Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Letzter Sonntag des Kirchenjahres (Ewigkeitssonntag), 23. November 2003
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Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod

Requiem und Spätmoderne -
Überlegungen zur Funktion des Ewigkeitsmotivs in jenseitsloser Zeit
(1)

von Ulrich Braun

(Text des Requiems: http://www.kirchenmusik.kaufbeuren.de/TextVerdi.htm)

Der Tod ist ein großes Lebensthema. Er beschäftigt Religion und Kunst gleichermaßen und diese Beschäftigung begründet zu einem nicht geringen Teil beider Verwandtschaft. Eine der höchsten Formen der Verschmelzung von Religion und Kunst findet sich im Requiem. Die aus der Totenmesse erwachsene musikalische Gattung hat alle Umformungen der Religion, ihrer Bild- und Symbolwelten, weitgehend intakt überstanden. Und wenn es für Protestanten, Agnostiker – und vielleicht sogar den einen oder anderen Atheisten – einen Zugang zu römisch-katholischer Frömmigkeit gibt, so führt er über das zur Kunst gewordene Seelenamt, die Totenmesse, deren erste Worte lauten: requiem aeternam dona eis, deus – Ewige Ruhe gib ihnen, Herr.

Als ästhetische und musikalische Gattung stellt das Requiem damit eine Ausnahme im Gesamt der kirchlichen Lehren dar. Ja, es scheint, als habe es als liturgisch-ästhetisch-musikalische Gattung sogar denjenigen Paradigmenwechsel nahezu unbeschadet überstanden, der doch den größten Teil der in ihm enthaltenen und ausgemalten Bild- und Symbolgehalte selbst aufgelöst, der Unverständlichkeit oder der Anstößigkeit preisgegeben hat. Gemeint ist der sukzessive Verlust der Jenseitsvorstellungen insgesamt, besonders aber die im dies irae entfaltete Vorstellung vom Strafgericht des Jüngsten Tages.

Lang und erlesen ist die Reihe derjenigen Komponisten, denen wir je eigene Fassungen und Akzentsetzungen zum Requiem verdanken: Mozart, Haydn, Berlioz, Bruckner, Britten, Palaestrina, Dvorak, Cherubini, Liszt, Reger und viele andere haben sich darum bemüht. Vorklassik, Klassik, Romantik und Moderne sind in der Reihe vertreten. Sogar ein ausgesprochen protestantischer Wurf, nämlich der von Johannes Brahms im Deutschen Requiem, für das der Hanseat die traditionellen lateinischen Teile durch biblische Texte ersetzt hat.

Das Verdi-Requiem ist vielleicht besonders geeignet, die Fragen nach den Paradigmenwechseln der Moderne zu traktieren. Von Anfang an war es in mehrfacher Hinsicht umstritten. Verdi selbst empfand es zunächst als höchst überflüssig, noch eine Fassung einer von ihm als überflüssig empfundenen Form zu fertigen. Er selbst war nicht Mitglied einer Kirche und den Vorstellungen von Jenseits und Gericht wohl ebenso abholt wie man es von einem modernen Zeitgenossen nur erwarten darf. Andererseits hat er sich dann doch der darin enthaltenen dramatischen Potentiale mit einer Inbrunst angenommen, dass sich eine Unterstellung wohl von allem Anfang an verbieten müsste: die Unterstellung nämlich, es könnte sich bei seinem Requiem um eine Parodie handeln.

Dass sich die Unterstellung im Grunde verbieten müsste, heißt nicht, dass sie nicht doch gemacht worden wäre. Jedenfalls bildet sie wohl den Hintergrund derer, die Guiseppe Verdi beschuldigen, aus dem Requiem eine Oper gemacht zu haben. Damit will doch wohl gesagt sein, er habe die Form des Requiem durchaus unangemessen bearbeitet, habe aus der Totenmesse ein Spektakulum gemacht. Im günstigeren Falle wäre ihm das unterlaufen, weil er des religiösen Verständnisses ermangelte, im ungünstigeren, weil er bewusst auf Karikatur abgezielt hätte.

Es ist müßig, über Verdis wahre Motive zu spekulieren. Wie bei aller Kunst können wir das Urteil darüber getrost denen überlassen, die sein Requiem hören, die sich davon anrühren und bewegen lassen. Überaus lohnend ist es dagegen, Verdis Requiem zum Anlass für eine Betrachtung der Form der Totenmesse selbst zu nehmen, ihre Transformationen zu betrachten und den Paradigmenwechsel der Moderne in den Blick zu nehmen, welchen wir wohl mit Recht für Verdi selbst voraussetzen dürfen.

Eine kurze Geschichte des Requiems

Requiem aeterna – ewige Ruhe, mit diesen Worten beginnt die Traditionelle lateinische Totenmesse. Ihre Wurzeln hat sie bereits in den Begräbnisfeiern der Alten Kirche. Auf die Weise wie Paulus es formuliert hatte, wurde der Tod nicht als das Ende beklagt, sondern im Licht der österlichen Überwindung begangen. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ (1.Korinther 15,55). So jedenfalls übersetzte Martin Luther. Inwiefern es aus seiner Perspektive noch einmal die Überwindung der Hölle festzuhalten und zu formulieren galt, darauf werden wir zurückkommen.

