Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

2. Sonntag nach dem Christfest, 2. Januar 2005
Predigt über
Johannes 1, 43-51, verfasst von Bernd Giehl
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Wie geht es Ihnen? Sind Sie froh, dass Weihnachten vorbei ist? Keine Sorge, ich will Weihnachten und die Art wie wir es feiern, nicht schlecht machen. Aber ich weiß auch, dass viele Menschen vor dem großen Fest stöhnen, weil so viel zu tun ist. Geschenke sind zu kaufen, Karten zu schreiben, das Fest ist zu organisieren, Weihnachtsfeiern sind zu besuchen, die Besuche bei den Lieben sind zu machen, und das alles neben der eigentlichen Arbeit, die sich ja leider auch nicht von selbst erledigt. Und hinterher kommt gleich Silvester, das meist auch größer gefeiert wird. Und schon wieder die Frage: Wen lade ich ein? Was koche ich? Was muss ich dafür einkaufen?

Da gerät mancher schnell in Hektik. Und ist hinterher richtig froh, wenn alles vorbei ist. Die besinnliche Advents- und Weihnachtszeit – ob es sie je gegeben hat?

Na ja, ist ja auch egal. Neues Spiel, neues Glück, möchte man beinah sagen. Ein neues Jahr ist angebrochen; mal sehn, was es uns bringt.

II

Und jetzt würde ich gern den Nathanael fragen: Wie siehst du das alles denn so? Ich sehe ihn direkt vor mir, die blaue Baskenmütze auf dem Kopf, die Pfeife im Mund, ganz der Typ des skeptischen Intellektuellen. Ein Mann, der bedächtig spricht, der seine Worte genau überlegt.

So jedenfalls stelle ich ihn mir vor, diesen Nathanael, der schließlich zum Nachfolger Jesu wird. Schön wie er hier mit einem einzigen Satz beschrieben wird. Einem Satz, über den man womöglich sogar hinweg liest, wenn man nicht genau darauf achtet. Es ist die Antwort Jesu auf die Frage, woher der ihn kenne, die mir den Nathanael sympathisch macht. „Bevor Philippus dich rief, als du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.“ Wie gesagt: ein einziger Satz, und doch beschreibt er diesen Menschen recht genau. Da hat einer tatsächlich Zeit. Zeit zum Nachdenken. Zeit, die er nicht gleich ins nächste Projekt investiert. Da sitzt einer einfach nur unter einem Feigenbaum, lässt sich die Sonne auf den Kopf scheinen und tut – nichts. Vermutlich würde er sich auch von der Weihnachtszeit nicht unter Druck setzen lassen.
So einer imponiert mir. Und ein bisschen beneide ich ihn auch.

III

Manchmal ein bisschen Zeit zum Nachdenken haben. Es muss ja nicht gleich wieder Zeit sein, die ich für meinen Beruf verwende. Oder meinetwegen für meinen Glauben. Obwohl ich ja andererseits meine, dass das eine durchaus etwas mit dem Anderen zu tun hat.

Und so behaupte ich nun einfach einmal ganz frech: Für seinen Glauben muss man sich Zeit nehmen. Vielleicht nicht immer und überall, aber hin und wieder eben doch.

Nathanael jedenfalls würde mir entschieden zustimmen. Nathanael, der Mann, der unter dem Feigenbaum sitzt und nachdenkt. In einer Auslegung dieses Textes habe ich gelesen, mit dem Sitzen unter dem Feigenbaum werde ein jüdischer Gelehrter gezeichnet. Also ein Mann, der über den Glauben nachdenkt. Und der beim Nachdenken tief in ihn eindringt.

Aber für mich jedenfalls wird hier auch noch eine andere Figur sichtbar. Eine, die noch viel geheimnisvoller ist als dieser Nathanael. Es ist „Johannes“, der Evangelist, von dem wir auch heute noch nichts wissen. Denn auch Johannes ist einer, der tief über den Glauben nachdenkt. Der tiefer schürft als die anderen drei Evangelisten. Das spürt man, wenn man dieses Evangelium liest, auf jeder Seite. Merkwürdig, dass er es hier schafft, eine scheinbar einfache Geschichte zu erzählen, die nicht von tief schürfender Symbolik überfrachtet ist.

