Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres (Volkstrauertag), 14. November 2004
Predigt über
Römer 8, 18-25, verfaßt von Karl Rennstich
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Predigttext Römer 8, 18- 25
Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll. Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden. Die Schöpfung ist ja unterworfen der Vergänglichkeit - ohne ihren Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, - doch auf Hoffnung; denn auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes.
Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet. Nicht allein aber sie, sondern auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe haben, seufzen in uns selbst und sehnen uns nach der Kindschaft, der Erlösung unseres Leibes. Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Vorbemerkung
In Deutschland nennen wir den heutigen Sonntag Volkstrauertag. Wir gedenken der Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft. Der Volksbund hatte nach dem Ende des Ersten Weltkrieges angeregt, einen nationalen Trauertag einzurichten. Die erste Gedenkstunde im Reichstag fand 1922 statt und 1926 entschied man sich den Volkstrauertagregelmäßig am 5. Sonntag vor Ostern, Reminiscere, zu begehen.  Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, wurde1933 aus dem Volkstrauertag der "Heldengedenktag". Im Mittelpunkt stand nun die Verherrlichung der "Helden" und nicht mehr die Trauer um die Gefallenen.
Im Jahre 1948 gelang es dem Volksbund die Tradition des Volkstrauertages in alter Form wieder aufzunehmen. Die erste zentrale Veranstaltung wurde zwei Jahre später im Plenarsaal des Bundestages in Bonn abgehalten. Um sich von der Tradition des "Heldengedenktages" abzusetzen, wurde 1952 beschlossen, den Volkstrauertag künftig am 2. Sonntag vor dem 1. Advent zu begehen. 

Liebe Gemeinde!
Am heutigen Volkstrauertag wollen wir über den Bibeltext Römer 8, 18- 25 nachdenken. Die Lutherbibel überschreibt diesen Abschnitt aus dem Römerbrief: Hoffnung für die Schöpfung und Gewissheit des Heils.

Volkstrauertag. Bei mir, dem 1937 Geborenen, kommen bei diesem Wort früheste Erinnerungen aus meiner Jugend auf, die sich so tief in mein Gedächtnis eingebrannt haben, dass ich sie nie mehr vergessen kann. Der Aufmarsch am Kriegerdenkmal vor der Kirche. Die Heldenfeier mit Fahnen und Trompeten. Wir Kinder waren sehr beeindruckt. Wir waren stolz auf unsere Väter und Verwandten, die im Krieg ihr Leben für Volk und Vaterland einsetzten. Mein 1940 verstorbener Vater war nicht unter diesen ”Helden“. Dafür meine Vettern. Mein Onkel und meine Tante waren stolz, dass sie einen Sohn auf dem Heldenaltar geopfert hatten. Aber ich werde auch nicht vergessen, dass meine Tante beim Tod ihres dritten Sohnes Hitler verfluchte. Sie war in der Tiefe ihrer Seele verletzt, dass ihre drei Söhne missbraucht worden waren. Gerade der Jüngste war 17 Jahre alt.
Seither bin ich unheilbar skeptisch gegenüber jeder Form von Heldenverehrung. Ich höre dann immer den Ruf der Toten: »Hört auf mit dem Unfrieden, mit dem Hass, mit der Habgier mit dem Morden«.

1. Unser Predigttext geht in diese Richtung: ”Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick mit uns seufzt und sich ängstet“. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Der Apostel spricht von den »Leiden dieser Zeit«. Er spricht an keiner Stelle davon, dass die Leiden irgendwann mal in unserer irdischen Zeit aufhören würden.
Aber genau so klar beschreibt der Apostel auch die Sehnsucht der nach Befreiung von Leid, Schmerz und Tod. Er glaubt fest daran, dass es eine neue Schöpfung geben wird! Jesus Christus ist führ ihn Garant dafür, dass wir durch den Tod hindurchgehen und wieder auferstehen werden. Durch seine Auferstehung haben wir einen Blick auf die zukünftige Welt geworfen, die nicht mehr seufzt, nicht mehr trauert und nicht mehr vergänglich ist.
Ich kenne diesen Schmerz. Als ich am Grabe meines tödlich verunglückten ältesten Sohnes stand, konnte ich nur noch seufzen. Andere Menschen aus der Gemeinde halfen mir, wieder langsam im Glauben zu wachsen. Deshalb schätze ich die Gemeinde der Leidenden und die Kirche.