In der Alten Kirche jedenfalls lag ein starker Akzent der Begräbnisfeier auf diesem Motiv der Überwindung. Der paulinische Ton bestimmte die Feier: „Christus ist mein leben und Sterben mein Gewinn“. (Philipper 1,21) Oder gar: „Ich habe Lust aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“ (Philipper 1, 23). Entsprechend wurden die Toten in weiße Kleider gehüllt und gegebenenfalls sogar mit einem Lorbeerkranz geschmückt, also mit Insignien der Überwindung und des Sieges versehen.

Diese Auffassung vom Tod und der noch wenig ausgemalten jenseitigen Welt schlägt sich in den Stücken requiem und lux aeterna deutlich nieder. Die Überwindung des Todes im sanctus und im agnus dei.

Diese Stücke aus der Messe hatten bald ihren festen Platz in den Seelenmessen und Totenämtern, welche dann auch zu den Gedenktagen für die Entschlafenen, in der Folge auch individuell zum Beispiel am Jahrestag des Todes gefeiert wurden.

Von allem Anfang an gehört auch die Vorstellung vom Gericht zum christlichen Glauben, wie sie etwa im Matthäusevangelium zu finden ist (z.B. Matthäus 25, 31ff.) Sie schlägt sich etwa im offertorio nieder:

Domine Jesu Christe, rex gloriae,
libera animas omnium fedelilum defunctorum
de poenis inferni et de
profundo lacu.
Libera eas de ore leonis,
ne absorbeat eas tartarus,
ne cadant in obscurum:

Herr Jesus Christus, König der Ehren,
befreie die Seelen der Abgeschiedenen
von den Strafen der Hölle und von dem
tiefem Abgrund.
Errette sie aus dem Rachen des Löwen,
daß die Hölle sie nicht verschlinge und
sie nicht fallen in die Tiefe:

In diesen Stücken zeichnet sich bereits die Auffassung ab, es könnte mit dem Eingang ins Paradies doch am Ende nicht ganz so einfach und gar so sicher sein. Die Überwindung der Todesmächte muss jeweils neu geleistet und will erbeten sein.

Hostias et preces tibi, Domine,
laudis offerimus.
Tu suscipe pro animabus illis, quarum hodie memoriam facimus:
Fac eas, Domine, de morte transire ad vitam,

Opfer und Gebete bringen wir dir, Herr,
lobsingend dar.
Nimm sie gnädig an für jene Seelen, derer wir heute gedenken:
Laß sie, o Herr, vom Tod zum Leben übergehen,

Mit der Zeit ist eine Verschiebung der Akzente eingetreten. Nicht mehr die in Christus verbürgte Überwindung des Todes steht im Zentrum, sondern die Bedrohung durch den ewigen Tod. Mit dem Eintritt des empirischen Todes scheint das ganze Drama erst recht zu beginnen; denn nun geht es erst recht um die endgültige Entscheidung. In diesem Sinne bedürfen die Verstorbenen der Fürbitte der Hinterbliebenen ebenso wie der Fürsprache der Heiligen. Dass es nicht nur um jenseitige Entscheidungskämpfe für die bereits Verstorbenen, sondern um das Lebensthema des Todes überhaupt geht, verrät die erste person im libera me:

Libera me, Domine, de morte aeterna, in die ille tremenda –
Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod an jenem furchtbaren Tag.

Der Tod ist hier die Drohung mit endgültiger Vernichtung. Es ist ein bezeichnendes Detail in der Geschichte des Requiems, dass das dies irae erst im dreizehnten Jahrhundert in die Abfolge eingetreten ist. In ihm nun hat die Bedrohung eine Gestalt. Es ist das Gericht, der Tag des Zorns, der einerseits in die ewige Verdammnis, aber auch in den ewigen Frieden und die Gegenwart des ewigen Lichts zu führen vermag.

Der textliche Umfang den das dies irae im Requiem einnimmt, lässt Rückschlüsse auf seine dominierende Position in den Jenseitsvorstellungen der zeit zu. Der Kürze halber verbinden wir mit dieser Beobachtung den Hinweis auf die Fegefeuer-Vorstellungen, wie sie uns dann als einer der Auslöser der Reformation im Ablassstreit begegnen.

Mit der Reformation verbindet sich dann der nächste Paradigmenwechsel. Waren bislang die Fürbitten für den Verstorbenen ein entscheidender Teil der Trauerfeierlichkeiten gewesen, ja hatte man die Fürsorge auch auf die Jahrestage des Todes ausgedehnt und konnte Ablass sogar den schon länger Verblichenen durch Erwerb von Ablässen die Läuterungsstrafen verkürzen, nimmt die Reformation in dieser Sache eine vollkommene Kehrtwende vor. Trauerfeiern richten sich fortan nur noch an die Angehörigen. Den Verstorbenen und sein jenseitiges Wohlergehen vertrauen die nachreformatorischen Beerdigungsagenden vollkommen der Liebe Gottes an.

In diesem an den Beerdigungsagenden ablesbaren Paradigmenwechsel lassen sich vergleichsweise leicht die Auswirkungen von Martin Luthers Rechtfertigungslehre ausmachen. Nach Luthers Lehre von der Rechtfertigung des Sünders aus Gnade soll der wert des Menschenlebens eben überhaupt nicht von empirischen Tatbeständen und Leistungen abhängen. Auch nicht von solchen der Hinterbliebenen.