Vielleicht hat Johannes sich – wie manche Maler der Renaissance oder des Barock in diesen Nathanael hineingezeichnet. Interessanterweise taucht dieser Jüngername nur im Johannesevangelium auf; die anderen Evangelisten kennen ihn nicht. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Johannes sich hier selbst porträtiert hat.

Aber dies nur am Rande. Im Folgenden möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, was Glaube eigentlich ist.

IV

Glauben ist Vertrauen auf einen, der mich hält. Vielleicht kann man den christlichen Glauben so beschreiben. Glauben ist das Vertrauen darauf, dass es etwas gibt, was mehr ist als die Summe unserer alltäglichen Erlebnisse. Dass es da eine Dimension gibt, die über das hinausgeht, was ich an Schönem und an Schwerem in meinem Alltag erlebe. Dass es da eine Macht gibt, die mich hält, auch wenn ich am Boden zerstört bin. Etwas, was mich trägt, auch in Zeiten von Krankheit oder Trauer, auch dann wenn andere an mir zweifeln oder schlimmer noch – wenn ich an mir selbst zweifle. Glauben ist das Vertrauen darauf, dass mein Leben in einer größeren Dimension geborgen ist.

So einfach ist das. Und doch auch so schwierig. Denn dieser Glaube ist ja immer gefährdet. Er ist gefährdet durch die Nachrichten aus der Zeitung. Er ist immer wieder gefährdet durch schlechte Erfahrungen, die wohl jeder von uns macht. Aber er ist eben auch dadurch gefährdet, dass wir uns eben nicht mal schnell mit Gott zum Nachmittagskaffee verabreden können, wie wir das mit einem Freund tun. Dass wir auch nicht mit ihm streiten können, wenn wir das Gefühl haben, er habe uns im Stich gelassen. Und schließlich und endlich ist uns auch die Unmittelbarkeit verloren gegangen, mit denen frühere Generationen die biblischen Texte gelesen haben. Immer wieder und immer wieder neu müssen wir uns mit ihnen auseinandersetzen um ein neues Verhältnis zu ihnen zu gewinnen.
Nicht zuletzt deshalb ist die Beschäftigung mit dem eigenen Glauben so wichtig.

V

Ob es Ihnen aufgefallen ist? Dass der Name Christus in dieser Beschreibung nicht vorkam? Immerhin glauben wir ja nicht an irgendeinen Gott oder meinetwegen irgendeine göttliche Macht, sondern an den Vater Jesu Christi, der sich zuerst den Juden offenbart hat, als er das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten führte und dann später noch einmal in Jesus, den seine Anhänger den Christus nannten, den Messias, was auf Deutsch übersetzt, „Heiland“ heißt, also den, der Menschen heil macht.

Womit wir also wieder bei unserem Predigttext wären. Denn auch in diesem Text geht es ja nicht (zuerst) um den Glauben an eine göttliche Macht, die uns hält (obwohl dieser Gedanke natürlich immer im Hintergrund steht) sondern darum, wie dieser Gott konkret erfahrbar wird.

Konkret wird das in der Begegnung zwischen Philippus und Nathanael. Philippus erzählt Nathanael, er habe den Messias gefunden. (Den „von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn aus Nazareth“ V 45). Worauf Nathanael nur abschätzig antwortet: „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ Nathanael ist einer, der sich in der jüdischen Bibel gut auskennt, und das Dorf Nazareth ist ihm dort nicht begegnet. Also schließt er messerscharf, wenn einer aus Nazareth kommt, kann er vielleicht alles Mögliche sein, aber jedenfalls nicht der Messias. Am Ende ist er dann aber doch überzeugt, dass Philippus Recht hat, und so sagt er: „Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel.“

