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Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Kantate, 9. Mai 2004
"Lob Gott getrost mit Singen", verfaßt von Doris Gräb
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


„Lob Gott getrost mit Singen“

Liebe Gemeinde!

Kantate! Singet! Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder!

Die wunderbare Macht der Lieder: sie soll an diesem Sonntag wie an keinem anderen unsere Herzen berühren. Von der wunderbaren, tröstenden Macht der Lieder will ich heute nun aber auch reden, mitten in unserem Singen, mitten in unserem Hören auf die Lieder, die Töne, die von der Orgel-Empore herab in unser Herz dringen.

Anders, ganz anders will ich davon reden, als es der Psychoanalytiker Tilman Moser getan hat. In seiner beißenden Kritik an den Liedern der Kirche, an jenen Liedern, die ihm seine Mutter und sein Vater ins Herz gesungen haben, - und die, wie er sagt, sein Herz vergiftet haben.

„Die Traurigkeit beim Lesen in deinem Gesangbuch ist eine Mischung aus Ohnmacht, Resignation, Wertlosigkeit.“ So schreibt er, an die Adresse Gottes gerichtet. „Von dir geht eine Lähmung aus, ein Gefühl von Vergeblichkeit allen irdischen Tuns. Ich höre bis heute die Stimmen der meistens schon älteren Frauen in unserem Kirchsaal, die versuchen, beim Singen der Choräle in das Gefühl zu geraten, weggetragen zu werden.“ Und weiter: „Einige deiner Lieder, am meisten die von Paul Gerhardt, sind verknüpft mit Augenblicken, in denen meine Mutter es verstand, im täglichen Leben nicht ansprechbare oder formulierbare Gefühle singend oder betend so mit dir zu verbinden, dass sie plötzlich greifbar schienen. Im Grunde war es das Ziel aller Lieder, Verschmelzung zu bewirken und Andacht hervorzurufen. Manche Lieder treiben mir heute noch die Tränen in die Augen, weil sie verknüpft sind mit Momenten eines vollkommenen Geborgenheitsgefühls. ----„“

Und was soll nun schlimm daran sein? – So möchte ich Tilman Moser fragen – und die Antwort darauf gleich selber geben.

Nichts, aber doch auch gar nichts. Und so wandle ich sie sogar mutig ab, diese Kritik. I ch wandle sie positiv um und möchte sagen: Ja, ich kenne sie auch, die Macht der Lieder. Aber ich fühle mich durch sie nicht ohnmächtig gemacht, im Gegenteil.

Dankbar bin ich für die Macht der Lieder, die von frühester Kindheit an meine Seele besetzt haben. Stark, nicht schwach haben sie mich gemacht.

Vor zwei Wochen, am Sonntag vom Guten Hirten, kam mir jenes Lied wieder in den Sinn, das ich als Kind Sonntag für Sonntag im Kindergottesdienst gesungen habe – und neulich in einer Fernsehsendung wieder hörte, gesungen von einer alten Diakonisse, am Sterbebett in einem Hospiz:
”Weil ich Jesu Schäflein bin, freu ich mich nur immerhin über meinen guten Hirten, der mich wohl weiß zu bewirten, der mich lieb hat, der mich kennt, und bei meinem Namen nennt.”

Ein umfassendes Geborgenheitsgefühl, ja, lieber Tilman Moser, das hat sich nicht zuletzt durch dieses Lied tief in meiner Seele eingegraben. Gott sei Dank!

Und es gibt ja noch andere Lieder, ähnliche Lieder, die dem Kind von damals in die Seele gesungen, eingegraben wurden, unauslöschlich.

Sie kennen sie auch. Sie waren doch auch einmal Kind.

”Weißt du, wie viel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt. Weißt du, wie viel Kinder frühe stehn aus ihrem Bettlein auf, dass sie ohne Sorg und Mühe fröhlich sind im Tageslauf. Gott, der Herr, der hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen, kennt auch dich und hat dich lieb.” So schön, so elementar schön ist es gesagt, schöner kann´s keine Predigt sagen. Und: wie tief hinein gesungen in die Seele des Kindes von damals.

Oder, ein anderes: ”Alle Jahre wieder kommt das Christuskind... Ist auch mir zur Seite, still und unerkannt, dass es treu mich leite an der lieben Hand...” Was kann mir da noch passieren? Was kann mir noch passieren, wenn ich nicht allein durchs Leben gehen muss? Wenn einer da ist, der mit geht, still und unerkannt?