Orientieren wir uns zur Illustration dessen einmal an den Worten, die Luther selbst auf dem Sterbebett gesprochen haben soll, wird es noch einmal deutlich. „Wir sind Bettler. Das ist wahr!“, fasst auch noch einmal seine Theologie zusammen. Nichts kann der Mensch tun, sich vor Gott gerecht zu machen. Eigene Leistung kann nach Luthers Überzeugung nichts ausrichten. Dass jenseitiges Wohl und Wehe von Verstorbenen auch noch von Möglichkeit und Bereitschaft der Hinterbliebenen abhängen sollten, für aufwendige Seelenämter und nennenswerten Ablass zu sorgen, war dem Reformator ein Greuel. Nichts könne ein Mensch dafür tun, vor Gott gerecht zu werden, als auf Gottes Liebe trauen.

Diese Auffassung veränderte in Hinsicht auf die Bestattungsbräuche die Blickrichtung. Nicht mehr das Wohl der Verstorbenen stand in Frage, sondern das der Hinterbliebenen. So jedenfalls in der protestantischen Version.

Das Requiem als Kunstform

Das alle großen Fassungen des Requiem nach der Reformation entstanden sind, lässt mehrere Schlüsse möglich erscheinen. Zum einen könnte man meinen, der reformatorische Paradigmenwechsel habe die katholisch geprägten Künstler im Grunde weiter nicht tangiert. Das könnte sein, scheint aber angesichts der Tatsache, dass auch auf urprotestantischem Gebiet Werke zum Lebensthema des Todes entstanden, die ihre Verwandtschaft mit dem Requiem nicht leugnen können. Ob nun Elemente von Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe oder das „Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine“ aus seiner Johannespassion in anderen Gattungen doch die Nähe zu Elementen des Requiems suchen oder Johannes Brahms mit Hilfe biblischer Texte die von keinem Paradigmenwechsel beschädigten Gefühlsqualitäten des Requiems neu aufnimmt; die liturgisch-ästhetisch-musikalische Gattung zur Bearbeitung des Todesthemas lebt. Benjamin Brittens „War-Requiem“ zeigt an, dass sogar säkulare Zeiten nicht auf die Tiefenschichtsdimensionen der Form verzichten wollen.

Es legt sich also keineswegs der Schluss nahe, die katholischen Komponisten hätten den Paradigmenwechsel verschlafen oder jedenfalls nicht in ihr Schaffen aufgenommen. Es könnte eben vielmehr auch sein, dass etwas in der Tradition des Requiems von diesem Paradigmenwechsel gar nicht tangiert war.

Tangiert waren jedoch ganz gewiss die inhaltlichen Bestimmungen der im Requiem aufgebauten Bilder des Jenseits und die Bedeutungszuschreibungen in Hinsicht auf die Fürbitten, die Ermäßigung von Läuterungsqualen also. Es darf wohl angenommen werden, dass sich in der Folge der Reformation die Vorstellungen von Jenseits, Gericht und ewiger Ruhe grundlegend wandelten – und zwar nicht nur im Gebiet reformatorischer Theologie.

Die Moderne hat im Zuge dessen, was wir Säkularisierung nennen, sogar noch einen weiteren Paradigmenwechsel hinzu gefügt. Jenseitsvorstellungen haben sich bis heute, wenn nicht gänzlich aufgelöst, so doch in mannigfache säkulare Bild- und Symbolwelten verflüssigt. Bei vergleichsweiser Stabilität der Rituale im ländlichen Raum gibt es eine große Dynamik und kulturelle Ausdifferenzierung in den Ballungszentren (2). Die Bandbreite reicht vom nahezu gänzlichen Verschwinden der Rituale, das möglicherweise auf eine Verdrängung des Todes oder eine rituelle Hilflosigkeit schließen lässt, bis hin zu Bestattungsangeboten, die einen Event-Charakter versprechen (3).

Die Analyse zeitgenössischer Begräbnisreden zeigt Entwicklungen deutlich auf. Die Würdigung der individuellen Lebensgeschichte hat erkennbar an Bedeutung gewonnen. Man kann begräbniskulturkritisch den darin sich niederschlagenden Transzendenzverlust beklagen (4). Zunächst gilt es aber die Verschiebung einfach wahrzunehmen. Wilhelm Gräb spricht in Hinsicht auf zeitgenössische Deutungs- und Verstehensversuche vom „Heiligen Diesseits der Erinnerung“, welches an die Stelle der traditionellen Jenseitsvorstellungen getreten ist und diese offenbar in ihrer Funktion ersetzt.

All diese Deutungs- und Bedeutungsverschiebungen haben der Kunstform Requiem keinen Abbruch getan. Die Kunstform lebt, auch wenn die darin ausgemalten Bilder im Modus kirchliche Lehrsätze längst keine Zustimmung mehr finden.

Wir haben bereits oben bemerkt, dass eigentlich alle großen Kompositionen zum Requiem nach dem ersten großen Paradigmenwechsel der Reformation entstanden sind, und dass die weiter fortschreitende Moderne der Gattung offenbar nichts anhaben konnte. Das legt doch den verschärften Schluss nahe, dass der dogmatische Bedeutungsverlust der Textteile des Requiems die künstlerische Produktion nicht nur nicht behindert, sondern am Ende geradezu befördert hat. Mit der Ablösung der dogmatischen Fixierung der Bildgehalte wird die Kunst allererst zu sich selbst befreit.

