Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Heilig Abend, 24. Dezember 2004
Weihnachtspredigt
, verfasst von Elof Westergaard (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Stimmen der Weisen

Der Abenteurer und Kaufmann Marco Polo, der im 13. Jahrhundert lebte, kam auf seiner langen Reise von Venedig nach China durch die Stadt Saba in Persien. „Denke daran, die drei Weisen zu besuchen. Ihr Grab liegt in Saba.“ Das hatte sein alter Lehrer in Venedig zu ihm gesagt, als er die Reise antrat.

„Wo finde ich das Grab, der drei Weisen“, fragte Marco Polo in Saba einen jungen Mann, der Feigen verkaufte. Der zeigt aus der Stadt hinaus. Marco Polo ging in die angegebene Richtung, aber er musste noch einmal fragen, ehe er vor einem kleinen grünen Park stand mit einem kuppelförmigen Gebäude in der Mitte des Gartens. Die weisen Männer sollten darin liegen. Marco Polo ging durch die Pforte in den Garten. Die Bäume waren voller Vögel, und in den kleinen Teichen mit Springbrunnen schwammen viele bunte Fische. Eine ältere Frau saß mit ihrem Enkelkind auf einer Bank draußen vor dem kleinen Haus. Man bestätigte Marco, dass die drei Weisen an dieser Stelle begraben seien. Dann erhob sich die alte Frau, zog einen Schlüssel hervor und öffnete die große Tür zu dem Haus. Marco ging hinein. Er war ganz ruhig: die drei weisen Männer, Balthasar, Kaspar und Melchior lagen nebeneinander, jeder auf seinem Steintisch. Er konnte ihre langen Haare und Bärte sehen. Es war, als schliefen sie nur. Marco Polo war wundersam zu Mute. Er hatte erwartet, nur ihre Grabsarkophage und Bilder von den drei Weisen zu sehen, aber nun lagen sie sichtbar hier und waren wie unberührt von den Jahrunderten.

Die alte Frau hatte scheinbar seine Gedanken gelesen. Sie sagte still und mit einem Lächeln auf den Lippen: „Was Balthasar, Kaspar und Melchior in der Weihnachtsnacht sahen, hat sie jung gemacht.“ Und nun hörte Marco Polo, wie sie die Geschichte über die Weisen erzählte, die ihm sein alter Lehrer auch erzählt hatte. Sie hatten den Stern am Himmel gesehen. Sie waren ihm gefolgt, um den Königssohn zu finden, von dem der Stern kündete. Die Alte erzählte weiter von ihrem fehlgeschlagenen Besuch bei König Herodes, von dem Stern, der in großer Eile über den Himmel über die Felder von Bethlehem geeilt war, um erst über den Jesuskind stille zu stehen. Die drei Weisen hatten das Kind gefunden. Sie hatten es nicht in einem Schloss gefunden, sondern in einem Stall. Es war mit seinen Eltern zusammen gewesen und mit einigen Hirten. Die Weisen hatten dem Kind Geschenke gebracht: Gold, Weihrauch und Myrhe, ehe sie wieder zurück in ihre Heimatstadt gezogen waren, nach Saba.

Die alte Frau hielt nun inne mit ihrer Erzählung. „Die Geschichte kenne ich auch sehr gut“, sagte Marco, „man kennt sie in Venedig und in den kalten Ländern im hohen Norden. Aber kannst du nicht etwas mehr über die drei weisen Männer erzählen? Was geschah, als sie zurückkehrten?“ – „Die drei Weisen wurden hier begraben!“ antwortete die alte Frau kurz. „Ja, aber da muss doch noch anderes und mehr zu erzählen sein. Hat sich das Leben der Weisen nicht geändert durch die Reise, die sie unternommen hatten? Geschah da nicht etwas mit ihnen, als sie tatsächlich den fanden, den sie suchten? Was machten sie hier, als sie zurückgekommen waren?“ – „Es gibt niemanden, der sich an anderes erinnert als daran, dass sie das Kind sahen und ihn fanden“, antwortete die Alte und zuckte die Achseln.

