Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Predigtreihe: Nachtgespräche, Herbst 2004
Die Nacht der Entscheidung - Jesus und Nikodemus
Eva Losert
(-> zur Übersicht der Predigtreihen)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Die Nacht der Entscheidung

Jesus und Nikodemus
Joh. 2, 23 bis 3, 15

Szenische Lesung

Erzähler/in:
Als er [sc. Jesus] am Passafest in Jerusalem war, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er tat. Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht an; denn er kannte sie alle und bedurfte nicht, dass ihm jemand Zeugnis gab vom Menschen; denn er wusste, was im Menschen war.
Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm:

Nikodemus:
Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit Ihm.

Erzähler/in:
Jesus antwortete und sprach zu ihm.

Jesus:
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Nikodemus:
Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?

Jesus:
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes Kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.
Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden.
Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.

Nikodemus:
Wie kann dies geschehen?

Jesus:
Bist du Israels Lehrer und weißt das nicht?
Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben; ihr aber nehmt unser Zeugnis nicht an. Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie werdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sage?
Und niemand ist gen Himmel aufgefahren außer dem, der vom Himmel herabgekommen ist, nämlich der Menschensohn. Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.

Predigt – in Szenen

Manche Nächte fordern eine Entscheidung.

Das bisherige Leben:
„Es war gut! Mein Leben! Gut gegangen! Eigentlich immer! Es ist mir gut ergangen. Geordnete Bahnen. Gute Positionen. Fleiß. Aufmerksamkeit. Gutes Benehmen. Ordnung - war mein ganzes Leben. Belesen und gebildet. Studiert habe ich die Heiligen Schriften. Sie verständlich ausgelegt. War angesehen bei den Oberen. Sie haben mich in ihren Hohen Rat berufen, weil ich ein angesehener Lehrer bin, weil sie meine Meinung schätzen. Es war gut! Ich war gut.

Ich weiß, was ich kann und ich weiß, welche Fragen ich noch zu klären habe:
Manches im Himmel und auf Erden bleibt auch mit dem größten Bibelstudium ungelöst.
Manches zwischen Himmel und Erde bedarf des weiteren Nachdenkens.
Manches auf der Erde und unter dem Himmel bedarf des Austausches mit Gleichgesinnten und mit anders Gesinnten – im Gespräch, ja sogar im Streit kommen wir der Wahrheit in Glaubensdingen näher.“

Die Tage davor:
„Tage gibt es … Die bringen einen durcheinander! Was ich am Passafest gesehen habe, ist kaum zu glauben. Nein, zu glauben schon, aber nicht zu verstehen:
Jesus war im Tempel.
Hat alle Händler und alle Geldwechsler vertrieben.
Er hat sie hinausgeworfen.
Tische und Bänke fielen übereinander.
Er schrie.
Er verjagte die Händler mit Ihren Opfervieh.
Er warf die Tische um.
Das ganze Geld schüttete er den Wechslern vor die Füße:
„Macht nicht meines Vaters Haus zu einem Kaufhaus!“
Das waren seine Worte.
Und die Oberen fragten ihn, warum er dies machen würde, und er antwortete:
„Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.“

Das war ein Wort. Nicht ruhig. Eher laut. Es lässt mir keine Ruhe.
Ich grübele. Mir kommt zu Ohren, was er alles getan hat.
Wasser in Wein verwandelt.
Es ist mehr.
Und das lässt mir keine Ruhe.
Tue ich das richtige? Oder ist es falsch?
Vorbei mit der Ruhe.
Habe ich das Richtige gelernt? Ich, der große Lehrer? Habe ich Falsches unterrichtet?

Ich bin nicht allein ruhelos. Auch andere glauben, dass er ein besonderer Mensch ist. Wundersam. Er tut wundersame Zeichen. Er hat etwas Magisches.
Das ist nicht alles. Es sind nicht nur die Zeichen und Dinge, die er tut.
Es ist mehr. Mein Leib, meine Seele, mein Herz, meine ganze Kraft drängen nach etwas anderem.“

Am Abend:
„Die anderen Ratsmitglieder sitzen noch. Sie diskutieren. Mein theologisches Gedankengerüst stützt nicht mehr. Sie sehen mich schief an. Alle sehen mich schief an. Ah, und sie fragen auch noch: „Nikodemus, du kannst uns sicher bei dieser oder jener theologischen Frage weiterhelfen. Wie ist das mit Mose, mit den Propheten, sag es uns, was meinst du.“
So forschen sie mich aus. Sie quetschen mich aus. Wollen hören, ob ich noch da bin. Wollen wissen, ob ich noch einer der ihren bin.

Heute Abend war es so weit. Ich musste gehen. Sie wussten es.
Wussten, wohin ich gehen würde,
wussten, welche Fragen mich um meine Ruhe bringen,
wussten, dass ihr Diskutieren mich nicht zur Ruhe und auch nicht weiter bringt.

Sie drohen mir:
Wenn du jetzt gehst – ja, was dann? Was kann mir passieren?
Sie haben Angst: Einer aus dem Rat auf Abwegen! Wohin soll das noch führen?
Sie wollen den Rat zusammenhalten. So manche haben sich schon von seinen Zeichen beeindrucken lassen. Damit soll Schluss sein. Ruhe einkehren. Das Wichtigste ist der Rat der Obersten und nicht der Rat der gottlosen Jesusanhänger. Wenn sich jemand aus dem Rat, einer von den theologischen Lehrern, sich ihm anschließt, dann …

Ja, was denn dann eigentlich? Sie haben mir gedroht, ein Ultimatum gestellt, wenn ich das mache, dann …

Und doch: Ich gehe. Ich muss. Gehe im Dunkeln. Ich werde leise reden. Keiner wird uns hören. Dann kann ich zurück und keiner bemerkt etwas.“

Manche Nächte fordern eine Entscheidung.