In Hinsicht auf das Verdi-Requiem hätte diese Sicht der Dinge tiefgreifende Folgen. Man müsste sich nicht mehr darüber wundern, dass sich Verdi als konfessionell ungebundener Künstler des Stoffes annimmt. Genau das ist offenbar möglich, ohne eine bestimmte Vorstellung des Jenseits als verbindlich anzuerkennen. Zweitens aber würde auch der Vorwurf ins Leere laufen, Verdi hätte aus dem Stoff eine Oper, ein Spektakulum, gemacht. Das eben ist die Freiheit der Kunst, sich der Dinge anzunehmen, wie sie es für angemessen hält. Schaut man auf den Text des dies irae, nimmt es noch viel weniger Wunder, dass sich ein an der Oper geschulter Komponist seiner dramatischen Qualitäten annimmt.

Höllenfahrten

Das zentrale Gewicht, das Verdi dem dies irae verleiht, ist nicht ohne Beispiel. Im Mittelalter spielten Höllenfahrten eine wichtige Rolle in der Literatur gespielt. Das hatte gewiss mit bestimmten Jenseitsvorstellungen und damit einher gehenden Lebensängsten zu tun. Auf den Zusammenhang mit dem Ablasswesen, das Martin Luther zum ersten Mal auf seiner Reise nach Rom 1510/1511 so nachhaltig abgestoßen hatte, haben wir bereits hingewiesen.

Zugleich aber hatten die Vorstellungen auch immer eine künstlerische Funktion. In Dantes „Göttlicher Komödie“ wird dies sichtbar. Die zeitgenössischen Jenseitsvorstellungen bieten Dante lediglich das Vehikel, ein Drama aus Unmoral, Moral und möglicher Läuterung zu formen. In die Tiefen der Hölle steigt er hinab, um von dort erst zum Fegfeuer und schließlich ins Paradies aufzusteigen, nicht jedoch ohne auf diesem Wege zum Beispiel politische Zustände und auch Personen seiner Zeit kritisch zu beleuchten.

Dante Alighierie lebte von 1265 bis 1321, also etwa zu der Zeit, da das dies irae Aufnahme in den Ablauf des Requiem fand. Indem er den dreistufigen Aufbau von Hölle, Fegfeuer und Himmel bzw. Paradies übernimmt, bewegt er sich demnach in Bahnen seiner Zeit. Und zugleich erschafft er reine Kunst daraus, die gewiss nicht darin aufzugehen vermag, die Beschreibungen der Etagen als Sätze einer religiösen Lehre festschreiben zu wollen.

Die Qualität seiner Dichtung ist eine andere. Am Beispiel einiger Verse aus der Höllenabteilung sei ein Deutungsversuch gemacht:

Wer könnte je, auch mit dem frei'sten Wort,
Das Blut, das ich hier sah, die Wunden sagen,
Erzählt' er auch die Kunde fort und fort.
Da Sprach' und Geist zu eng und schwach erscheint,
So schreckliches zu fassen und zu tragen …

Vor Augen hat Dante hier allerdings höchst irdische Kriege und ihre Folgen. Ihr namenloser Schrecken findet aber erst dort einen Ausdruck, wo die Literatur ihm in Höllentiefen den rechten Ort zuweist.

Woody Allen, sechshundertsiebzig Jahre jünger als Dante, formuliert es sozusagen programmatisch in seinem Film „Harry außer sich“ (Deconstructing Harry) aus dem Jahr 1998. Er spielt darin einen Schriftsteller, der nicht nur aktuell unter einer massiven Schreibblockade leidet, sondern auch sonst gerade verschiedene Niederlagen und Rückschläge zu verkraften hat. Unter anderem hat ihn seine Freundin verlassen zu allem Überfluss auch noch, um seinen besten Freund zu heiraten. Um diesen Schlag zu verarbeiten, konzipiert er eine Geschichte, worin sein Freund der Teufel ist und die Frau in die Hölle entführt hat. Dorthin fährt der verlassene Liebhaber hinab, um sie sich zurück zu holen.

Wozu er denn diese Höllenfahrt schriebe, fragt ihn ein Literaturprofessor. Beiden ist klar, dass sie keineswegs mit einer Hölle und ewigen Qualen nach dem Tode rechnen. Nun, gibt der Schriftsteller zurück: mit der Phantasie könne man vielerlei Rechnungen begleichen. Die Kunst also braucht Bilder und Wirklichkeiten, die nicht an der Oberfläche zu haben sind, um allererst Beschreiberin und Deuterin einer in sich rätselhaften Wirklichkeit werden zu können.

Ins Bild gesetzt sieht die Höllenfahrt dann wie folgt aus: Der Schriftsteller Harry Block fährt mit einem Fahrstuhl nach unten. Rotes Licht strahlt sein Gesicht von unten an, so dass die Augenbrauen diabolische Schatten werfen. Eine maschinenartig neutrale Frauenstimme sagt Stockwerke und deren Insassen. U_Bahn-Schwarzfahrer und aggressive Schnorrer sind noch in einem der weiter oben gelegenen Untergeschosse zu finden. Anwälte, die im Fernsehen auftreten, sind schon weiter unten. Das Stockwerk für die Medien sei völlig überfüllt, sagt die Frauenstimme an. Ganz unten residieren Massenmörder, flüchtige Kriegsverbrechen und andere, deren vergehen eben die höchste Stufe der Unverzeihlichkeit erlangt und damit die tiefste Stufe der Hölle verdient haben.

