Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag nach Epiphanias, 11. Januar 2004
Predigt übe
r Römer 12, 1-3, verfaßt von Thomas Bautz
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Liebe Gemeinde!

Wer weiß nichts von diesen „guten Vorsätzen“, die den Jahreswechsel auf die eine oder andere Weise kennzeichnen: Viele Menschen möchten im neuen Jahr für ihr ganz privates, persönliches Leben oder auch im Berufsalltag etwas ändern. Manche sind fest entschlossen, eine mehr oder weniger schlechte oder sogar ungesunde Gewohnheit – wie z.B. das Rauchen oder den regelmäßigen Alkoholkonsum – aufgeben. Andere haben vor, energiesparender und umweltbewusster Auto zu fahren, und wieder andere möchten mehr Zeit für ihren Ehepartner und für die Kinder investieren. Manche Kinder wiederum haben sich fest vorgenommen, fleißiger für die Schule zu lernen, sich mehr zu bemühen, auch wenn sie „keinen Bock“ haben. Studierende wollen ernsthafter und konsequenter studieren und baldmöglichst einen Abschluss anvisieren. Menschen in den sog. helfenden Berufen möchten sich entweder noch wahrhaftiger und gewissenhafter um ihre Klienten, Patienten oder auch um ihre Kirchensteuer zahlenden Gemeindeglieder kümmern. So mancher Helfer entdeckte im alten Jahr hier und da seine Überforderung (burn out syndrom) und seine eigene Hilflosigkeit und hat für das neue Jahr einschneidende Veränderungen – z.B. einen längeren Kuraufenthalt oder ein sog. Sabbat-jahr – eingeplant. Sie werden zweifellos diesen Beispielen eigene, Ihnen naheliegendere hinzufügen können.

Die meisten von uns können „ein Lied davon singen“, wie schwer es uns üblicherweise fällt, unseren guten Vorsätzen tatsächlich gerecht zu werden bzw. sie in die Tat umzusetzen.

Woran das im Einzelnen liegen mag, muss wohl jeder für sich herausfinden. Ich versuche nur, einigen möglichen Ursachen nachzuspüren.

Zum einen könnte der Zeitpunkt für eine Veränderung unangemessen gewählt sein: Der Jahreswechsel bietet sich ja zunächst lediglich als äußerer Anlass an. Hingegen kann es gut sein, dass die innere Uhr, der seelisch-geistige „Kalender“ eines Menschen nach völlig anderen Kriterien verlangt; oft ist das Innenleben, d.h. die Zeit als Qualität noch gar nicht reif für eine Veränderung. Dann ist es auch kein Wunder, wenn der- oder diejenige den guten Vorsatz alsbald wieder aufgibt oder die Energie zur Verwirklichung allmählich versiegt. Ich denke, dass hierin eine Hauptursache für das Scheitern so mancher wohl gemeinter Vorsätze liegt. Außerdem scheint es für die meisten nahezu unmöglich zu sein, ihr Verhalten „von heut auf morgen“ zu ändern. Hilfreich wäre es, sich einmal zu überlegen, wie lange ein bestimmtes Verhalten oder gar eine Charaktereigenschaft bisher gelebt wurde. Vielleicht sollten wir in dieser Hinsicht geduldiger und barmherziger mit uns selbst und anderen Menschen umgehen. Denn nur wenigen ist es offenbar gegeben, kraft ihrer Vernunft und Willensanstrengung sich ab sofort zu ändern oder ein anderes Verhalten an den Tag zu legen.

