Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Invokavit, 13. Februar 2005
Predigtreihe "Psalmen der Passionszeit"
Predigt zu Psalm 91, verfasst von Jochen Cornelius-Bundschuh
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So spricht der Herr: Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in der Not.

1 Wer unter dem Schirm des Höchsten sitzt und unter dem Schatten des Allmächtigen bleibt,
2 der spricht zu dem HERRN: Meine Zuversicht und meine Burg, mein Gott, auf den ich hoffe.
3 Denn er errettet dich vom Strick des Jägers und von der verderblichen Pest.
4 Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln. Seine Wahrheit ist Schirm und Schild,
5 dass du nicht erschrecken musst vor dem Grauen der Nacht, vor den Pfeilen, die des Tages fliegen,
6 vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die am Mittag Verderben bringt.
7 Wenn auch tausend fallen zu deiner Seite und zehntausend zu deiner Rechten, so wird es doch dich nicht treffen.
8 Ja, du wirst es mit eigenen Augen sehen und schauen, wie den Gottlosen vergolten wird.
9 Denn der HERR ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht.
10 Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird sich deinem Hause nahen.
11 Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
12 dass sie dich auf den Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
13 Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten.
14 «Er liebt mich, darum will ich ihn erretten; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen.
15 Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.
16 Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.»

Liebe Gemeinde,

ich bin in Fulda aufgewachsen. Am Aschermittwoch kamen meine katholischen Mitschülerinnen und Mitschüler eine Stunde später in den Unterricht und hatten ein schwarzes Kreuz auf der Stirn, das Aschenkreuz. Von Aschermittwoch bis Ostern sollte mein Freund keine Süßigkeiten mehr essen; bei den Nachbarn gab es zumindest die Woche über kein Fleisch. Die Fastenzeit hatte begonnen.

Unsere Religionslehrerin erklärte uns, dass wir Evangelischen nicht fasten. Genauso wenig wie wir normalerweise Karneval feiern. Für uns beginnt am Aschermittwoch nicht die Fastenzeit, sondern die Passionszeit, hat sie uns erklärt.

Der Unterschied war für mich schwer zu verstehen: irgendwie ging es darum, dass die Katholiken fasten sollten und sich Zeit dafür nehmen, darüber nachzudenken, was alles falsch lief in der Welt. Und natürlich vor allem auch, was sie selbst falsch machten und demnächst anders machen wollten. Wir dagegen sollten nicht fasten, Buße tun und beichten. Wir sollten uns mit der Leidensgeschichte von Jesus beschäftigen.

Damals schien mir der katholische Weg klarer und attraktiver. Schließlich gab es so viel, was falsch lief. Bei mir und bei anderen. Und wäre es da nicht gut, das alles mal offen auf den Tisch zu legen und dann neu anzufangen? Was hilft dagegen der evangelische Blick auf und die Erinnerung an den Leidensweg von Jesus?

I

Der heutige Sonntag, der erste der Passionszeit, trägt den Namen Invokavit. Seltsam und fremd klingt das, wie die Namen der folgenden Sonntage auch: Reminiscere, Okuli, Lätare, Judika. Dabei erklären sich diese Namen ganz einfach. An jedem Sonntag wurde – genauso wie heute – ein Psalm gebetet, aber auf eine etwas andere Weise wie heute. Es wurde nämlich vorweg ein Kehrvers gesungen, ein Refrain, der manchmal auch zwischen den einzelnen Versen und auf jeden Fall am Schluss wiederholt wurde. Das erste Wort des Psalms, das Wort, mit dem der Kehrvers begann, gab dem Sonntag seinen Namen.

Invokavit, er ruft mich an! Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.

Damit beginnt die Passionszeit, mit diesem ‚Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören.’ Die Überschrift über diesen Sonntag und die erste Woche, in der wir auf Karfreitag und Ostern zugehen, ist also ein Zuspruch. Kein Ruf zur Umkehr! Keine Kritik! Kein: Du bist nichts wert, du hast so viel falsch gemacht, du musst dich endlich ändern!

Am Anfang der Passionszeit steht die Zusage Gottes: Wer mich anruft, den werde ich erhören. Bittet, so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgetan!

II

Ja, es gibt viel Not. Vieles läuft falsch. Wer zwischen allem, was es zu tun und zu erleben gibt, auch mal innehält, entdeckt das sofort. Warum hat einer mit 45 keine Chance mehr eine Arbeit zu finden? In die Schule gegangen, Mittlere Reife gemacht, Zahntechniker gelernt, 25 Jahre gearbeitet – dann kommt die Gesundheitsreform, die Menschen haben weniger Geld, um es für ihre Zähne und ihre Gesundheit auszugeben, die Firma muss Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen, Arbeitslosigkeit. Mit 45 beim alten Eisen! So vieles läuft falsch! Wir müssen umkehren, als einzelne und als Gesellschaft. Es darf nicht sein, dass die Aktienkurse steigen, wenn ein Unternehmen ankündigt, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu entlassen. Etwas für die Gesellschaft zu tun und Arbeitsplätze zu schaffen, das muss sich lohnen, nicht Arbeitsplätze zu vernichten.