Ganz unten angekommen trifft Harry Block nicht nur den Mann, der die in Amerika einschlägig hässlichen Alu-Hausverkleidungen erfunden hat. Er trifft auch seinen eigenen Vater. Der sitzt dort, weil er ihn, seinen Sohn ungerecht behandelt habe. Er hatte ihn für den Tod der Mutter verantwortlich gemacht, die bei der Geburt Harrys gestorben war. Darauf sagt Harry dem Folterknecht, er möge den Vater doch freilassen. Er habe ihm verziehen und liebe ihn trotzdem. Man schicke den alten Mann bitte umgehend gen Himmel, wogegen der Vater den Einwand geltend macht, er sei Jude und glaube nicht an den Himmel, aber ein chinesisches Restaurant sei im auch Recht.

Im Windschatten der Albernheiten sind sie wieder alle da: die Themen von Schuld und Vergebung, eine Ahnung, welche Höllen Menschen einander bereiten können, wenn sie beispielsweise ein Kind nicht lieben können, weil sie im – wahrscheinlich unbewusst – die Schuld am Tod der Mutter geben. Auf der Rückseite der absurden Konstellation dieser Höllenfahrt ist er neuerlich präsent: der Tod als Lebensthema.

Bei Woody Allen findet sich dasselbe Prinzip wie bei Dante. An den Jenseitsbildern werden Dieseitsthemen bearbeitet. Die Verschiebung in die andere Seinsdimension dient der Deutung und Verarbeitung. Religionswissenschaftlich gesprochen könnten wir genau das Transzendierung nennen. Nur eben, dass Dante höchst lebendige religiöse Motive seiner Zeit in Kunst verwandelt, Woody Allen dagegen in der Kunst seiner Filmbilder Bildwelten zitiert, die längst schon kein eigenes Leben mehr zu haben scheinen. Dass dies gleichwohl funktioniert, verweist auf die ästhetische Qualität jener Bildwelten der Hölle und der drohender jenseitiger – und deshalb in ihrer zeitlichen Ausdehnung so schwer zu kalkulierenden – Qualen.

Das Ewigkeitsmotiv

„Früher lebten die Menschen dreißig Jahre plus unendlich. Heute werden wir nur noch neunzig Jahre alt.“ Mit diesem Aphorismus skizzierte der Wiener Theologe Georg Zulehner kürzlich, was er unter Jenseitsverlust zur Beschreibung bringt. Nun scheint aber – wie wir schon in Bezug auf Hölle und Fegefeuervorstellung gesehen haben – auch dieser Paradigmenwechsel die Rezeptionsorgane für das Requiem al Gattung keineswegs verstopft zu haben.

Dass es sich so verhält, basiert vermutlich auf einem ganzen Bündel von Gründen. Sigmund Freud hat auf die psychologischen Faktoren hingewiesen, die einen symbolischen Umgang mit dem Tod bedingen. Es ist zum einen die Absicherung der Moral in der vorgestellten Fortdauer des irdischen Lebens, die dafür sorgt, dass für Gutes und Böses unbegrenzte Konsequenzen in Aussicht gestellt werden (5). Vor allem aber legt die prinzipielle Unfähigkeit, an den eigenen Tod zu glauben (6), einen solchen symbolischen Umgang nahe. In ihn fließen zunächst all die verdrängten Impulse ein, die, blieben sie unbearbeitet, nur verstören würden, die aber in verarbeiteter Form kulturbildende Kraft gewinnen: „An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel des menschlichen Schuldbewusstseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachenden Gewissens lautete: Du sollst nicht töten. Es war Reaktion gegen die hinter der Trauer versteckte Hassbefriedigung am geliebten Toten gewonnen worden und wurde allmählich auf den ungeliebten Fremden und endlich auch auf den feind ausgedehnt.“ (7)

Unter anderem Vorzeichen hat das Ewigkeitsmotiv auch in der praktischen Philosophie Immanuel Kants eine die Moral absichernde und verbürgende Position inne. In der Vorrede zu Kritik der reinen Vernunft (1781) nennt Kant Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als die drei großen Fragen, welche die Vernunft mit den ihr zu Gebote stehenden Mitteln zwar nicht lösen kann, die sch aber auch nicht aus pragmatischen Gründen abweisen, oder durch Nichtbehandlung erledigen lassen.

Gott steht dabei für die unhintergehbare Tatsache, dass etwas ist und nicht nichts, und dass die menschliche Erkenntnis von den Dingen, wenn auch begrenzt, so aber doch nicht ohne Anhalt an den Dingen sein soll. Gott steht hier also im Zusammenhang der Erkenntnistheorie und der Feststellung der Differenz von Sein und Sollen und die gleichzeitige Formulierung einer Pflicht zur Erstrebung des Gesollten bedarf genau dieser Voraussetzung: dass das Subjekt nämlich frei sein muss, sich zwischen den Alternativen zu entscheiden.

Die Unsterblichkeit nun ist das dritte Element und in gewisser Weise die der Freiheit am anderen Ende der Ethik zugeordnete zweite Absicherung derselben. Muss die Freiheit vorausgesetzt werden, um allererst mit Sinn von einem Sollen zu reden, sichert das Motiv der Unsterblichkeit sozusagen nach hinten hin die Geltung dessen ab, was als moralischer Imperativ zu formulieren ist. Dasjenige, was ein Mensch tut oder lässt, ist von so unendlichem Wert, dass seine Bedeutung keineswegs mit der begrenzten Lebenszeit des Individuums erlischt. In Kants Ethik also kommt dem Ewigkeitsmotiv eine geradezu konstituive Bedeutung zu, jedenfalls an den Nahtstellen, wo die praktische Philosophie mit der Religionsphilosophie und der Ästhetik, also der Kritik der Urteilskraft, verbunden sind.