Zum anderen neigen einige Menschen manchmal dazu, sich zu überfordern. Sie stellen zu hohe Erwartungen an sich; das Ziel ist zu hoch gesteckt. Oft ist die „Psychologie der kleinen Schritte“ realistischer und daher hilfreicher, als alles auf ein Mal erreichen zu wollen. Also: ein Raucher sollte seinen Konsum stufenweise einschränken, maßvoller mit dem Tabakgenuss umgehen, oder vielleicht überhaupt wieder das Genießen lernen, falls bereits ein Suchtverhalten entstanden ist. Ebenso könnte der Alkoholkonsum auf ein vernünftiges, d.h. bekömmliches, die Person nicht einschränkendes Maß reduziert werden. Der Genuss von Wein und Bier ist zweifelsfrei etwas Köstliches; ein Suchtverhalten oder eine Abhängigkeit aber fügt dem Menschen körperlichen und seelischen Schaden zu und verändert auch sein Sozialverhalten. Wie viele Ehen und Familien leiden in nahezu unbeschreiblicher Weise unter den Folgen einer Sucht, ob es sich nun um Nikotin-, Alkohol-, Tabletten- oder Drogenmissbrauch bzw. –abhängigkeit handelt: auch Spielsucht gehört dazu.

Ohne ärztliche Hilfe schafft kaum jemand den Weg aus Sucht und Abhängigkeit. In der Regel empfiehlt sich auch eine psychotherapeutische Begleitung, um möglichen Ursachen für das Verhalten des in Abhängigkeit Geratenen auf die Spur zu kommen und gemeinsam einen Weg zur Befreiung und Gesundung zu finden.

Manchmal – meistens in der Phase der Pubertät oder der Adoleszens - greifen Menschen aus Leichtsinn zu Tabak und Alkohol; Kinder und Jugendliche benutzen es als Indikatoren dafür, dass sie ihrer Auffassung nach schon „erwachsen“ sind, dass sie auch einen Anspruch auf die Rechte haben, die normalerweise nur Erwachsenen gebührt. Zu den Pflichten der Erwachsenen haben sie seltener eine Affinität. Zum Glück unterwerfen sich die meisten nur vorübergehend einem solchen Verhalten.

Dennoch ist es erschreckend, wie viele Kinder bereits nikotin-, alkohol- oder drogenabhängig sind. Diese Kinder und die enorm große und weiter ansteigende Zahl der suchtkranken Erwachsenen in unserem Land sind – so traurig es ist zu sagen – ein Spiegel unserer Gesellschaft.

Diese Aussage bliebe eine Floskel und Sie wären mit Recht empört, wenn sie nicht näher ausgeführt würde. Ich möchte dabei auf den Predigttext des heutigen Sonntags zu sprechen kommen, weil Paulus darin m.E. darin grundlegende Maßstäbe für christliches Verhalten setzt, die unsere Sinne schärfen können. Wohltuend dabei ist, dass er einen ermutigenden Ton anschlägt und dass er an die Barmherzigkeit Gottes erinnert; aber hören Sie selbst (1):

Ich ermutige euch nun, Geschwister [im Glauben], auf Grund der Barmherzigkeit Gottes:

Stellt euer ganzes Leben Gott zur Verfügung! Bringt ihm euch selbst als lebendiges Opfer dar, wie es ihm wohlgefällt! So vollzieht ihr einen Gottes dienst – mit Leib und Seele, der ihm gemäß ist. Passt euch nicht diesem Zeitgeist an; lasst euch vielmehr verändern (verwandeln) durch Erneuerung eures kritischen Unterscheidungsvermögens. Dann könnt ihr prüfen, was Gottes Wille ist, was vor ihm als gut, wohlgefällig und vollkommen gilt. Ich rede nämlich kraft der Gnade, die mir verliehen ist, zu einem jeden unter euch: sich nicht höher (oder besser) einzuschätzen, als es einem gebührt, sondern darauf bedacht zu sein, dass man besonnen sei, wie Gott einem jeden das Maß des Glaubens zugeteilt hat.

Es hört sich vielleicht ungewöhnlich an: Aber wir dürfen zur Vernunft kommen , weil Gott sich schon längst und immer wieder über uns erbarmt hat. Wir wissen es: Vieles was wir tun und manches, wie wir es tun, ist ganz und gar nicht vernünftig. Wir schaden manchmal uns selbst; wir belasten die Umwelt; wir denken, reden und handeln uns und anderen Menschen gegenüber oft genug unbarmherzig. Aber Gott ist barmherzig . Auf dieser Grundlage ermutigt Paulus die Gemeinde zu Rom.