Und schließlich jenes Lied, das zum Zubettgehen gehört:...”Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein. Will Satan mich verschlingen, so lass die Englein singen: Dies Kind soll unverletzet sein.”

Welches Kind sollte da nicht gut einschlafen können? Engel, die ums Bett stehen. Ein umfassendes Geborgenheitsgefühl – auch wenn ich als Kind jahrelang nicht wußte, was ein Küchlein ist. Ein Küken eben, über das die Glucke behütend, sorgsam ihre Flügel legt.

Gut, dass mir dieses Gefühl vermittelt wurde. Ich scheue mich auch nicht, es zu sagen: Ich habe sie unseren Kindern auch vorgesungen, habe sie mit ihnen gesungen, diese Lieder, damit auch sie ihre Macht, Gottes Macht spüren: ”Kennt auch dich und hat dich lieb.” – „Ist auch dir zur Seite, still und unerkannt....“ - „Dies Kind soll unverletzet sein....“

Wohl den Kindern, die das hören, die das erfahren dürfen. Denen sie ins Herz gesungen wurden. Ob sie nicht gelassener, gefestigter, vertrauensvoller ins Leben geschickt werden?

Aber auch noch andere Lieder zeugen von ihrer großen, fast überwältigenden Macht:
”Lob Gott getrost mit Singen, frohlock, du christlich Schar! Dir soll es nicht misslingen, Gott hilft dir immerdar. Ob du gleich hier musst tragen viel Widerwärtigkeit, sollst du doch nicht verzagen; er hilft aus allem Leid.”

Das Wochen-Lied zum Sonntag Kantate. Sein Text, von den Böhmischen Brüdern geschrieben, zur Zeit der Reformation. Schon vor Luther gab es in dieser Tradition den unbändigen Willen, gegen die Mißstände der damaligen Kirche Sturm zu laufen und neues Leben, neue Gedanken, neue Lieder in diese Kirche hinein zutragen.

Aber der Widerstand war groß. Der Arm der Kirche reichte weit, und der Entschluss, Andersdenkende zu verfolgen und zum Schweigen zu bringen, war stark. Wir können es uns kaum noch vorstellen, was es bedeutete, der Mutter Kirche zu widersprechen, sich befreien zu wollen aus ihren Zwängen. Verfolgung, Folter, gar den Tod auf dem Scheiterhaufen auf sich zu nehmen. So, wie es Johannes Hus aus Böhmen ergangen ist.

Und dennoch, dennoch singen können: „Lob Gott getrost mit Singen....ob du gleich hier musst tragen viel Widerwärtigkeit, sollst du doch nicht verzagen, er hilft aus allem Leid.“

Und noch inniger, noch verzweifelter müssen sie doch dieses gesungen haben: ”Kann und mag auch verlassen eine Mutter je ihr Kind und also gar verstoßen, dass es kein Gnad mehr findt? Und ob sich´s möchte begeben, dass sie so gar abfiel: Gott schwört bei seinem Leben, er dich nicht lassen will.” Verstoßen fühlten sie sich damals. Ausgeschlossen vom Heil der Kirche, wo sie doch nichts anderes wollten als dringend nötige Reformen.

Aber: nicht wahr, wir wissen ja auch, wie es ist, auch in diesem 21.Jahrhundert: sich verlassen fühlen, von Gott und den Menschen; allein gelassen, sogar von der eigenen Mutter. Gewiss weniger von der Mutter Kirche.

”Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?” So schreien sie, ob laut - oder stumm in sich hinein, im Irak, in Palästina, in Afghanistan. – so schreien sie hinter den unzähligen Türen unserer Kliniken und Intensivstationen, und nicht weniger hinter manchen angeblich so heilen Fassaden von Ehen und Familien. Warum nur sehen wir nichts mehr von dir sehen, spüren nichts mehr von dir, erkennen nicht mehr, dass du da bist?–

Und dann dagegen, gegen diese Erfahrung ansingen können, fast verzweifelt, so, wie es die Böhmischen Brüder in ihrer notvollen Situation getan haben: ”Gott schwört bei seinem Leben. Er dich nicht lassen will...” Auch jetzt nicht. Nicht einmal auf dem Scheiterhaufen. Nicht einmal angesichts deines Scheiterns in Ehe oder Beruf. Nicht einmal angesichts deiner so zerbrechlich gewordenen körperlichen Verfassung.