Ähnlich ließe sich die funktionale Zuordnung des Ewigkeitsmotivs auch noch für die Soziologie aussagen (8). Beschränken wir uns aber auf Kant und Freud und betrachten, was beide miteinander verbindet, so ist es eben die Absicherung der Moralität im Ewigkeitsmotiv. Dantes und Woody Allens Spielarten der Höllenfahrten hatten sich ja bei genauerem Hinsehen als durchaus moralische Entwürfe mit je eigenen Vorzeichen erwiesen. Und genau dies bietet der Text des Requiems nach wie vor:

Und ein Buch wird aufgeschlagen,
Treu darin ist eingetragen
Jede Schuld aus Erdentagen.
Sitzt der Richter dann zu richten,
Wird sich das Verborgne lichten;
Nichts kann vor der Strafe flüchten.

Und weiter:

Wird die Hölle ohne Schonung
Den Verdammten zur Belohnung,

Als moralisches Drama hat besonders der dies irae seine unübertroffenen Qualitäten. Er erzeugt Nachdenklichkeit über das, was ist und was war, und setzt es durch die Konfrontation mit dem Ewigkeitsmotiv sozusagen dem Läuterungsfeuer der Transzendenz aus. Zweierlei kann so geleistet werde: Änderungsbedürftiges tritt markant ins Blickfeld. Bei Unabänderlichem lassen sich mit der Phantasie immerhin noch gewisse Rechnungen begleichen.

Als Thema der Kunst, als Teil eines symbolischen Repertoires, das dazu verhilft, unter die Oberflächenstruktur dessen zu schauen, das wir das wirkliche Leben nennen, ist das Ewigkeitsmotiv ein geradezu unersetzliches Mittel. Als behauptetes Wissen, dem ein gewiss ungewisser Realitätswert zugemessen wird, hat das Motiv freilich auch das Potential zum entsetzlichen Werkzeug.

Es gilt also immer fein zu unterscheiden, auf welche Weise uns das Motiv begegnet, was also im Zweifelsfalle damit angerichtet werden kann. Es ist eben der entscheidende Unterschied, ob in der Ausmalung ewiger Strafen oder durch die Verheißung des ewigen Lichts eine Deutung des gelebten Lebens und sein besseres Verständnis erschlossen wird, oder ob die Androhung ewiger Strafen Menschen in Angst und Schrecken versetzt und der Schrecken aus dem vermeintlichen Jenseits über das real gelebte Leben legt.

Im einen Falle dient das Jenseitsmotiv zur Freiheit. Es relativiert Zustände der realen Gegenwart und entlarvt deren Anspruch auf unbedingte Gültigkeit als angemaßt. Mit Paulus gesagt: „Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1. Kor. 7, 31) Folglich kann nichts in der Welt den Menschen mehr erschrecken, als Vorübergehendes es eben vermag. Totalitäre Ansprüche werden auf diese Weise abgewiesen.

Im andern Falle kann sich das Ewigkeitsmotiv, besonders das der Strafe, wie ein Schatten über die reale Gegenwart legen. Die Jenseitsangst kann die Freude am Leben gänzlich lahm legen. Dass letztere unter mittelalterlichen und vor-aufklärerischen Bedingungen auch als Mittel zur Erhaltung und Mehrung der persönlichen und institutionellen Macht eingesetzt werden konnte, liegt auf der Hand.

Mit Luther beginnt der Paradigmenwechsel zurück zum Freiheitsgewinn. Die Sorge um das jenseitige Wohlergehen kann dem wachen Interesse am gegenwärtigen Leben wieder Platz geben. Schon gleich gar nicht wird das jenseitige Wohlergehen der Verstorbenen von zu erbringenden Leistungen der Lebenden abhängig gedacht. Eine Funktion von Seelenmessen, Totenämtern und Ablässen ist damit erloschen.

Der Neuprotestantismus hat zusätzlich eingeschärft, jeweils genau zu bedenken, welche Funktionen und welche Ansprüche religiösen Vorstellungen zukommen. Nach Friedrich Schleiermacher gehört es geradezu zum Wesen des christlichen Glaubens, dass daraus Tendenzen erwachsen, „den Zustand nach dem Tode vorzustellen“ (9). Zugleich schärft Schleiermacher aber ein, die Bildhaftigkeit dessen nicht zu vergessen und zu wissen, dass die Vorstellungen „doch immer auch sinnlich sind“ (10). Insofern seien die Lehre n von den letzten Dingen mit entsprechender Vorsicht zu genießen, denen eben „der gleiche Wert wie den bisher behandelten Lehren [gemeint sind solche, deren geistig-geistlicher Charakter eindeutiger fest steht] nicht kann beigelegt werden“ (11). Zugleich hält Schleiermacher aber umso fester, dass die geistige Existenz eben eine ist, die über die zeitliche Dauer des Lebens mit Notwendigkeit hinausgreift. Dass hier eine Vorstellung einer leiblichen Fortdauer des vom Tode unterbrochenen Erdenlebens in den Vorstellungen Platz greift, rührt für Schleiermacher aus folgendem Umstande her: „Wir sind uns so allgemein des Zusammenhanges aller, auch unsrer innerlichsten und tiefsten Geistestätigkeiten mit den leiblichen bewusst, dass wir die Vorstellung eines endlichen geistigen Einzellebens ohne die eines organischen Leibes nicht wirklich vollziehen können; ja wir denken den Geist nur als Seele, wenn im Leibe, so dass von einer Unsterblichkeit der Seele im eigenthümlichen Sinn gar keine Rede sein kann ohne leibliches Leben. Wie also die Wirksamkeit des Geistes als bestimmte Seele im Tode aufhört zugleich mit dem leiblichen Leben: so kann sie auch nur wiederbeginnen mit dem leiblichen Leben.“ (12)

