Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

1. Sonntag im Advent, 30. November 2003
Predigt
verfaßt von Kirsten Jørgensen (Dänemark)
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


Es gibt eine Zeit des Wartens und der Er-wartens. Die Adventszeit ist beides, wir warten und erwarten.
Besteht aber überhaupt ein Unterschied zwischen diesen beiden Worten? Ist Warten nicht dasselbe wie Erwarten?
Gerade in der Adventszeit könnte man ja alles über einen Kamm scheren und sagen, daß wir warten und erwarten. Wir warten darauf, daß Weihnachten kommt, daß Gott sich ganz auf unsere Erde hinabbeugt. So weit, daß er selbst ein Teil dieser Erde wird. Und weil wir schon wissen, wer das ist, auf den wir warten, erwarten wir uns alles Gute von dem, was kommen wird. Wir glauben, wenn sich Gott ganz herabbeugt bis unter die Erde, und von dort wiederkommt, geschaffen wie jeder Mensch aus der Erde, aus der Gebärmutter einer Frau, so bedeutet dies, daß er sich ganz wirklich mit uns gleich gemacht hat und damit unsere Menschlichkeit gutgeheißen hat in all ihrer Größe und Schwachheit, Stärke und Verletzlichkeit.
In der Adventszeit vereinen sich die Zeit des Wartens und Erwartens und werden zu einer guten Zeit.
Die Wartezeit wird dadurch versüßt, daß wir schon wissen, worauf wir warten.
Wir wissen, was wir erwarten können, und daß dies etwas Gutes ist. Und eben darum geht es in der Adventszeit: Daß wir wissen, worauf wir warten und es deshalb wagen, uns alles Gute zu erwarten. Das gibt der Wartezeit eine Ruhe, wir können lächelnd, freudig und still warten.

So aber verhält es sich nicht mit aller Wartezeit. Wenn wir auf etwas warten, so geschieht dies oft mit Angst und Unruhe. Oder vielleicht verärgert, beleidigt oder zornig. Warum kommt das nicht, worauf wir warten? Oder wann kommt es?
Wir warten auf das Ergebnis der Untersuchung im Krankenhaus - sind wir krank oder gesund?
Wir warten auf die Stelle, um die wir uns beworben haben - werden wir genommen oder abgelehnt?
Wir warten auf die Liebe - ist da jemand, der auf uns wartet?
Wir warten auf das Kind - wird es ein gesundes Kind?
Wir warten auf das Glück, auf das Leben, auf den Tod, darauf, daß das Leid ein Ende hat oder daß die Freude kommen soll.
Wir warten auf den Sinn, die Antwort, ein Verstehen.

Vladimir und Estragon warteten auf Godot in dem Schauspiel, das das Warten der Menschen auf einen Sinn des Lebens schildert. Godot kam nie, die beiden Landstreicher Estragon und Vladimir warteten vergeblich, denn es ging dem Autor eben darum, uns Zuschauern zu erzählen, daß es keinen Sinn des Lebens gibt, das Dasein ist in sich sinnlos.
Die Unruhe, auf etwas zu warten, von dem man nicht sicher ist, ob es je kommt, kennen die meisten. Wie Vladimir und Estragon warten wir darauf, daß das Leben aufgeht. Daß der Sinn des Ganzen sich zeigen soll und sich alles nach einem schönen Muster fügen soll. Aber es ist eine ängstliche Wartezeit, denn unsere Erfahrung ist die, daß das Leben eben nicht aufgeht.

Wir sind ungeduldig in unserem Warten.
Moderne Menschen meinen nun, es sei nicht recht, daß wir warten müssen. Unser Warten erhält Zuge der Berechtigung. Wir meinen, wir haben ein Recht auf Glück, Liebe, das Kind, die Freude, den Sinn. Wir haben keine Zeit mehr, darauf zu warten, daß es zu uns kommt, oder keine Geduld, uns damit abzufinden, daß es vielleicht nicht in der Gestalt kommt, die wir uns gewünscht haben.
Uns fehlen Gelassenheit, Geduld. Gelassenheit in dem Sinne, daß man darauf wartet, daß die Dinge von selbst kommen. Und weil uns Gelassenheit fehlt, werden wir ausfahrend, aggressiv in unserem Warten.
Wir werden ausfahrend und wollen uns selbst übernehmen. Wir raffen uns Dinge zusammen.
Jemand hat uns weisgemacht, daß wir nicht warten müssen, sondern das Leben selbst schaffen sollen, daß wir selbst unser Glück schmieden sollen, und deshalb bekommen wir Angstschweiß im Ofen unseres Lebens: Was ist, wenn uns das nicht gelingt?
Jemand ist es gelungen, uns den Gedanken einzupflanzen, daß unsere Welt leer ist und daß wir selbst dafür sorgen müssen, sie zu füllen. Wenn du also nicht selbst losgehst und dir Glück schaffst, bekommst du es nie. Es gibt da nichts, worauf wir warten sollen, sagen sie. Wer nur wartet, ist ein Narr, an ihm geht das Leben vorbei, während wir wieder losziehen, um es einzuholen und anzueignen.
Wer das nicht aushalten kann, resigniert, gibt auf. Man ist überfordert mit der großen Schmiedearbeit am Lebensglück und gibt auf.
An sich zu raffen und aufgeben - beides ist gleich schlimm.

