Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

„Ein Hauch von Leben - unvergessen“
Enthüllung eines Gedenksteins für die Grabstelle von Kindern, die vor ihrer Geburt gestorben sind.
Predigt über Genesis 28, 10-14, Wolfgang Petrak
Ansprache zur Enthüllung, Birgit Scharnowski-Huda
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Vorbemerkung: Seit dem Jahr 2002 beerdigen wir auf unserem kirchlichen Friedhof unentgeldlich drei bis viermal im Jahr Kinder, die noch vor ihrer Geburt gestorben sind. Diese Beerdigungen werden zusammen mit der Aktion Regenbogen durchgeführt. Am 21.9 ist auf dieser Grabstelle ein Gedenkstein entrichtet worden, den Herr Wolf, ein Göttinger Steinmetz, gestiftet hat. Seine Inschrift nimmt das Motto der Aktion Regenbogen auf: „Ein Hauch von Leben - unvergessen“. So haben betroffene Angehörige einen Ort der Trauer und des Gedenkens. Darauf bezieht sich die folgende Predigt.

„Christus hat dem Tod die Macht genommen“. Deshalb gehört es zu unserer Aufgabe, dass wir uns der Trauer stellen, ihr Raum geben und Ausdruck verleihen; dass wir einen Ort des Gedenkens haben, zu dem wir gehen können und von dem aus wir aufbrechen können. Ein Hauch von Leben - unvergessen. Um bewahren zu können, werden wir im Anschluss an diesen Gottesdienst einen Gedenkstein enthüllen. Um hoffen zu können, werden wir jetzt einen Abschnitt aus der Bibel (Gen. 28,10-13a.16-14a) hören.

„Aber Jakob zog aus von Beerseba und machte sich auf den Weg nach Haran und kam an eine Stätte, da blieb er über nacht, denn die sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen. Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes steigen daran auf und nieder. Und der Herr stand oben darauf und sprach: Ich bin der Herr. Als nun Jakob von seinem Schlaf erwachte, sprach er: Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht! Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels. Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl darauf und nannte die Stätte Bethel“.

Da ist der Stein gewesen und hier sind wir, können ihn sehen und fühlen: Er ist älter als wir, seine Zeit übersteigt bei weitem unser persönliches Gedächtnis, ja auch unser kulturelles Gedächtnis. Unzählige Namen könnte man in ihm eintragen, auch den des Jakob; und so könnte der Stein Gestalt und zu einem Ausdruck menschlicher Geschichte werden. Doch jener Stein war stumm gewesen. Und hart. Jakob aber nahm ihn und legte ihn zu seinen Häupten. Denn selbst die Härte kann einen stützen.

Da ist Jakob gewesen und hier sind wir. Mit unseren Gedanken. Den Erinnerungen. Mit dem Wissen um die Brüche, mitten im Leben. Mit der Trauer, die sich einnistet, verkapselt und nur selten sich zu Wort meldet und einen Ausdruck findet. Da ist Scham, das Wissen um Schuld. Auch dem Jakob ist die Sonne untergegangen. Kein Wort verliert er darüber, was in seinem Leben gewesen war. Auf der Härte des Steines schläft er. Und ihm träumt, und siehe, es ist ganz anders als wir es kennen: es sind keine Albträume, die das Geschehene aufreißen: Es sind keine Wunschträume, die das Gewesene für einen Sekundenbruchteil zu überdecken suchen, um dann umso jäher mit dem Schmerz der Realität zu konfrontieren; - Jakobs Traum ist der Traum einer ganz anderen Welt, die keine Verknüpfung mit dem bisher Erfahrenen erkennen lässt, wenngleich die Leiter, auf dem Engel Gottes auf- und absteigen....ach nein, wörtlich übersetzt ist es keine Leiter, sondern eine Treppe wie in einem Palast. Und eine solche Treppe ist aus Stein, und Jakobs Kopf ruht auf einem Stein, so als ob trotz der Härte, so als ob mit der Härte etwas ganz Neues beginnt, das nach einer anderen Richtung weist.

Da ist Jakob im Traum, er sieht nach oben, sieht also von sich ab, sieht den, den man nicht sehen darf und dessen Name unaussprechlich ist. Unsagbar, vielleicht auch unsäglich ist der, der alles so herrlich regieren und an der Spitze stehen soll, der aber in Wirklichkeit- ach nein, ich darf mit meiner Erfahrung nicht so schnell urteilen, muss genauer hinsehen, von der Traumdeutung ablassen und seine Sprache zunächst genau übersetzen, verstehen, was da geschrieben steht. Und da steht: „Der Herr stand über ihm. Und zugleicht steht da: „...neben ihm“. Über und neben. Im Hebräischen ein Wort mit zwei Bedeutungen. Beides aber gilt und ist zusammen gemeint. Der Herr ist hoch erhaben. Und: Gott kommt die Treppe runter, um dort bei dem zu stehen, der auf hartem Stein liegt. Deswegen gibt Jakob dem Stein einen Namen. Bethel. Haus Gottes. Deswegen kann Jakob von diesem Ort weggehen. Weil er weiß, dass der Herr nicht oben in der Ferne bleibt, sondern herunter kommt, um nah zu sein und mitzugehen.