Dieser Zusammenhang von Vorstellung einer Seele als einer bestimmten Person zugehörig verweist auf den tieferen Zusammenhag, auf den Schleiermacher recht eigentlich abzielt: Dass nämlich die Pointe der Vorstellung einer leiblichen Auferstehung eben die Identität der Person betrifft, „dass das Leben nach der Auferstehung und das vor dem Tode eine und dieselbe Persönlichkeit konstituieren;“ (13)

Die Konstitution von Identität und Persönlichkeit bedient sich also des Ausgriffs über die empirische Gegenwart hinaus. Person und Identität bedürfen zu ihrer eigenen vertieften Selbstverständigung derjenigen Dimension, die im Ewigkeitsmotiv aufscheint.

Das Ende mittelalterlichen Aberglaubens beendet nicht die religiöse Praxis der Seelenämter und Totenmessen. Eben weil deren Funktion sich nicht auf die stellvertretend wahrzunehmende Sorge für das jenseitige Wohlergehen der Verstorbenen beschränkt, vermag die Kunst, nun zu sich selbst befreit, das andere zu leisten: die Begleitung der Trauer, die Bearbeitung des Lebensthemas Tod, die Relativierung des gelebten Lebens, die moralische Verständigung über die Differenz von Sein und Sollen durch die Trennschärfe des Ewigkeitsmotivs und schließlich die Selbstverständigung der Person, deren Identität und deren Freiheit Voraussetzungen in Anspruch nehmen, welche selbst außerhalb empirischer Horizonte liegen.

Das Ewigkeitsmotiv in der Spätmoderne

Die Blütezeit des Requiems als Kunstform beginnt mit dem Ende substantiell geglaubter Höllen- und Fegefeuervorstellungen. Zu sich selbst befreit lebt in der Kunst auf, wessen das Menschenleben offenbar dauerhaft bedarf: die Formulierung der aller Erfahrung von Vergänglichkeit entgegengesetzten Sehnsucht nach Bleiben im Vergehen, die Formulierung der Trauer, der Hoffnung und auch der Abgründe, welche in der erlebten Wirklichkeit nie und nimmer auszugleichen sind. Diese Funktionen erfüllt hat das Requiem.

In diese Funktion ist es freilich nicht allein. Johann Sebastian Bachs Passionen wurden bereits erwähnt. Auch Georg Friedrich Händels Messias hat Teile, die an Horizonte des Requiems gemahnen. Man denke nur an die Arie „I know that my redeemer liveth“. Bis hin in säkulare Fassungen des Requiems und der ihm verwandten Formen werden wir immer dieseln Beobachtungen machen, sei es nun in Brittens „War-Requiem“ oder in Mauersbergers „Wie liegt die Stadt so wüst“. Es werden Abgründe ausgelotet, es werden Rechnungen beglichen, die mit herkömmlichen Mitteln – also auf dem Boden des empirischen Lebens – auf immer unausgeglichen bleiben müssten, es werden spätestens seit Dante moralische Diskurse geführt und es findet jene Selbstverständigung statt, welche ohne transzendentale Gründe nicht auszukommen vermag.

Nun vollzieht sich dies in der Spätmoderne in höchst ausdifferenzierter Form. Innerhalb des Requiems finden sich beliebig viele Variationen und Akzentverschiebungen. Verzichtet Maurice Duruflé (1902-1986) in seinem Requiem ganz auf den Tag des Zorns, lässt ihn nur im libera me kurz anklingen und setzt also ganz auf die Gestaltung der Sehnsucht nach ewigem Licht und Frieden, ist Verdi geradewegs in die andere Richtung gegangen. Er lässt das dies irae dominieren, erlangt damit sozusagen maximale Möglichkeiten in Hinsicht auf die Dynamik seines Requiems und hebt auf seine Weise den dramatischen Schatz seines Stoffes.

Zu den ungezählten Differenzierungen des Requiem-Stoffes tritt die Verflüssigung religiöser Motive in der zu sich selbst befreiten Kunst der Moderne, auch der der modernen Massenmedien, hinzu. Das Jenseits- und das Ewigkeitsmotiv werden in den Filmen des großen Kinos mit einiger Regelmäßigkeit variiert. Es ist in dieser Hinsicht gewiss kein Zufall, dass etwa der Film „Titanic“ (USA 1997) mit einer Sterbeszene und einer Hochzeit im Himmel endet. An seinem Schluss steht also gewissermaßen das pax aeterna als Verheißungsmotiv dem ewigen Tod entgegengesetzt.