Die Macht seiner Lieder: ich hoffe, dass sie sich immer wieder auf die legt, die sie ganz bitter nötig haben. Dass es eine tröstende, stärkende, belebende Macht ist, keine, die niederschmettert und ohnmächtig macht. Dass sie singen können, an den Gräbern, vor den Trümmern ihrer Lebenspläne, immer wieder, wenn die Worte versagen: “Gott schwört bei deinem Leben, er dich nicht lassen will.“ Nie und nimmer – ob du’s jetzt schon glauben kannst oder nicht.

Die Macht der Lieder. Darf ich noch von anderen, fast übermächtigen Erfahrungen reden?
Die Macht der Lieder, eben am Sterbebett, am offenen Sarg, am Grab.

Wie wir im Kollegenkreis am Bett eines uns sehr lieben und todkranken Amtsbruders, den ich über viele Wochen und Monate begleitet hatte in allen Phasen seiner Hoffnung und seiner Verzweiflung, gesungen haben. Alle die Lieder gesungen haben, die er sich für seine Beerdigung gewünscht hatte.

Den Chefarzt, der eben auf Visite war, höre ich noch sagen: „Singen sie, singen sie, wir können nichts mehr tun.“ – Anders gesagt: „Mit unserer Macht ist nichts getan…“
Und dann sangen wir alle die Lieder, die er sich ausgesucht hatte, vierstimmig.

”Der Herr ist mein Hirte” – im mehrstimmigen Psalmengesang. Und, weniger tanzend-beschwingt als es eigentlich hätte sein müssen, eher schwermütig: ”In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesu Christ. Wenn wir dich haben, kann uns nicht schaden Teufel, Welt, Sünd oder Tod; du hast´s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not....” Laut, fast zu laut haben wir es uns, so erinnere ich mich, von der Seele gesungen, in der Hoffnung, der Trost würde sich unser bemächtigen. Und zum Schluss dann noch, und da konnten wir schon fast nicht mehr singen, das Jubellied Philipp Spittas: ”Freuet euch der schönen Erde, denn sie ist wohl wert der Freud... Wenn am Schemel seiner Füße und am Thron schon solcher Schein, o was muss an seinem Herzen erst für Glanz und Wonne sein!”

Die jubelnde Macht dieses Liedes, in solcher Situation: sie hat uns fast niedergeworfen. ”O was muss an seinem Herzen erst für Glanz und Wonne sein.” Aber: sie hat gleichzeitig auch Hoffnung frei gesetzt. Sie hat uns mit einem Mal eine Zukunft eröffnet. Sie hat uns gleichsam den Himmel einen Spalt breit geöffnet. „O, was muss an deinem Herzen erst für Freud und Wonne sein..“

Die Macht der Lieder. Nein, längst nicht immer können wir Danklieder singen. Lieder des Dankes für erfahrene Hilfe und Heilung. Längst nicht immer geht uns das Herz so über, dass uns nur noch jubelnde Loblieder aus dem Munde strömen.

Oft sind es eher leise Lieder der Hoffnung: der Hoffnung darauf, dass Elende nicht ewig elend bleiben. Dass sich Sterbenden der Himmel auftut – und den Weiterlebenden auch. Denn:

Mit unseren Liedern können wir dem Stimme verliehen, wonach wir uns alle sehnen, worauf wir alle hoffen, was unser einziger Trost ist im Leben und im Sterben. Auch darin liegt ihre Macht.

„Er kommt, das Erdreich zu richten – wie es recht ist.“ So schließt der 98.Psalm, der Psalm dieses Sonntags Kantate.

Er kommt, zurecht zu bringen – alles recht, alles gut zu machen. Davon singen wir. Diese Hoffnung soll Macht über uns gewinnen. Darum singen wir, eben diese lebensschaffende Macht herbei-sehnend, herbei-singend – so, wie es die Böhmischen Brüder auch getan haben:

„Er wird uns auch erhalten in Lieb und Einigkeit und unser freundlich walten hier und in Ewigkeit.“ Darauf hoffen wir. Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin
e-mail: dorisgraeb@aol.com


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