Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

16. Sonntag nach Trinitatis (Erntedank), 5. Oktober 2003
Predigt über Lukas 12, 13-21
, verfaßt von Manfred Wussow
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)


1.
Der grösste Unternehmer des Dorfes war in der Nacht gestorben. Ihm gehörten die Ländereien, soweit die Augen reichten – und so schien es, auch die Menschen. Für ihn arbeiteten hier alle. „Ein armes Schwein“, sagten die Leute. Was hat er jetzt? Dass er sich noch vergrössern wollte (oder musste), wie die Leute sagten – war der Traum von gestern. Wer ihn näher kannte, wusste von seinen Plänen. Die guten Geschäftszahlen legten eine Expansion nahe. Die Risiken waren überschaubar. Aber wer konnte sagen, was das für ein Mensch war, der mit seinem Namen, seinen Ideen und seinem schier unergründlichen Elan dahinter stand? Wer wusste, was in seinem Kopf umging? Wer kannte seine Einsamkeit? Geredet wurde viel. Nicht immer gut. War wohl auch manches Hühnchen zu rupfen. Aber dass am Ende der reiche Kornbauer wie ein armes Schwein da steht, liegt wie ein Schatten über ihm. Die ganzseitigen Todesanzeigen werden das zu verbergen wissen.

Predigttext:
16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch, dessen Feld hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Vorräte 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann gehören, was du angehäuft hast? 21 So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.

2.
Jesus, der die Geschichte erzählt, hört nicht, was die Leute so sagen – auf dem Marktplatz, bei der Arbeit, da, wo der reiche Kornbauer eigentlich auftauchen könnte. Jesus hört dem reichen Kornbauern zu. Der fühlt sich unbeobachtet. Niemand ist bei ihm. Seine Gedanken wägen die Geschäftsperspektiven ab. Die Bilanzzahlen liegen vor ihm, die betriebswirtschaftliche Auswertung, die kurz- und mittelfristige Planung. Seine Leute haben ganze Arbeit geleistet. Eine gute Ernte! Gleich in mehrfacher Hinsicht.
Er wird die Lagerhäuser erweitern, mehr noch: die alten abreissen und neue bauen. Es sieht nach Neuanfang aus und stellt doch nur das Erreichte für alle dar, qm um qm, drinnen und draussen. Die Strecke bis hierhin war nicht leicht. Sequenz für Sequenz erobern Erinnerungen die Gedanken, verfliessen geradezu ineinander. Es ist geschafft. Ein Stoßseufzer tief aus der Seele. Du kannst es jetzt leichter angehen, sagt sich der reiche Kornbauer. Jetzt ist Konsolidierung angesagt. Wachstum in der Breite. Langfristig gesichert. Morgen schon wird er es seinen Leuten sagen, erst seinen Führungskräften, dann allen. Mit neuen Zielen, versteht sich.
Die Geschichte, wie sie Jesus erzählt, nimmt ab da eine unerwartete, geradezu befremdliche Wendung. Anstatt das Erreichte zu würdigen, heisst es nur lapidar: „Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern.“ Ob der reiche Kornbauer das gehört – oder verstanden – hat? Ob es einfach unterging, wie ein Gedanke, der weggewischt wird? Ob überhaupt die Bereitschaft da war, noch auf etwas anderes zu hören als auf Zahlen, Pläne und Träume? Wenn – muss es wie ein Blitz eingeschlagen sein: „Du Narr“. Aber keine Zeit mehr für ein Aha-Erlebnis, keine Einsicht, die Leben neu formen könnte. „Du Narr“ als letztes Urteil. Als Todes-Urteil.

Mir wird unbehaglich. Ich kenne Menschen, die stolz und zufrieden davon erzählen, was sie erreicht haben, die die Widerstände, die Arbeit, die Mühen schildern und ganz glücklich sind, aus dem Gröbsten raus zu sein, ja, an Schwierigkeiten gewachsen zu sein – wie sie sagen. Ich höre ihnen zu, verstehe sie. Schliesslich könnte ich meine Geschichte dazu tun. Sieht sie denn wirklich so anders aus? Mir ist doch auch nichts in den Schoss gefallen. Abends beim Gläschen Wein zu sagen: Habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut – dass könnte eine Offenbarung sein. Nach vielen kleinen und grossen Erfahrungen, Enttäuschungen, Versuchen und und …. Die Freiheit, sich die Tretmühle einmal von aussen anzusehen, womöglich auszusteigen. Einfach Mensch zu sein.
Es ist ein Glücksfall (und Vertrauensbeweis), wenn ein Mensch davon erzählt, was er zu sich selbst sagt, wenn er sein Innerstes öffnet, sich auf den Grund der Seele blicken lässt. Ich käme doch nie auf die Idee, ihn (oder mich) einen Narren zu schimpfen. Manchmal denke ich es. Dann wird mir noch unbehaglicher. Aber in Worte zu fassen, fällt mir schwer. Wer ist ein Narr?