Versuchen wir doch einmal, diese Geschichte in unsere Zeit hinein zu übersetzen. Menschen unserer Zeit können ja vielleicht an einen Gott glauben, der für uns da ist. Aber mit einem Menschen, der zugleich Gottes Sohn sein soll, der womöglich zwei Naturen in sich haben soll, nämlich eine göttliche und eine menschliche Natur, damit tun sie sich schwer. Das ist ja wirklich schwer oder überhaupt nicht mit dem Verstand zu begreifen. Gottes Sohn, der vom Himmel kommt und Mensch wird; wie soll man sich das vorstellen? Da hatten es die Menschen früherer Zeiten, die noch nicht mit der Aufklärung in Berührung gekommen waren, einfacher.

Aber auch hier gibt uns diese Geschichte einen entscheidenden Hinweis. „Du musst sehen lernen“, sagt sie. Und insofern war meine Bemerkung von vorhin, es handle sich um eine scheinbar einfache Geschichte, wie man sie vom Johannesevangelium eben nicht erwarte, nicht ganz richtig. Auch diese Geschichte hat eine symbolische Ebene. Auf die werde ich jetzt zu sprechen kommen.

VI

Um das Sehen geht es in dieser Geschichte. Das ist zunächst einmal gar nicht so einfach zu verstehen. Kann denn nicht jeder sehen, der nicht gerade blind ist? So könnte man fragen. Aber schließlich haben wir hier einen Text des Evangelisten Johannes vor uns. Und da ahnen wir schon: Hier geht es um ein anderes Sehen, als das, was wir normalerweise so bezeichnen.

In einem Religionsbuch von Hubertus Halbfas habe ich einmal eine wunderschöne Zeichnung zu diesem Thema gesehen. Da kniet ein junger Mann in einem weiten Mantel auf dem Boden und schaut durch ’s Firmament. Um ihn herum sind die Sterne, die wie der Anfang eines Regenbogens gezeichnet sind, aber er schaut hindurch. Hindurch in eine andere Welt, in die man mit keinem Fernrohr und keinem Teleskop schauen kann. Selbst wenn es in Entfernungen hineinreicht, die wir nur in Milliarden Lichtjahren ausdrücken können. Dieser Mensch schaut durch unsere Welt hindurch in eine andere Welt.

Von diesem Sehen ist auch in unserem Text die Rede. Das fängt schon mit der Antwort Jesu an Nathanael an, als der ihn fragt, woher er ihn kenne. Woraufhin Jesus sagt: „Ehe dich Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, sah ich dich.“ Jesus hat nicht nur die Gestalt des Nathanael gesehen, was ja allein schon einem Wunder gleichkäme, sondern er hat zugleich auch den Charakter eines Menschen erkannt, dem er offensichtlich noch nie begegnet ist. Und damit öffnet er dem skeptischen Nathanael die Augen. Er sieht, was dem äußeren Auge verborgen bleibt; er sieht in Jesus den, auf den die Gläubigen Israels so lange gewartet haben: den Messias. Er sieht ihn mit dem Herzen.

Und so ist wohl auch der Schluss dieser Erzählung zu verstehen. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herab fahren über dem Menschensohn.“ Auch dies darf man nicht wörtlich nehmen und sich fragen, wo denn diese Vision im Johannesevangelium geschildert werde. Gemeint ist einfach nur: Die Jünger werden die Einheit Jesu mit Gott noch viel tiefer sehen.

Davon wird schließlich das ganze Evangelium handeln. Vom „Sehen“ Jesu und ebenso auch vom Nicht Sehen des Christus. Es geht darum in ihm nicht nur den Menschen zu sehen, selbst dann nicht, wenn er Wunder tut. Sondern den, der so nah bei Gott ist wie sonst keiner. In dieses „Sehen“ muss man sich einüben. Es kommt nicht von alleine.

Bernd Giehl
Kirchspiel 34
65205 Wiesbaden
E-Mail: bernd.giehl@t-online.de

 


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