Marco Polo stand noch eine Weile bei den drei Weisen, ehe er ihr Grab verließ. An den nun folgenden Tagen seines Aufenthaltes in Saba erkundigte er sich überall in der Stadt nach den drei weisen Männern, aber niemand konnte ihm mehr erzählen als das, was er schon wusste. Am letzten Tag, bevor Marco Polo und sein Gefolge weiter nach Osten reisen wollten, ging Marco Polo noch ein letztes Mal hinaus in den Park mit dem Grab der Weisen. Es war warm und deshalb angenehm, wieder in den kleinen Park zu kommen. Er ging unter den kühlenden Blättern der Bäume, hörte die Vögel singen und sah die Fische sich in den Teichen tummeln. Die alte Frau und der Junge sassen auch genau an derselben Stelle. Sie schloss wieder die Tür zu der Grabkammer auf. Marco sah wieder die drei Weisen darin liegen, und er versuchte diesmal, sich ihre Gesichter einzuprägen. Er meinte, es sei, wie wenn sich sich bewegt hätten. Zuletzt zündete Marco eine Kerze an und gab der Alten und dem Jungen eine Münze. Und er bat sie auch, für sich selbst und für ihn etwas zu Essen zu holen.

Die Begegnung
Marco setzte sich unterdessen draußen in den Schatten einer alten Platane. Er hatte direkte Aussicht auf das Grab der Weisen. Die Tür stand noch immer offen. Die alte Frau hatte vergessen, sie abzuschließen. Marco saß eine Weile unter dem Baum. Er döste ein wenig. Aber als er aufsah, stand jemand vor ihm. Er war erschrocken. Es war der eine der Weisen: Melchior. Die anderen beiden Weisen kamen nun auch hervor. Alle drei Weisen standen jetzt leibhaftig vor ihm. Marco Polo erschrak, aber er vermochte sich dennoch zusammenzunehmen und sie zu begrüßen. Und er fragte sie: „Seid ihr es wirklich?“ „Du hast nach uns gefragt. Du möchtest gern wissen, was wir in unserem Leben getan haben, und was wir in der Heiligen Nacht in Bethlehem gelernt haben, – also sind wir hier,“ antwortete Kaspar kurz. „Ja, das ist wahr,“ antwortete Marco mit etwas unsicherer Stimme. „Ich möchte so gern hören, was seither mit euch geschehen ist. Was es bedeutete, dass ihr Jesus in der Krippe habt liegen gesehen. Was habt ihr davon gelernt? Seid ihr Weisen durch das, was ihr gesehen habt, klüger geworden? Hat es eure Weisheit und euer Leben geändert?“

Melchior
„Ja, das hat es,“ antwortete Melchior und fuhr fort: „Ich habe gelernt, dass wir Menschen nur wie ein Tropfen im Meer sind und wie ein Sandkorn am Strand. Viele Menschen von denjenigen, denen ich von der Begegnung mit diesem Königssohn, Gottes Sohn, dem kleinen Kind im Stroh, erzählt habe, schüttelten den Kopf und wollten nicht glauben, dass der Stern auf etwas Wahres zeigte. Die, die mir glaubten, zogen auch oft den falschen Schluss, indem sie zu mir sagten: ‚Wenn Gottes Wille mit allem in einem kleinen Kind liegt, das in armen Verhältnissen geboren ist, dann brauche ich Gott nicht zu dienen. Dann haben wir Menschen freies Spiel. Wir können uns die Macht selbst verschaffen.’ Für mich ist das anders. Wenn es die Wahrheit selbst in einem kleinen Kind gibt, dann spricht das ein Urteil über alles, was mein ist. Die Welt mag ihren Weg gehen. Wir mögen imstande sein, noch so merkwürdige Dinge zu schaffen, ja vielleicht sogar einmal geradezu menschliche Kopien herzustellen, den Alterungsprozess zu verlangsamen, den Mond zu erreichen und hoch oben im Weltraum Krieg zu führen, aber wie hoch wir Menschen mit unserem eigenen Verstand auch hinaufgelangen mögen, so sind wir doch nur kleine Menschen. Das Kind in der Krippe hat mich diese Demut gelehrt.“

Kaspar
Kaspar, der gleich daneben stand, rümpfte die Nase. Und als Melchior geendet hatte, fuhr er fort: „Ich habe in der Weihnacht etwas anderes gelernt als Melchior. Das Kind in der Krippe hat mich gelehrt, wie groß das Leben und Gottes Gnade sind. Gott gibt sich in dem kleinen Kind und selbst im kleinsten Samenkorn zu erkennen. Es ist ein großes Glück, das uns damit gegeben ist. Dieser Segen vergeht nie. Wenn Gott sich in einem kleinen Kind zu erkennen gibt, das sogar in einem Stall mit Esel und Kuh in eine Krippe gelegt werden muss, wo wird Gott da nicht sein Angesicht zeigen und sein Wort kundtun? Kein Ort ist zu weit weg und zu weit unten. Gott wird auch an das Ende der Welt kommen können und hinab in das Reich des Todes. Das Kind in der Krippe bringt mir diese Hoffnung. Wo immer ich gewesen bin und wohin ich gehen soll, ich werde nie allein sein. Die Weihnacht hat mich gelehrt, dass für Gott alles möglich ist.“