Da ist Jakob gewesen und sein Stein könnte reden. Hier sind wir, und da ist ein Stein auf dem Friedhof, der etwas ausdrücken wird: Ein Hauch von Leben - unvergessen. Leben, das so jung gewesen ist, so einmalig, das tief innen kommuniziert hat, und es waren soviel Träume da, Hoffnungen: Es ist so hart, wenn alles anders geworden ist, wenn wie von oben genommen worden ist, was die gleiche Hand gegeben hat. Hart und versteinert kann innen das Herz werden, wenn keiner von außen hören will, wenn die Sprache sich versagt. Meine Mutter musste über 90 Jahre alt werden, ehe sie davon sprechen konnte, dass sie eine Totgeburt gehabt hatte; ich aber blieb stumm, wusste nichts zu sagen und wusste nicht zu teilen. Trost hatte sie wohl auch nicht erwartet, weil es diese Härte gibt, die sie an sich gefordert sah, dies Verlangen nach Fassung und Kontrolle.

Ein Hauch von Leben ist jedoch frei. So waren wir an einem Mittwoch in diesem Monat zusammengekommen, um unweit der Stelle, wo der Stein steht, junges Leben, das viel zu früh gestorben war, zu beerdigen. Gut, das es Tränen gab, weil sie von innen heraus fließen und etwas ausdrücken, was Worte nicht sagen können. Und als der Segen über dem Grab gesprochen war, löste eine Mutter einen mitgebrachten Luftballon. Langsam stieg er in den blauen Septemberhimmel und ließ die gesenkten Köpfe sich nach oben richten. Es lässt sich in der Härte der Trauer nicht einfach eine Treppe träumen, wohl aber lässt sich die Perspektive wechseln. Der Ort der Trauer und der Blick nach oben.. So fern, so nah kann er sein. Ein Hauch von Leben –unvergessen und ein Gott, der heruntergekommen ist, um mitzugehen. Wir gingen dann von der Grabstelle weg, um dann mit denen, die wollten, im Gemeindehaus einen Kaffe zu trinken. Still war es zunächst, doch dann fanden sich Worte ein, teilten gegenseitig die Leere mit, aber auch erfahrene Hilfe und Nähe: in der Gruppe, bei Freunden, im Krankenhaus. Eltern sagten, dass sie ihr Kind noch hätten sehen dürfen. „Wie ein kleiner Raumfahrer sah er aus“ sagte ein Vater leise, „ wie ein kleiner Raumfahrer“. Ein Hauch von Leben- Bote zwischen den Welten. Hart war der Stein, auf dem Jakob gelegen hatte, doch er hat anders gesehen dass, der oben ist, unten sein will, ganz nah.

Wir brauchen den Ort der Trauer, wir brauchen den Stein, der alles aufnimmt. Wir brauchen den, der mitgeht, damit wir gehen können, wohin er uns stellt. Amen.

Lied nach der Predigt: Befiehl du deine Wege EG 361,1+7+12

P. Wolfgang Petrak
Schlagenweg 8a
37077 Göttingen
e-mail: W.Petrak@gmx.de

Aus dem Redeskript von Birgit Scharnowski-Huda ( Aktion Regenbogen)
zur Einweihung des Grabfeldes für fehlgeborene Kinder und dem Gedenkstein „Ein Hauch von Leben - Unvergessen“