Er ermahnt sie aber auch, sich nicht dem Zeitgeist anzupassen, sich nicht „in ein Allerweltsschema pressen“ zu lassen. Interessanterweise grenzt sich Paulus in diesem Zusammenhang von einer damals unter Gebildeten herrschenden Auffassung von Gottesdienst ab: Der Christ solle seine Religiosität nicht nur vom Verstand her – also geistig, sondern mit Leib und Seele ausüben. Das ganze Leben, die gesamte Existenz solle Gott zur Verfügung stehen, so als brächte man sein Leben als Opfer dar; darin bestünde der Gottesdienst, wie er Gott wohlgefällt.

Gewöhnlich sind Frömmigkeit, Glaube, Religionsausübung bestenfalls Bestandteile im Leben eines modernen Menschen. Gewiss, an christlichen Ritualen wird noch festgehalten, weil sie entweder als Kulturgut gepflegt oder sogar als hilfreich empfunden werden. Gottesdienste werden noch besucht oder im Fernsehen angeschaut. Aber das Leben – die ganze Existenz – als Gottesdienst? Sind manche nicht geneigt, jemanden wie Paulus an dieser Stelle als weltfremd zu bezeichnen?

Nun, ich gebe zu, auch mir ist die paulinische Rede vom Opfer – wie überhaupt jeglicher Opfergedanke nicht nur fremd, sondern sogar zutiefst suspekt. Wie viele Menschen wurden schon im Namen einer Religion (auch der christlichen) geopfert und werden es immer wieder! Auf der anderen Seite gebe ich zu, dass ich früher meine Zeit, meine Gesundheit, meine Kräfte manchmal für „nichts und wieder nichts“ geopfert habe, z.B. fürs Fernsehen.

Wenn sich jeder Mensch einmal fragte, für wen oder was er sich eingeschränkt oder sogar nahezu uneingeschränkt zur Verfügung stellt; wenn wir einmal anfangen, kritisch zu beleuchten, wer oder was über uns verfügen darf, werden wir vielleicht erstaunt sein.

Paulus wünscht seiner Gemeinde ein Unterscheidungsvermögen, d.h. die Befähigung, auf ganz neue Art vernünftig zu werden und sehr genau zu prüfen, was im Einzelfall wirklich gut, d.h. passend ist, und zwar von einer „höheren Warte“ aus betrachtet. Was vor Gott wohlgefällig und vollkommen ist, lässt sich offenkundig nicht allgemein oder ein für alle Mal sagen. Wenn dem so wäre, ließe sich eine absolute Ethik christlichen Handelns und Lebens entwickeln und empfehlen.

Das Leben eines einzelnen Menschen wie auch das Leben in einer Gemeinschaft – beides kann Widersprüche beinhalten oder zumindest auf andere, etwa Außenstehende und Anders-denkende widersprüchlich wirken. Was für den einen richtig ist, kann für den anderen falsch sein. Wenn ich z.B. allgemein empfehlen würde, man solle gegen des Strom schwimmen, könnte das von einigen missverstanden werden, so als sähe ich einen Christen am liebsten als einen „Aussteiger“ oder als einen Sozialrevolutionär.

Nein, kraft der Barmherzigkeit Gottes, wenn ich das – scheinbar überschwänglich nochmals so formulieren darf –soll niemand in irgendein Schema gepresst werden. Vielmehr geht es darum, das Individuum zu einem neuen Urteilsvermögen zu befreien; der Gott wohlgefällige Gottesdienst hilft dabei, gängige und scheinbar selbstverständliche Schablonen und Denkschemata zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Etwa so: Wer sagt mir eigentlich, was gut ist? Wovon hängt mein Leben vorwiegend ab? Was und wer sind mir im Leben dauerhaft wertvoll? Bin ich im Großen und Ganzen so zufrieden, dass ich auch noch Raum habe für andere? Bin ich so frei, dass ich auch frei bin für andere Menschen, die vielleicht meiner Hilfe oder Unterstützung bedürfen? Bin ich bereit, Verantwortung zu übernehmen?