Genau jener ewige Tod hatte ja den Passagier der dritten Klasse, Jack Dawson, in die Tiefe des Nordatlantiks gezogen. Da er seine Fahrkarte in letzter Minute beim Poker gewonnen hatte, stand er auf keiner Passagierliste, folglich auch auf keiner Vermisstenliste. Durch die Begegnung mit Rose DeWitt-Bukater aber ist ein Schein des ewigen Lichts bereits in das empirische Leben getreten. Die Liebe ist am Ende zugleich das Erlösungsmotiv. Sie greift über das empirische Leben hinaus. Jack sagt, schon im Eiswasser des Nordatlantik schwimmend und dem Tode geweiht, der Gewinn der Fahrkarte sei das Beste, was ihm im Leben je passiert sei, denn auf diese Weise habe er Ros getroffen. Auf der Ebene empirisch zu erhebender Daten hat es ihn allerdings auch das Leben gekostet.

In der Filmmusik kling im Motiv des sinkenden Schiffes der Tag des Zorns sehr deutlich durch. Dreitausend Meter schwarze Tiefe bedeuten für Tausende den Tod. Dass der nicht ewig sein soll, spielt sich über das Motiv der Liebe ein, die in jenseitsloser Zeit offenbar glaubwürdig festzuhalten vermag, was im Requiem als lux aeterna und als ewige Ruhe verheißen ist.

Schluss

Das Requiem ist Kunst. Es lässt sich folglich nicht mit konfessionellen oder sonst dogmatischen Ellen messen. Es gestaltet Zugänge zu Dimensionen, deren sich menschliche Selbstverständigung bedient und bis zu einem gewissen Grade wohl bedienen muss – einfach, weil der Tod ein bleibendes Lebensthema ist.

Zugleich lebt im Requiem einer der schönsten Beiträge, den katholische Frömmigkeit zu dieser Selbstverständigung und damit zur Lebensdeutung überhaupt beigesteuert hat. Als liturgisch-ästhetisch-musikalische Gattung aber ist das Requiem jeder dogmatischen Fixierung längst entwachsen. Bei der zu sich selbst befreiten Kunst ist es offenbar auch in den besten Händen.

Die Kunst hat bis heute ungezählte Fassungen des Requiem hervorgebracht. Sie hat in vielfältigsten Variationen durch die unterschiedlichsten Ausdrucksmedien das Thema behandelt. Eine abschließende Fassung hat die Musik bislang nicht hervor gebracht. Sie ist auch in Zukunft nicht zu erwarten, weil die Kunst eben darin ihren Gegenstand findet, es mit dem Leben und dem Tod eben mit prinzipiell nicht abschließbaren Gegenständen zu tun zu haben.

Dass sich das Ewigkeitsthema in der Kunst nicht verflüchtigt, dafür soll noch einmal Woody Allen einstehen. Auf die Frage, ob er die Hoffnung habe, sich in seinem filmischen Gesamtwerk unsterblich zu machen, sagte er: Er wolle nicht durch seine Filme unsterblich werden, sondern dadurch, dass er einfach nicht stürbe.

In der Kunst werden eben die Sehnsüchte nicht einfach gestillt, sondern allererst am Leben erhalten. Namentlich die Sehnsucht, es möchte etwas daran wahr sein, dass mit dem ewigen Tod nicht das letzte Wort über das Menschenleben gesprochen ist. Libera me, Domine, ab morte aeterna – befreie mich, Herr, vom ewigen Tod. In spätmodernen Zeiten, denen ansonsten alle Jenseitsbilder abhanden zu kommen drohen und in denen folglich der Tod die letzte Ewigkeit beanspruchende Größe bleibt, wird das Flehen entsprechen inbrünstig ausfallen und der Tag des Zorns entsprechend bedrohlich. Diesen Abgrund hat Giuseppe Verdi mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln markiert.

Text des Requiems: http://www.kirchenmusik.kaufbeuren.de/TextVerdi.htm

1) Der Vortrag entstand im Zusammenhang einer Aufführung des Verdi-Requiems durch die Göttinger Stadtkantorei am 23. November 2003.

2) Vgl. Werner Fuchs, Todesbilder in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. Main 1969

3) vgl. Claudia Marschner, Bunte Särge. Eine Eventbestatterin erzählt, München 2002

4) vgl.z.B. Ursula Roth, Die Begräbnisansprache. Argumente gegen den Tod im Kontext der modernen Gesellschaft, München 2002

5) vgl. Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, (1927), Studienausgabe Band IX, Fragen der Gesellschaft –Ursprünge der Religion, Frankfurt 2000, S. 153

6) vgl. ders. Zeitgemäßes über Krieg und Tod, ebenda S. 49ff.

7) ebd. S. 55

8) vgl. z.B. Niklas Luhmanns Beschreibung der Funktion der Religion zur gesellschaftlichen und indivduellen Vergewisserung bestimmter Horizonte. Niklas Luhmann, Die Funktion der Religion, in: Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt 2000, S. 115-146

9) Friedrich Schleiermacher, Der Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, zweite Auflage, Berlin 1831, §158 (Leitsatz), zitiert nach: siebente Auflage, zweiter Band, hrsg. Martin Redeker, Berlin 1960, S. 410

10) ebd. §158,3, S. 416

11) ebd. §159, Leitsatz, S. 417

12) Schleiermacher, Glaubenslehre, §161,1, s.o. S. 424

13) ebd.

Ulrich Braun, Pastor in Göttingen Nikolausberg
Ulrich.F.Braun@t-online.de

 


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