Wer predigt, daß die Welt leer ist und daß Sinn etwas ist, das du selbst mitbringen mußt, redet dem Teufel das Wort. Denn es ist teuflisch, Menschen weiszumachen, daß wir selbst unser Leben füllen sollen und daß wir nichts anderes Gutes erwarten können als das, was wir selbst schaffen. Welch eine Last wird uns da aufgebürdet!
Und das ist eine Lüge.

Die Adventszeit sagt das Gegenteil. Sie sagt, daß die Zeit voll ist von etwas, was zu uns von selbst kommt.
Du bist nicht, was du selbst produzierst - du bist, was du empfängst. Du bist, was zu dir kommt.
Das Christentum widerspricht unserer Geschäftigkeit, es widerspricht dem Kampf um das Dasein - denn es sagt, daß es darum geht, zu empfangen und weiterzugeben, was du selbst empfangen hast.
Das ist alles, und das genügt.
Und du hast reichlich damit zu tun, das zu leben.
In der Adventszeit warten wir auf den Gott, der ganz von sich aus kommt. Den Gott, der Liebe ist und der uns annimmt, der ganz von sich aus kommt. Das ganze Jahr hindurch haben wir uns vielleicht damit abgemüht, die schwere Last zu tragen, die mit dem Glauben verbunden ist, daß wir unser Leben schaffen müssen. Nun aber ist es Adventszeit, und es zeigt sich, daß alles von selbst kommt. Adventszeit heißt, Ruhe zu finden in der Erwartung, daß alles gut wird. Auch wenn wir vielleicht auf ein Jahr zurückschauen, das voll war von Enttäuschungen und Entbehrungen.Advent heißt erwarten, daß da immer mehr ist als unsere Enttäuschungen und Entbehrungen. Da ist stets mehr zu erwarten. Das Eis schließt sich nicht - Advent ist eine Öffnung im Eis, wo Leben ist.

Manche meinen, daß die wichtigsten Gebote des Christentums die zehn Gebote des Mose sind. Wenn wir die halten, ist alles in Ordnung.
So ist es nicht.
Das wichtigste Gebot des Christentums, das wir in der Adventszeit hören, ist Großzügigkeit. Großzügig sein heißt offene Hände haben, verschwenderisch sein mit dem, was man hat.
Was ist nötig, damit man großzügig sein kann?
Eine bestimmte Erwartung, die nämlich, daß kein Zusammenhang besteht zwischen dem, was man hat, und dem, was man gibt. Großzügig sein heißt davon überzeugt sein, daß meine Hände immer voll sind, weil mir immer gegeben wird.
Großzügigkeit ist das Gegenteil von Geiz und Gier.
In der Gier rafft man an sich. Im Geiz hält man an dem fest, was man hat, weil man Angst hat, daß nicht mehr kommt.
Großzügig sein heißt davon überzeugt sein, daß man immer empfängt.

Die Adventszeit ist die Zeit der Großzügigkeit. Während wir unsere Kronen bzw. Euros im teuren Dezember zählen, hören wir hier in diesem Hause, daß wir immer erwarten können, daß reichlich da ist von dem, was wir wirklich brauchen, und daß es von selbst kommt.

Siehe, dein König kommt zu dir, sanftmütig, auf einem Esel reitend.
Wir warten mit ruhigen Händen und erwarten uns alles Gute.

Pastorin Kirsten Jørgensen
Præstegade 2
DK-5300 Kerteminde
Tel.: ++ 45 - 65 32 13 20
e-mail: kjoe@km.dk


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