf unseren Verdiensten können wir unsere Hoffnung nicht bauen. Wenn uns unsere Sünden und Schuld bedrücken und wir bei uns selbst keine Hilfe finden können, die Barmherzigkeit und die Güte Gottes ist die einzige Zuflucht, wo wir die wirkliche und wirksame Vergebung erlangen können.

Die Barmherzigkeit und die Güte Gottes ist nicht nur die Begründung und Erklärung der Vergebung der Sünden, sondern bedeutet noch mehr. Der barmherzige und gütige Gott ist fähig und willig, sich in die äussere und innere Situation des leidenden, sich ängstigenden Menschen hineinzudenken – wieder eine zu menschliche Weise, von Gott zu sprechen, aber anders können wir nicht – und aus diesem tiefen Erkennen heraus ihm zu helfen. Wir kennen zwar unsere Not, aber in vielen Fällen verstehen wir sie nicht tief genug. Ein grosser Trost ist es, dass der barmherzige und gütige Gott uns und unsere Not, unsere Probleme vollkommen versteht und uns helfen will. Auch um diese Tätigkeit der Barmherzigkeit und der Güte Gottes bittet der Mensch im Psalm und wir mit ihm.

Wie ist der Beter des Psalmes überhaupt dazu gekommen, dass es möglich ist, um die Barmherzigkeit und die Güte des Herrn zu bitten? Woher hat er die betreffende Information bekommen? Er selbst beantwortet diese Frage: „ Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ „Von Ewigkeit her“ – was heisst das? Diese Worte weisen auf die eigenen Erfahrungen des Beters in seiner Vergangenheit und in der Vergangenheit seines Volkes. Die Psalmen sind voll von Danksagung für das, was der Herr für die Einzelnen und für das ganze Volk getan hat. Je mehr man davon weiss, desto grösser kann die Zuversicht auch für die Zukunft sein.

Wissen wir genug davon, was Gott für uns persönlich, was er für unsere Kirche, für unser Volk getan hat? Oder vergessen wir nur zu leicht seine Wohltaten? Haben wir erfahren, dass auch viel davon, was uns im Tun Gottes zuerst als rätselhaft erschien, sich nach einem Abstand der Zeit als sinnvoll gezeigt hat? Es ist nötig, dass wir auch uns selbst sagen: Gedenke, meine Seele, an die Barmherzigkeit und die Güte des Herrn. Wie soll man das tun, dieses Gedenken? Es gibt eine wirkliche, authentische Weise, dies zu tun: Gott für alles danken. Gott regelmässig, jeden Tag danken – das ist eine ausgezeichnete Methode, sich an viele Wohltaten Gottes erinnern, die wir schon empfangen haben. Inmitten eines solchen Dankgebets kann uns zugleich geschenkt werden, verschiedenes in unserer Vergangenheit auf eine ganz neue Weise zu sehen und zu verstehen. Aufgrund eines solchen Gedenkens kann man dann mit voller Zuversicht beten: „Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“

„...die von Ewigkeit her gewesen sind“. Es geht nicht nur um die Vergangenheit, die wir im Ged ächtnis haben und die unsere Vorfahren erlebt haben. Es geht um viel mehr: Die Ewigkeit Gottes ist durch die Barmherzigkeit und die Güte gekennzeichnet. Das gehört zu seinem Wesen, das ist sein Wesen. Wenn man von diesem Geheimnis des Wesens Gottes weiss und es immer im Bewustsein trägt, kann man nur in grosser Ehrfurcht diese Bitte aussprechen. Bei diesem Gebet sind wir so nahe Gott wie Jesaja bei sener Berufung (Jes 6).

Ist dieses Gebet erhört worden? Ja, viele persönliche Erfahrungen zeugen davon. Aber ausserdem müssen wir an eine besondere Erhörung denken: die Erhörung, die uns Gott in seinem Sohn Jesus Christus gegeben hat. In ihm sind alle einzelnen Bitten dieses Psalmes erhört worden, Bitten, die in unserem Text zusammengefasst sind: „ Gedenke, HERR, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.“ – In seinem Leben, Wort, Leiden, Auferstehung hat er klar und eindeutig gezeigt, dass die Barmherzigkeit und die Güte das Wesen seines himmlischen Vaters sind, dass seine Barmherzigkeit und Güte allen angeboten sind. – Er hat vielen in seiner Zeit die erneuernde, schöpferische Vergebung der Sünden gegeben und in seinem Kreuzestod die Rechtfertigung zustande gebracht. – Wer an ihn glaubt, braucht nicht mehr allein zu sein. – Er zeigt uns den richtigen Lebensweg, da er der Weg, die Wahrheit, das Leben, das Licht der Welt ist. – Wenn uns auch die Feinde umgeben, wir brauchen nicht uns zu fürchten, weil uns nichts aus seiner Hand reissen kann, und nichts uns von der Liebe Gottes scheiden kann, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. – Er kann uns helfen, in unseren Versuchungen fest zu bleiben, da er selbst durch Versuchungen durchgegangen ist und in allen ist er Sieger geblieben und auch uns kann er zum Sieg verhelfen.

Wenn wir das alles auch jetzt in der Passionszeit bedenken, wollen wir Gott für seine Barmherzigkeit und Güte danken: „ Lobe den HERRN, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den HERRN, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat: der dir alle deine Sünde vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.“ Amen.

Dr. Jan Greso
greso@fevth.uniba.sk


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