3.
Lukas, Evangelist, Berichterstatter und Herausgeber in einer Person, hat klare Vorstellungen von dem, was Narrheit ist – und er scheut sich auch nicht, einen Menschen als „Narr“ zu bezeichnen, menschliches Feingefühl hin, seelsorgerliche Diskretion her. Was ich nicht kann – oder darf – Lukas hat den Freimut dazu und die Erfahrung auf seiner Seite. Jetzt können wir darüber reden, unsere Vorstellungen vom Leben abwägen, ja, uns etwas sagen lassen. Letztlich liegt viel Weisheit in dem, was der Evangelist mit seinem Namen bezeugt. Narr ist, wer sich ausliefert: an Reichtum, Ansehen und Erfolg. Lukas weiss etwas, was unter uns nicht unumstritten ist. Nicht der Mensch besitzt Geld, einen Ruf oder seine gesellschaftliche Stellung – es sind diese Dinge, die ihn besitzen, mehr noch: ihn besetzen und besetzt halten. Die Gedanken, Entscheidungen, Hoffnungen. Es kann dann auch kein „zurück“ mehr geben. Ein + sollte immer vor den Zahlen stehen. Zumindest muss der Standard gehalten werden. Die Konflikte sind vorprogrammiert. Die ständige Beobachtung des Marktwertes, das Taxieren von Möglichkeiten, immer am Ball bleiben. Dass das gesundheitlich an die Substanz gehen kann, können Menschen erzählen, die einen Infarkt hinter sich haben – ungefährlich ist das Unternehmen nicht, die Dinge im Rücken, ein Getriebener zu sein. Nein, der reiche Kornbauer war auf einem guten Weg: Ruhe finden, Zeit für Essen und Trinken haben, guten Mutes sein.
Darum verstehe ich den Schluss nicht: „Du Narr!“ Hier, an dieser Stelle? Kommt das Urteil nicht – zu spät? Müsste es jetzt nicht ermutigend heissen: Mach hier weiter …

Ehrlich gesagt: ich erwarte eine Ermutigung. Für mich. Für andere. Es tut gut, Ruhe zu finden, Zeit haben, aufatmen. Aber dem Evangelist reicht das nicht. Könnte es sein, dass meine Gedanken in eine andere – falsche - Richtung gehen? Für Überraschungen ist Lukas immer gut. Seine Abneigung Reichen gegenüber lässt sich nicht einmal schön reden. Nein, da hat er schon an den Anfang des Evangeliums, im Lobgesang der Maria, den Ton vorgegeben: „… er stösst die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen, er füllt die Hungrigen mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen …“ Er: Gott. Ist wohl nichts, sich mit „Ruhe“ zufriedenzugeben. Oder einem gesünderen Leben. Oder gereifter Lebenserfahrung …

Was die Dinge (ich nenne sie jetzt einfach so) mit – oder auch: aus einem Menschen machen, ist eine Sache, was der Mensch mit – oder auch: aus ihnen macht, die andere. Ob hier die Spur zu finden ist?
Hören wir noch einmal in die Geschichte. Der Evangelist legt sein Ohr auf die Seele diesen reichen Kornbauern. Er spricht zu sich selbst: „Liebe Seele, du hast einen grossen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut.“
Grosser Vorrat … viele Jahre … habe nun Ruhe … guten Mut.
Die Worte hinterlassen einen Geschmack. Sie schmecken nach Sicherheit. Sie suggerieren Sicherheit. Das ist´s: Was eingefahren werden kann, neue Scheunen braucht – soll die Zukunft sichern. Was ein Mensch erreicht hat, fest in Händen und Herzen hält – soll das Leben sichern. Bewahren. Und – kann es nicht. „Du Narr!“ Glaubtest du, du könntest dein Leben so bewahren? Deine Zukunft in der neuen Scheune lagern? Dein Vertrauen auf die Dinge setzen?
Korn ist vergänglich. Alle Dinge sind vergänglich. Sollten vergängliche Dinge dem Menschen Halt geben? Er vergeht mit ihnen. Nimmt ab. Wird leer. Verbraucht, verschliessen, abgeschrieben. Eine neue Scheune – ein alter Tod. Jetzt überschlagen sich Bilder, Erfahrungen, Befürchtungen. Am Ende könnte das Urteil tatsächlich nicht zu vermeiden sein: „Du Narr!“ –

Der reiche Kornbauer hatte es mit Wissen, Erfahrungen und einer guten Portion Bauernschläue weit gebracht. Er resümiert sein Leben, will auf der Höhe Frieden mit sich machen – und geht mit den Dingen unter. Im Dorf redet man schon über ihn – wie über einen, der war. Aber das Wichtige verschwindet unter den Worten. Auch unter der Trauer. In den Nachrufen sowieso.
Jesus erzählt eine Geschichte, Lukas gibt ihr eine Gestalt. Sie ist einmalig und kommt so auch nicht wieder. Wer klug ist, fängt an, seine Tage abzuwägen – schon der Psalmensänger wusste, dass so ein weises Herz zu gewinnen ist.