Ich begrüße Sie recht herzlich, meine Damen und Herren, guten Tag! Und ich begrüße ebenso herzlich alle betroffenen Mütter und Väter, meine Freunde und Bekannten, die heute hier her gekommen sind, um an der offiziellen Einweihung dieses Grabfeldes und dieser Gedenkstätte mit dem schönen Stein teilzunehmen.
Es ist mir eine besondere Ehre, dass die Gründerin der I.R., Barbara Künzer-Riebel , meine Einladung angenommen hat und heute hier ist.
Dass ich heute hier stehe und zu Ihnen spreche, hatte seinen Beginn vor 10 Jahren. Ich war mit meinem dritten Kind schwanger. Auch wenn ich mich ein wenig anders fühlte als in den anderen Schwangerschaften ging ich davon aus, dass ich zum Ende des Jahres vermutlich ein gesundes Kind bekommen würde. Einen Monat später, am 21.Oktober 1993, wurde Simon geboren. Simon war gestorben. Noch in meinem Bauch und ich brachte ihn tot zur Welt.
Dieser frühe Tod meines Kindes hat mich verändert und meinem Leben eine andere Richtung und Dimension gegeben. Nach anfänglicher großer Trauer um Simon, beschloss ich nach ungefähr einem Jahr, Ansprechpartnerin und Fürsprecherin für andere betroffene Eltern zu werden. Dass ich nicht alleine mit meinem Schicksal war, hatte ich in vielen Gesprächen feststellen können.
Jährlich werden in Deutschland ca.3000 Kinder tot geboren und noch einmal so viele sterben im 1. Lebensjahr. Diese Eltern beerdigen ihre Kinder und haben eine Stelle zum Trauern.
Weiterhin werden in jedem Jahr ca. 200 000 Frauen wegen Schwangerschaftsproblemen stationär behandelt, fast die Hälfte von ihnen erlebt eine Fehlgeburt, d.h. sie verliert ein Kind, welches weniger als 500 Gramm wiegt.
Auch diese frühverwaisten Mütter und Väter müssen lernen, mit ihrer Trauer und ihrer verlorenen Hoffnung umzugehen. Ein Grab kann dabei eine Hilfe sein. Aber viele beklagten, dass sie keinen Ort hatten, an den sie ihre Trauer tragen konnten.

Ich zitiere nun Sätze, die auf der HP der IR zu finden sind
Im Sommer 1998 begann in Deutschland eine Bewegung, die bis heute anhält.
Nach einer Fernsehsendung startete die IR eine große Umfrageaktion bei Geburtskliniken. Auf die Frage “Wo verbleiben totgeborene Babys unter 500 Gramm in Ihrem Haus” erhielt die IR viele Antworten, die nicht immer freundlich und ausführlich abgefasst waren. Entweder erfuhren wir, dass diese Kinder in die Pathologie gegeben wurden und der weitere Verbleib nicht bekannt ist, oder wir erhielten gar keine Antwort.

Wenige Kliniken, gaben die beruhigende Auskunft, dass sie diese kleinen Kinder einer anonymen Bestattung zuführten, teils in hauseigenen Grabfeldern, teils in von Stadt oder Gemeinde zur Verfügung gestellten Grabfeldern.
Aber diese Klinken dienten als Beispiel dafür, anderen Kliniken Wege aufzuzeigen, dieses traurige Ereignis für die Betroffenen zu einem würdigen Abschluss zu bringen.
Aus der Praxis wissen wir, wie häufig Mütter nach Wochen, Monaten, ja auch nach vielen Jahren fragen, wo ihr Baby damals verblieben sei, als sie es der Klinik überlassen hatten, und die Antwort auf diese Frage ist nicht immer leicht gewesen. Nun hatten wir konkretere Angaben und konnten vielleicht helfen.
Mittlerweile gibt es vielerorts Gedenkstätten und Grabfelder für tot geborene Kinder. In Göttingen werden seit Beginn des Jahres 2000 alle fehlgeborenen Babys beerdigt. Dank der professionellen Unterstützung werden.
Seit Beginn des Jahres 2002 finden die Beerdigungen auf dem Friedhof der Gemeinde St. Petri statt.
Die Informationen über die Beerdigungen werden von den Kliniken in Göttingen und im Landkreis weitergegeben. Auch hier bedanke ich mich bei allen Helfern, die beteiligt sind. Allerdings wünsche ich mir für die Zukunft, dass der Informationsfluss noch besser laufen wird und nahezu jede Frau über den Verbleib ihres Kindes Bescheid wissen wird
Lieber Herr Wolf, als letztes gilt mein großer Dank Ihnen. Als Sie mir die ersten Pläne für dieses Grabfeld und den Gedenkstein vorstellten und ich Ihre schönen Ideen erleben durfte, war ich sicher, dass Sie uns mit etwas ganz besonderem beschenken wollten. In diesem Stein zeigt sich zum einen, was verwaiste Eltern nicht weitergeben können: Die Liebe zu unseren ganz Kleinen, die nicht leben durften. Zum anderen zeigt der Regenbogen, das Symbol der Hoffnung, dass Trauer nicht endlos lange anhalten muss.
Ich danke Ihnen allen! Danke im Namen der ungezählten Eltern, die ihr Kind nicht begraben durften und endlich wissen, wohin sie ihre Tränen tragen können.


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