Ja, es läuft viel falsch und es ist gut innezuhalten. Zu überlegen, kann ich im kleinen etwas ändern. Kann ich anfangen, die Welt zu verbessern? Jesus hat es ja vorgemacht.

Teilen verbindet heißt die Fastenaktion der katholischen Kirche in diesem Jahr. Wenn ich am Tag einen Euro spare, den ich sonst vielleicht für Süßigkeiten oder Alkohol ausgegeben hätte, kann ich damit AIDS-Waisen in Afrika helfen zu überleben. Teilen verbindet! Fasten erinnert mich daran, was wirklich wichtig ist im Leben! Dass Gott will, dass Gerechtigkeit herrscht auf der Erde.

III

Doch die Gerechtigkeit ist eine heikle Sache. Jesus hätte in der Wüste damals aus Steinen Brot machen können. Alle wären satt geworden, die vielen Armen, die es damals gab, wie es sie heute gibt. Er hätte die Herrschaft übernehmen können, den Frieden mit Macht durchsetzen können, so wie wir das mit unseren Armeen heute versuchen in Afghanistan oder im Irak. Das alles hätte ihm der Teufel ermöglicht.

Aber Jesus weigert sich. Nein, es geht nicht nur um Brot. Gerechtigkeit gibt es nur, wenn Gottes Wort unter uns laut wird – und von Freiheit und Liebe erzählt, von der Kraft, die in den Schwachen mächtig ist, vom Kind in der Krippe, vom Mann am Kreuz. Nein, eine Weltherrschaft, die auf die Allmacht von Menschen setzt, wird keinen Frieden und keine Sicherheit bringen. Das ist bloß eine Illusion. Wer meint, er könnte alles tun, was ihm großartig dünkt und von der Zinne des Tempels springen, es wird schon gut gehen, der versucht Gott, der benutzt ihn, macht sich ihn dienstbar.

In allem, was wir tun, steckt diese Versuchung. Dass wir uns auf uns selbst verlassen, dass wir unseren Weg selbst in die Hand nehmen, dass wir meinen, unsere Gesundheit, unser Erfolg, die Freundlichkeit und die Liebe, die wir erfahren, - dass wir meinen, all das uns selbst und unserer Anstrengung zu verdanken – und die anderen, denen es schlechter geht für ihr Schicksal verantwortlich machen: selber schuld.

Das ist nicht so! Davon erzählt die Geschichte von der Versuchung Jesus. Es ist Gott, der uns das schenkt! Es ist Gott, der mich am Leben hält und mich behütet, beschirmt, beschützt, wie es im Psalm 91 heißt. Es ist mein Gott, auf den ich hoffe, auch und gerade in der Not.

Selbst dann, wenn die Diagnose nur noch wenige Jahre lässt, es ist mein Gott zu dem ich schreie und bete, den ich anklage, bei dem ich bitte und bettle. Mein Gott, meine Burg und mein Fels, auf den ich hoffe. Das ist kein magischer Schutz vor Arbeitslosigkeit, vor Not oder Krankheit, nicht einmal vor dem Tod, aber es ist die Würde meines Lebens: der Glaube, das Vertrauen, dass Gott mich liebt und mein Leben will. Und es zum Schluss zu sich nimmt. Das ist es, was mich durchträgt, auch durch schwierige Zeiten: Gott, meine Zuversicht und meine Burg, auf die ich traue. Das ist die Überschrift, unter der wir in die Passionszeit gehen.

IV

„Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.“ Das Gebet ist die Lebensform, die diesem Vertrauen entspricht. Wer betet, gibt sich in die Hand Gottes und findet Zuflucht unter seinen Fittichen. Wer betet, findet Gehör und ist nicht allein, weil Gott hört und andere hören lässt, so dass ich Schutz und Schild finde vor den bösen Pfeilen, die geflogen kommen.

Wer betet, verliert auch in der Not nicht seine Würde. Denn die Wasser und die Schlammmassen werden nicht über ihm zusammen schlagen. Der Kopf bleibt oben, richtet sich hin auf Gott, meine Zuversicht und meine Burg, mein Fels, auf den ich baue.

Wer betet, teilt, teilt sich mit, teilt mit Gott und mit anderen – und Teilen verbindet. Wer betet, muss sich nicht selbst auf Kosten anderer stark machen, es ist Gott, der zu Ehren bringt. Wer betet, muss sich aber auch nicht klein machen, um sich vor Verantwortung zu drücken. Wer betet, wird frei zu tun, was nötig und möglich ist. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wer betet, begegnet Engeln, die Steine aus dem Weg räumen – und wird vielleicht selbst zum Engel, der andere ein Stück des Wegs trägt, der stärkt und ermutigt.

14 So spricht der Herr: «Er liebt mich, darum will ich ihn erretten; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen.
15 Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören; ich bin bei ihm in der Not, ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.
16 Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm zeigen mein Heil.»

Amen.

Direktor Priv.-Doz. Dr. Jochen Cornelius-Bundschuh
Evangelisches Predigerseminar
der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck
Gesundbrunnen 10
34369 Hofgeismar
05671-881271
e-mail: cornelius-bundschuh@ekkw.de

 


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