Die Nacht:
„Ich war bei ihm. Er hatte schon geschlafen. Öffnet auf mein Klopfen. Sah mich an – als hätte er mich erwartet. Er bittet mich hinein. Ein Feuer brennt. Von ganzem Herzen weiß ich es: `Meister, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist.´
Wir setzen uns. Es ist still. Leise die Geräusche der Nacht. Unsere Schatten tanzen an der Wand.
Alle meine Fragen drängen sich in mir, doch diese Nacht braucht sie nicht.

Jesus spricht. Ich höre ihn noch, seine Worte hallen in mir wider, drei mal Amen:
Amen, amen, ich sage dir: Du siehst Gottes Reich nur, wenn du von oben geboren bist.
Amen, amen, ich sage dir: Du kommst nur in Gottes Reich, wenn du aus Geist geboren bist.
Amen, amen, ich sage dir: Der Menschensohn hängt am Pfahl, damit du für immer im Reich Gottes lebst.

Jesus spricht mit Vollmacht. Klar. Keine theologische Diskussion, kein es könnte doch auch so sein oder dieser oder jener theologische Lehrer sagt es anders.

Da spricht einer mit Vollmacht. Und ich höre! Und ich weiß es: Jesus weiß, wovon er redet. Er spricht von Gott, als würde er von sich selbst sprechen. Meine Frage, wie das denn gehen kann, ist schon überholt, als ich sie gerade ausgesprochen habe.
Er hat mich überholt.
Nicht, um links liegen zu lassen.
Sondern, um mir entgegen zu kommen.
Er lässt sich nicht ein auf das Spiel `Frage-Gegenfrage´.
Er ist meine Antwort, bevor ich die Frage kenne.
Wird zum Wort, bevor es auf meiner Zunge liegt: `Ich glaube, dass du der Sohn Gottes bist, darf ich mit dir gehen?´“

Es tagt:
Ausgesprochen habe ich das nicht. Ausgesprochen stark war mein Herz noch nicht.
Ich habe es später getan. Am Grab.

Kann ich das alles mit dem Herzen erfassen, was er gesagt hat?
Ich muss von neuem geboren werden.
Ich muss aus Geist geboren werden.

Manche Nächte fordern eine Entscheidung.
Säuseln oder Geistesblitz, ich komme nicht darum herum. Ich habe mit Herz und Verstand diese Worte gehört, Gottes Nähe erfahren.
Säuseln oder Geistesblitz, der Geist Gottes macht mich.
Macht mich zu einem Vertriebenen aus der Welt.
Macht mich zu einem Getriebenen in sein Reich.
Säuseln oder Geistesblitz, Gott selbst wirkt eins:
Manche Entscheidungen brauchen eine Nacht.

Danach:
Das war eine Nacht, die mich noch lange umtrieb.
Sie hat eine Entscheidung von mir verlangt. Es kam wie ein Säuseln und hinterließ Verheerungen eines Blitzes. Jesus ist in mein Leben getreten. Das Reich Gottes ereignete sich in dieser Nacht. Nur so verstehe ich: von neuem geboren werden.
Mein altes Leben? Das gibt es nicht mehr.
Wer neu geboren wird, wird vorher sterben.
Das Ende des Alten, siehe, ich mache alles neu.

Erzähler/in:
Wie ging es mit Nikodemus weiter?

Es tagt.
Der eine legt sich wieder schlafen. Der andere geht.
Geht in die Morgendämmerung und in den neuen Tag.
Sieht mit anderen Augen - und dem Herzen.

Seinen Gang gehen.
Ein Gespräch am Anfang.
In der Nacht. Zu Zweit.
Mehr bekommen als erhofft.
Du bist der Gottessohn.
Der Tag kommt.
Seinen Gang gehen.

Nikodemus glaubt es kaum und wagt es nicht zu sagen und doch ändert sich sein Leben:

„Danach bat Josef von Arimathäa, der ein Jünger Jesu war, doch heimlich, aus Furcht vor den Juden, den Pilatus, dass er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Und Pilatus erlaubte es. Da kam er und nahm den Leichnam Jesu ab. Es kam aber auch Nikodemus, der vormals in der Nacht zu Jesus gekommen war, und brachte Myrrhe gemischt mit Aloe, etwas hundert Pfund. Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in Leintücher mit wohlriechenden Ölen, wie die Juden zu begraben pflegen. Es war aber an der Stätte, wo er gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab, in das noch nie jemand gelegt worden war. Dahin legten sie Jesus.“ (Joh. 19, 38 – 42a)

Manche Nächte fordern eine Entscheidung.
Manche Entscheidungen brauchen eine Nacht.

Und der Ostermorgen naht.

Amen.

Anmerkungen:
Predigerin oder Prediger sollten bei der szenischen Lesung die Rolle des Nikodemus übernehmen, denn so erklärt sich durch die Übereinstimmung der Personen die Ich-Rede, das Selbstgespräch des Nikodemus.

Die Anregung für die szenische Lesung ist entnommen: Günter Thomé, Jesus und Nikodemus. Gottesdienst zu Trinitatis mit Chormusik und/oder szenischer Lesung, in: Erhard Domay (Hg.), Gottesdienst Praxis Serie B. Christi Himmelfahrt – Pfingsten – Trinitatis, Gütersloh 2004, S. 86 – 88.

Pfarrerin Eva Losert
Referentin im Ausbildungsdezernat
Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck
Wilhelmshöher Allee 330
34131 Kassel
0561-9378233
losert.lka@ekkw.de

 


(zurück zum Seitenanfang)