2. Eine Kirche kann sprechen
Die alte Kirche, in der ich die letzten zehn Jahre predigte, liegt inmitten des Friedhofs. Ich muss zuerst vorbei am Grab ohne Namen für den gefallenen Soldaten. Das Innere der Kirche ist wie ein Schiff, ein Schiff das sich Gemeinde nennt. Es ist ein bergendes Schiff. Ich erfahre den Kirchenraum als Stätte der Bewahrung so wie Noah seine Leute und die Tiere in der Arche bergen und wie Jesus seinen Jüngern auf dem schwankenden Boot auf stürmischer See die Angst nehmen konnte. Der Altarraum ist die Mitte. Das Zentrum meines Glaubens. Am Ende meines Blickes steht der Gekreuzigte. Darüber der Auferstandene, der die Welt in seinen Händen hält. Das Licht, Zeichen für Hoffnung kommt von Osten. Ich orientiere mich an der Geschichte von Kreuz und Auferstehung. Dieses Bild hat sich ebenfalls tief in meine Seele eingegraben. Am Ende steht nicht die Resignation und der Tod, sondern das Leben.

”Ich bin gewiss, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll“, schreibt der Apostel , denn er weiß: ”Die Schöpfung ist unterworfen der Vergänglichkeit“. Seufzen vermag dem Schmerz für einen Augenblick Erleichterung zu verschaffen. Sehnen drückt aus, dass der Apostel Veränderung und Besserung wünscht für die ganze Schöpfung, nicht nur ein Leben nach dem Tod.
Paulus will wie Jesus Menschen gewinnen für das Reich Gottes. Die Botschaft von der anbrechenden Gottesherrschaft will nicht nur unsere Köpfe erreichen, sie gilt dem ganzen Menschen mit Kopf und Herz und Hand. "Gott ist kein Gott von Toten, sondern von Lebenden, für ihn sind alle lebendig."
Glauben wir das? Spüren wir das? Leben wir danach?

Im November scheint uns die Realität des Todes besonders bewusst zu werden. Die Tage werden dunkler, ”Blätter fallen wie von weit“ - die Natur wird trister. Kirchliche und weltliche Gedenktage rücken den Tod in den Blickpunkt. Als Christen dürfen wir wissen, dass uns der Glaube an den Gott des Lebens geschenkt ist.
Der kluge Mensch weiß: Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Martin Luther nimmt darauf Bezug, wenn er sagt: "Christ, dreh's um: Mitten im Tod bist du vom Leben umfangen!" Mitten im Leben haben wir als Christen eine Hoffnung:

” Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.“
Es gibt ein Wachsen im Leiden und ein Wachsen in der Hoffnung. So wird der Mensch zum Menschen. Das ist meine Lebenserfahrung. Diese Erfahrung machten auch viele andere Menschen.

3. Arie Brouwer erfuhr acht Tage vor Weihnachten 1992, dass der Tumor, den man ihm entfernt hatte, bösartig war. Am nächsten Sonntag hätte er den Gottesdienst halten sollen. Stattdessen wartete er auf einen Operationstermin. Er schrieb auf, wie es ihm ums Herz war. Was ursprünglich als eine Therapie gedacht war, wurde immer mehr zu einem abschließenden letzten Willen des Betroffenen, mit dem der frühere Generalsekretär des Reformierten Weltbundes in Amerika und des stellvertretenden Sekretärs des Ökumenischen Rates der Kirchen, seinen Freunden in aller Welt mitteilen wollte, wie es ihm ums Herz stand in den letzten Wochen seines Lebens. Er nannte es sein Testament.

Sein Testament überschrieb er: ”Überwindung der Todesangst.“ Er beschreibt seine Schmerzen, sein Weinen und wie schwer es ihm fiel, sich auf den Tod vorzubereiten. Der Krebs, das schrecklichste Wort für alle Amerikaner, war nun in seinem eigenen Körper. Er wusste, dass am Ende der Tod stehen wird.
Ein Gemeindeglied schenkte ihm die ‚Statue des auferstandenen Christus in Rio de Janiero. „Das“, so schrieb er, „hatte ich während meiner eigenen Operation und in den schweren Stunden meines Lebens, in allernächster Nähe bei mir.“

Sein jüngster Sohn, Vater seiner neun Monate alten Enkeltochter, sagte: ”Vater, ich hoffe noch immer, dass du Rahels Examensfeier miterleben darfst.“
Er erinnerte sich an die Worten des Propheten Habakuk: ”Wir warten auf den Herrn, mehr noch als solche, die auf die ersten Zeichen der Morgenwache warten.“

Gegen die Schmerzen gab es Medizin. Schlimmer war die Erkenntnis, dass dies wohl das letzte Weihnachten sein. Die größte Hilfe erfuhr er von den Gliedern der Gemeinde, die erleben mussten, dass ihr gerade gewählter Pfarrer den Dienst gar nicht antreten konnte, weil diese schreckliche Krankheit es verhinderte. ”Ich erlebte die wahre Gemeinschaft der Liebe Christi durch diese Menschen,“ schreibt er in seinem Testament und fährt fort: ”Draußen ist es nebelig, aber nicht nur draußen, sondern auch tief in meinem Herzen ist ein tiefer Nebel (...) Ich denke über die Liturgie, über die Gebete und über den Predigttext nach, die ich dann, wenn ich in einigen Wochen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werde, in der Kirche zu halten habe. Aber dann kam die Warum- Frage, verbunden mit der Frage nach dem Willen Gottes.