Balthasar
„Balthasar! Und du? Du bist so still. Was hast du gelernt?“ fragte Marco den dritten Weisen. „Ich kehrte als königlicher Astronom zurück,“ sagte Balthasar und fuhr fort: „Der König und seine Beamten haben mich gescholten. Sie meinten, unsere Reise nach dem Stern sei umsonst gewesen: sie fragten mich immer wieder: wozu soll das nützen? Kann es sich bezahlt machen, sich an das kleine Kind zu halten und seinen Geburtstag zu feiern? Man beauftragte mich, Vor- und Nachteile zu berechnen, aber als wir dann hörten, dass Jesus gekreuzigt wurde, gab man das Projekt auf. Wir mussten uns verrechnet haben und dem falschen Stern gefolgt sein. Ich aber konnte Jesus und die ganze Art und Weise, wie wir ihn gefunden hatten, nicht vergessen. Es war etwas Großes darin, dass wir etwas anderes fanden als das, war wir erwartet hatten. Wir suchten einen reichen weltlichen Königssohn in einem kaiserlichen Palast, aber wir fanden das Kind in einer elenden Hütte. Das war ein Gericht über unsere selbstgeschaffene Erwartung, wie Melchior es ausgedrückt hat, aber zugleich war auch das, was Kaspar gesagt hat, etwas Großes. Das ist das Geheimnis der Weihnacht: Gottes Gegenwart.

Gottes Wille, hier unter uns Menschen zu sein, ist groß. Das ist die Botschaft der Weihnacht. Wir können Gemeinschaft in unserer Familie fühlen, unter Freunden und in den Traditionen, die wir haben. Wir vermissen auch in solchen Zeiten diejenigen, mit denen wir die Zeit nicht mehr gemeinsam verbringen können. Aber das Große ist, was wir zu sehen und zu hören bekommen haben, und was wir weiterhin zu hören bekommen in diesem Kind, das in der Weihnacht geboren ist, dass uns in Jesus eine Gemeinschaft mit Gott gegeben ist, durch die wir – ein jeder von uns – sein Leben mit Hoffnung leben kann. Das gilt für uns drei, die wir ihn in der Heiligen Nacht gesehen haben. Und das gilt für dich, Marco, und für deine Leute. Das gilt selbst für die, die dort wohnen, wo Frost und Kälte herrschen können. Das Leben geht nicht mehr nur auf die Finsternis zu. Ein Licht strahlt in der dunklen Nacht. Es ist das Kind, das in der Weihnacht geboren ist.“ Plötzlich fühlte Marco eine Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um. Es war die Hand des kleinen Jungen. Er und seine Großmutter waren zurückgekommen. „Seht her!“ sagte Marco und wollte eben den beiden die weisen Männer vorstellen. Aber da er sich nach ihnen umwandte, waren sie fort. Marco erhob sich und war verwirrt.

„Wir haben etwas zu Essen gekauft,“ sagte der Junge, „worum du uns gebeten hast.“ Marco kam bald wieder zu sich und sagte: „Wir wollen uns setzen und das Essen teilen.“ Die drei, der kleine Junge, der junge Mann Marco und die alte Großmutter, legten sich ins Gras nieder. Sie teilten Brot und Wein und sprachen miteinander, als hätten sie sich zeit ihres Lebens gekannt. „Glaubt ihr nicht auch, dass es ihnen in der Zeit nach der Weihnacht, als sie das Kind in der Krippe gesehen hatten, so ergangen ist? Ein Gefühl, dass sie Teil von etwas ganz Großem gewesen sind?“ fragte Marco die anderen. Der kleine Junge wurde ganz still, dann aber fragte er: „Glaubt ihr nicht, dass etwas von dem Licht des Sterns auch seinen Weg in die Augen der weisen Männer gefunden hat?“ – „Doch, das glaube ich,“ sagte Marco mit einem Lächeln. „Möge das Licht des Sterns und des Kindes fortgesetzt seinen Weg auch in unsere Augen finden, auf dass seine Geburt mit in die künftigen Jahre hineingetragen werde!

Pastor Elof Westergaard
Græmvej 2, Husby
DK-6990 Ulfborg
Tel. +45 97 49 51 08
E-mail: eve@km.dk

Übersetzt von Dietrich Harbsmeier


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