Bin ich mit Mittelmäßigkeit zufrieden, oder habe ich mich gar abgefunden mit einer scheinbar sicheren (bürgerlichen) Existenz, aber ohne Herausforderungen, ohne Risiken, ohne Wagnisse? Verschließe ich mich vielleicht gegenüber der Fülle des Lebens? Halte ich das Streben nach Vollkommenem für utopisch oder meine, dies bliebe einigen Idealisten oder Träumern vorbehalten?

Nun, ein altes Sprichwort sagt: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! – Gewissermaßen ist das Vertrauen auf die Barmherzigkeit Gottes immer wieder ein Wagnis, und es beinhaltet allemal Risiken und birgt sogar Gefahren. Aber wer sich darauf einlässt, wird erfahren: er oder sie wird verwandelt. Wer durch Gottes Erbarmen ermutigt und ermahnt wird, sich in kein Schema pressen zu lassen, wird in den Genuss vollkommener Freiheit gelangen: Freiheit von allem, was Leib und Seele versklavt oder in Abhängigkeiten treibt; aber auch die beglückende Freiheit, für andere Menschen oder für eine gute Sache einzutreten.

Es gibt zum Glück viele Menschen, diese Veränderung in ihrem Leben erfahren; einige bringen das nicht unbedingt mit ihrem Glauben oder mit Gottes Barmherzigkeit in Verbindung. Darauf kommt es wahrscheinlich auch gar nicht an. Aber wenn ich schon meine, Gott einen Dienst erweisen zu können, - wenn schon „Gottesdienst“, dann „ganz“ – mit Leib und Seele!

Mich hat diese Auffassung von Paulus schon von Jugend auf beschäftigt und immer wieder mehr als nachdenklich gestimmt. In den Kirchen, in den Gemeinden feiern wir Gottesdienste. Das kann etwas sehr Schönes, eben Feierliches – Ernstes und auch Fröhliches – sein. Aber das ist doch nur die eine Seite der Frömmigkeit oder der Religionsausübung. Die andere Seite äußert sich doch wohl darin, dass Gottvertrauen im alltäglichen Leben seinen Ausdruck, seine vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten findet. Wie sieht es aus in den „christlichen Familien“, in der Kindererziehung (nach der Taufe). Gibt es noch so etwas wie eine „christliche Lebens-haltung“? Gibt es spezifisch christliche Werte?

Persönlicher gefragt: Sind wir unserem Schöpfer z.B. noch wirklich dankbar für „unser täglich Brot“? – Oder wie verhält sich dieser Dank gegenüber den erschreckenden und für viele durchaus belastenden, bedrückenden Tatsachen und Problemen in der Weltwirtschaft?

Wenn mehr Menschen bereit wären, Gott ihr Leben mit Leib und Seele zur Verfügung zu stellen, würden diese und andere Probleme sicher auch in dieser oder auch nur der nächsten Generation zu lösen sein. Aber es bestünde die Chance, mit mehr Aufrichtigkeit, Wahrhaftig-keit und Ehrlichkeit und auch dem Willen, von einander zu lernen, einige mögliche Wege zu einer Lösung zu öffnen – im Kleinen wie im Großen.

Das walte Gott, der einem jeden ein Maß des Glaubens zugeteilt hat!

Amen.

(1) Nach eigener Übersetzung und Übertragung; vgl. Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht; Ernst Käsemann, An die Römer, HNT 8a ( 4 1980); Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer, EKK VI/3 (1982); Das Neue Testament. Übersetzt von Fridolin Stier (1989).

Thomas Bautz


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