Sein jüngster Sohn konnte nicht verstehen, warum Gott das alles hat zulassen können. ”Du und Mama, haben ihr ganzes Leben lang versucht, sich für andere Menschen einzusetzen und dafür zu sorgen, dass es den Menschen besser geht. Warum musst gerade du nun dieses Schwere durchmachen, wo man doch gerade heute und jetzt dich am allermeisten braucht? Das ist eine sehr merkwürdige Art Gottes, das zurückzuzahlen, was du Gutes getan hast.“

Viele Wochen beschäftigte sich der Vater mit diesem Thema. Er begann ganz neu die Bibel zu lesen. ”Mich bewegt die Frage, was der Ausdruck ”allmächtiger Gott“ eigentlich bedeutet.“ Am Ende fand er heraus, dass im Neuen Testament nur zehnmal von der Allmacht Gottes gesprochen wird und dass neun davon in der Offenbarung vorkommen. Beim genauen Hinsehen fand ich, dass alle diese Stellen mit dem letzten Triumph Gottes am Ende der Geschichte zu tun haben, wenn Gottes Liebe und Gerechtigkeit und sein Friede und sein Wohlsein siegen wird.

Bei der Betrachtung alter orthodoxer Ikonen fiel ihm auf, dass die Ikone ”das Fenster zum himmlischen Königreich“ genannt wird. ”Urplötzlich ist mir klar geworden, dass transzendieren bedeutet die Grenze übersteigen. Es muss in Verbindung gebracht werden mit dem Wort transfigurieren, die Gestalt und Erscheinung verändern. Ich habe das erst begriffen, als ich wusste, dass in mir selbst der Tod bereits Platz ergriffen hat.(...) Nun begriff ich, dass meine irdische Gestalt und Erscheinung Denn wir sind zwar gerettet, doch auf Hoffnung. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.

Am meisten beschäftigte Arie Brouwer in dieser Zeit die Frage, was „überwinden“ bedeutet. ”Das führte mich zu Römer 8: 35-39: Wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? (...) Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ Er kam zum Ergebnis, dass Überwindung in der Bibel eine völlig neue Verbindung mit dem Wohlsein bedeutet. ”Ich weiß auch nicht, welche endgültige Form diese Überwindung des Todes haben wird. Eines aber weiß ich, dass durch die Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn, ich mehr als nur ein Sieger sein werde, und dass das wahr ist, obwohl ich kaum wissen kann, wie dieser Kampf ausgehen wird. Ich weiß nicht, wie es am Ende mit meinem Sterben aussehen wird, welche Form die Krankheit am Ende annehmen wird.“

”Mein Lieblingstext in der Bibel.“ schreibt Arie Brouwer, ”war Habakuk“, den Luther mit ”Herzer“ übersetzt. Kernspruch dieses Propheten und Beters ist: ”Der Gerechte wird seines Glaubens leben (...) Aber ich will mich freuen des Herrn und fröhlich sein in Gott, meinem Heil. Denn der Herr ist meine Kraft, er wird meine Füße machen wie Hirschfüße und wird mich auf meine Höhen führen, vorzusingen auf meinem Saitenspiel“ (Hab. 3, 17-19).

Arie Brouwer bekennt, dass er am Ende seine Krankheit gelernt habe, „dass Gott auf mich wartet, und dass er seine Hand über mir hält. Dass er mich aufhebt, wenn ich falle, und dass er neben mir geht, wenn ich leide, dass der Tod nicht das Ende ist und nicht das letzte Wort. Ich bin nicht voll Zorn und Bitternis.“

Am Ende seines Lebens machte er die Erfahrung, dass es ein Wachstum in Glaube, Hoffnung, Liebe gibt. ”Ich habe soviel Liebe erfahren von Menschen um mich herum. Das gab mir immer wieder Kraft und macht mich sehr demütig, einmal, weil ich gelernt habe, dass die Liebe über alles hinweggeht, was ich je erreicht habe, und zweitens, weil ich wohl nicht so viel Liebe zu geben vermag, wie ich empfangen habe. Angesichts des Sterbens, bin ich gewachsen im Glauben, in der Hoffnung, in der Liebe und in der Gnade.“

Zwei Monate später, am 7. Oktober 1993, starb Arie Brouwer.

Wie Arie Brouwer bin ich überzeugt: ” dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.“
Amen

Prof. Dr. Karl W. Rennstich
Lerchenstrasse 17
D-72762 Reutlingen
Germany
Tel: +49-(0)7121-372651
Mobile: +49-(0)174-595-5914
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