Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach

4. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2004
Predigt über Römer 14, 10-13, verfaßt von Werner Böse
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde,

neulich war ich auf einer Tagung für Kinderseelsorger. Auf dieser Tagung waren auch Richter, Anwälte und Psychologen. Dabei ging es um Menschen und was für schreckliche Sachen Menschen Menschen antun. Ich bin noch immer tief betroffen von dem Leid der Kinder. Ich sage mir, es steht mir nicht zu urteilen oder zu verurteilen; meine Aufgabe ist es, mich für die Kinder einzusetzen, ihnen zu helfen. Es ist die Aufgabe der Richter, Wege für diese Kinder zu finden. So ist die Rechtslage in unserem Staat. Ich kann nur begleiten, helfen.

Auf der Tagung kamen Richter, Anwälte und die anderen ins Erzählen. Sie haben naurtgemäß ebenfalls das Problem, mit dem Erlebten fertig zu werden. Wenn einer anfängt zu erzählen, dann setzt ein anderer fort. Oft waren es noch schockierenderen Erlebnisse.
Ein Richter sprach von einem Vater, der sein Kind sehen möchte, dabei aber nicht nachempfinden kann, dass sein Kind den Kontakt verweigert, weil er nämlich die Mutter umgebracht hat.
Der Vater befindet sich noch im Gefängnis und wird demnächst freigelassen. Das Kind lebt bei den Großeltern mütterlicherseits. Nach den Gesetzen, die wir haben, hat der Vater ein Umgangsrecht und darf es auch ausüben.

Liebe Gemeinde, dieses Beispiel von der Tagung und andere, die ich hörte, lassen mich nicht mehr los. Sie zeigen, zu welchen schrecklichen Taten Menschen in der Lage sind. Es ist völlig natürlich und selbstverständlich, dass wir darüber urteilen, und solche Taten verdammen. Das muss auch sein. Eine Gesellschaft kann nicht funktionieren, wenn Menschen gegen Menschen wüten, wenn sie gegen Gebote und  Gesetze des Staates verstoßen.

Ich denke, dass Paulus diese Lebenshaltung meint, oder diese menschliche Verhaltensweise des Übereinanderherziehens, wenn er seinen Text an die Gemeinde in Rom, unserem heutigen Predigttext formuliert:

"Du aber, was richtest du deinen Bruder? Oder du, was verachtest du deinen Bruder? Wir alle werden vor den Richterstuhl Gottes gestellt werden. Denn es steht geschrieben: "So wahr ich lebe, spricht der Herr, mir sollen sich alle Knie beugen und alle Zungen sollen Gott bekennen."

Es gibt noch andere Begebenheiten, in denen wir dazu neigen, andere zu be-urteilen, oft auch zu ver-urteilen. Nicht selten sind es Kleinigkeiten. Wir regen uns darüber auf, wie Nachbarn ihre Kinder erziehen, oder wir können nicht verstehen, warum diese nette junge Frau immer wieder anderen Herrenbesuch bekommt, und wir ziehen mit Worten fürchterlich über andere her.

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum laßt uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinen Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.

Liebe Gemeinde, ich habe auf der Tagung mit einer Richterin gesprochen und sie gefragt, wie sie es seelisch ertragen kann, immer wieder diesen menschlichen Schrecklichkeiten zu begegnen. Darauf hat sie mir geantwortet: "Ich weiß einfach, dass Menschen zu allen möglichen Dingen in der Lage sind. Dann sage ich mir, das ist so. Ich versuche, einen Blick für die Umstände zu bekommen, für die Situation und für den Menschen selbst. Manchmal kann ich dann nachvollziehen, dass er so geworden ist. Manchmal allerdings kenne ich die Gründe nicht und werde sie auch nicht herausfinden. Aber ich ärgere mich nicht, sondern ich gehe mit ganz viel Gelassenheit an die Fälle. Meine Aufgabe ist es, einen gesellschaftlichen Dienst zu erfüllen und darauf zu achten, dass die Gesetze eingehalten werden. Und das vermag ich mittlerweile mit einer großen Gelassenheit und Ruhe zu vollbringen. Aber der Mensch wird seine Schuld vor einer höheren Instanz zu verantworten haben, auch mir als Richterin steht das bevor. Und dann können wir alle nur hoffen, dass auch Gott auf die Umstände sehen wird und auf die Situationen, in denen wir schuldig geworden sind. Diese Einstellung hilft mir, bei meiner täglichen Arbeit mit denen, die die Gesetze übertreten haben.

Liebe Gemeinde, das Gespräch mit dieser Richterin tut mir noch immer gut. Ich habe beobachtet, dass ich, wenn ich mich an das Gespräch erinnere, gelassener und offener auf die Menschen zugehen kann, auch wenn ich weiß, was da alles passiert ist. Ja, ich kann ihnen sogar mit Achtung und Wertschätzung begegnen, und jetzt kommt das verblüffende: diese Haltung und diese Einstellung hilft oft, das es mir gelingt, sogar verfeindete Menschen wieder in eine Beziehung zu bringen.

Das sind für mich Schlüsselworte geworden: Achtung und Wertschätzung, nicht zu richten, zu verurteilen. Die Richterin lehrte mich, Paulus besser zu verstehen.

Ich bin davon überzeugt, dass Paulus diese Grundhaltung von seiner Gemeinde in Rom fordert, wenn er sagt: was richtest du deinen Bruder, achte vielmehr darauf, dass du deinen Bruder keinen Anstoß oder Ärgernis bereitet.

Die Begriffe Achtung und Wertschätzung bringen das positiv zum Ausdruck, was Paulsu negativ formuliert. Ich hoffe, dass es uns allen immer besser gelingt, achtend und wertschätzend einander zu begegnen.

Amen

Werner Böse
Werner.Boese@t-online.de


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