4.
Wie kommt es eigentlich zu dieser Geschichte? Einen Anlass hat es gegeben: den Streit zwischen Brüder über das zu verteilende Erbe der Eltern. Ein weites Feld! Ein Streit, der die Akten dick macht. Und sprachlos, lieblos, leblos …

13 Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. 14 Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt? 15 Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Die letzten Sätze haben es immer in sich.
Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Das ist Jesu Wort. Er legt es selbst auch aus. Er erzählt die Geschichte von dem reichen Kornbauern. Sie endet: So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.

Unschwer ist zu erkennen, wofür diese Geschichte – sie wird gemeinhin als „Gleichnis“ bezeichnet – eintritt. Ihr Thema ist: Reich sein bei Gott. Aber was sie erzählt, ist, was es heisst, nicht reich zu sein bei Gott. Sozusagen im Spiegel verkehrt. Irritierend.
Ich zürnte schon mit Lukas. Warum so negativ? Hätte die Geschichte nicht auch positiv erzählt werden können? Der reiche Kornbauer als nachahmenswertes Beispiel, als Identifikationsangebot, als Vorbild. Für viele Menschen, die sich – wie er – mühen und viele Sorgen machen.
Aber wäre dann herausgekommen, was die Geschichte unbedingt loswerden will: dass die Dinge Menschen gefangen nehmen – und Menschen mit ihnen ihre Zukunft verlieren? Die Geschichte kommt mit wenigen Sätzen aus. Sie lädt ein, unsere Erfahrungen auszusprechen – und auszusetzen. Es ist eine Geschichte von uns.
Wenn ich den Weg überblicke, den die Geschichte uns abverlangt, kommt sehr viel zur Sprache: die Arbeit mit ihrem Ertrag, das Bedürfnis nach Ruhe und Distanz, der Vorsatz, noch einmal neu anzufangen – hier mit dem Bild der neuen Scheune.
Aber zur Sprache wird auch gebracht, dass Menschen Erfolg, Ansehen und Geld Macht über sich geben – und mit ihnen ihr Leben verlieren – hier im Bild von der „geforderten Seele noch in dieser Nacht“.
Bei aller Klugheit: Wir sind Narren!

Wir feiern heute das Erntedankfest. Den Altar haben wir festlich geschmückt mit Feldfrüchten, Obst und Korn. Was die Lebensmittelindustrie verarbeitet, haben wir daneben gelegt. Die Lieder, die wir singen, preisen den Schöpfer.
Seit altersher wird als Evangelium die Geschichte vom reichen Kornbauern gelesen. Von Dankbarkeit ist in ihr eigentlich nicht die Rede – das Wort kommt nicht einmal vor. Aber es hat einen tiefen Sinn, an diesem Tag zu feiern, was es heisst, reich zu sein bei Gott: Ihn preisen. Bei ihm Zuflucht nehmen. Auf ihn das Vertrauen setzen. Von ihm die Zukunft erbitten. Und dazu gehört, die Dinge, die von ihm kommen, dankbar aus seiner Hand zu nehmen – und sie das sein zu lassen, was sie sind: geschenktes Leben.
Zu der „lieben Seele“ übrigens kann kein Mensch beten, von ihr auch keine Antwort erwarten – zumindest nicht die Antwort, die weiter führt als das, was ein Mensch schon hinter sich gebracht hat. Die „liebe Seele“ kann nur mit sich reden, alles mit sich ausmachen, am Ende verstummen.
Gott selbst lädt zu seinem Mahl ein. Er sagt: Liebe Seelen, ich habe euch viel gegeben, kommt zur Ruhe, esst, trinkt, habt guten Mut!
An der Stelle sind wir auch nicht mehr allein. Hier kommen wir zusammen, jeder mit seiner eigenen Geschichte. In der Vorrede zum Mahl wird es heissen: Recht und würdig ist es, angemessen und heilsam, dass wir dir, allmächtiger Gott, barmherziger Vater, an allen Orten und zu allen Zeiten danken …

5.
Als der reiche Kornbauer beerdigt wurde, gaben ihm viele Menschen das letzte Geleit. Der Bürgermeister rühmte den bedeutendsten Arbeitgeber in der Region, der Vertreter der Landwirtschaftskammer pries die unternehmerische Weitsicht, der Betriebsratsvorsitzende erzählte von konstruktiver und kritischer Zusammenarbeit. Der Pfarrer predigte über die Vergänglichkeit und befahl den Toten der Barmherzigkeit Gottes. Zu einem Eklat kam es nicht. Niemand nannte ihn einen Narren. Die eine Nacht, die letzte, bleibt das Geheimnis, dass Gott mit den Menschen teilt.

Manfred Wussow
Kgm. Aachen
M.Wussow@gmx.de


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