Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

5. Sonntag nach Trinitatis, 20. Juli 2003
Predigt über Lukas 5, 1-11, verfaßt von Walter Meyer-Roscher
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Predigttext:

Es begab sich aber, als sich die Menge zu Jesus drängte, um das Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen ihre Netze. Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte die Menge vom Boot aus. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach er zu Simon: "Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!" Und Simon antwortete und sprach: "Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort will ich die Netze auswerfen." Und als sie das taten, fingen sie eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen. Und sie winkten ihren Gefährten, die im anderen Boot waren, sie sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide Boote voll, so dass sie fast sanken. Als das Simon Petrus sah, fiel er Jesus zu Füßen und sprach: "Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch." Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander getan hatten, Ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus, Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: "Fürchte dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen." Und sie brachten die Boote ans Land und verließen alles und folgen ihm nach.

Liebe Gemeinde,

"Die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen" – da kann man als Fischer am See Genezareth schon resignieren. Wir hören die Resignation heraus und denken gleichzeitig: Das kennen wir doch. Das ist uns nicht fremd: Sich abmühen ohne Erfolg, sich engagieren ohne Anerkennung, Lebenskraft und Lebenszeit investieren ohne Sinn. Wer hat das nicht schon erlebt? Viele werden von solchen Erfahrungen niedergedrückt.

Eine depressive, müde Grundstimmung droht sich in unserer Gesellschaft breit zu machen. Die Ahnung wächst, dass die Forderungen nach Effektivität und Produktivität einen hohen Preis haben und leicht zu Lasten der Lebensqualität gehen können. Das alte Lied der Klage verstummt nicht. Aber die Sehnsucht nach ein bisschen Glück lässt sich auch nicht ausrotten. Die Hoffnung auf Lebenserfüllung lässt sich nicht verschütten.

Wer daran festhalten will, muss sich allerdings auf eine Zumutung einlassen, die aller Erfahrung widerspricht. "Fahre hinaus, wo es tief ist" – ja, für einen erfahrenen Fischer wie Simon, der später Petrus heißen soll, ist es eine fast unerträgliche Zumutung. Wo es tief ist, gibt es keinen Fisch zu fangen. Das weiß man am See Genezareth. Man hält sich an die bewährte Regel: Dunkel sollte es sein, und man sollte in Ufernähe bleiben. Das ist jedenfalls eine wichtige Voraussetzung für die ohnehin nicht üppigen Erfolge, für Lebensunterhalt und Überleben.

Kann das gut gehen, wenn wir die Lebenserfahrungen, die den Erfolg garantieren sollen, vergessen? Können wir es uns leisten, die ungeschriebenen Gesetze unserer Welt zu missachten? Darum geht es doch heute: Mit scharfem Verstand planen und dann zielorientiert handeln, ohne sentimentale Erinnerungen zu kultivieren! Den Markt als absolute Autorität anerkennen und den anderen immer um eine Nasenlänge voraus sein, ohne sich von Gefühlen beeinflussen zu lassen! Den Fortschritt von Wissenschaft und Technik vorantreiben, ohne sich zu sehr in Skrupeln zu verlieren! Diese Gesetze versprechen Erfolg, und darum gilt es, aus Niederlagen wieder aufzustehen, Frustration und Depression tapfer zu überwinden, gegen das Gefühl der Leere und des Ausgebranntseins anzukämpfen. Dann wird sich das Leben schon irgendwann und irgendwie lohnen.

Können wir es uns leisten, diese täglichen Forderungen einmal zu überhören und auf die unmögliche Zumutung einzugehen, Lebenserfüllung jenseits der angeblich unumstößlichen Gesetzmäßigkeiten einer Leistungsgesellschaft zu suchen?

Garantien werden nicht gegeben – so wie auch Simon damals nur die Aufforderung hört: "Fahre hinaus, wo es tief ist!" Trotzdem hat er es als Ermutigung verstanden, im alten Leben einen neuen Anfang zu wagen: "Auf dein Wort hin!"

Da geht es nicht mehr um das Vertrauen auf die eigenen Lebenserfahrungen, die eigenen Berechnungen und Planungen, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten. Da soll auch nicht die Hoffnung weiterhelfen, dass neue Techniken das Leben freundlicher und lebenswerter machen können.

"Auf dein Wort hin wage ich es", sagt Simon. Und damit kommt eine ganz neue Kraft ins Spiel: Das Wort dessen, der von Gott her denkt, Gottes Willen zum Maßstab des Handelns macht und Gottes Liebe den Menschen nahe bringen will. Davon hat Jesus vom Fischerboot aus zu der Menge am Ufer geredet, und die kleine Gruppe der Fischer um Petrus hat es auf sich bezogen. In seinen Worten haben diese Menschen Gottes Nähe gespürt. Darum wagt Petrus, auf die Zumutung mit der Bereitschaft zu neuem Einsatz zu reagieren.

Das Wagnis gelingt. Die bei jeder Ausfahrt gegenwärtige Hoffnung, dass der Einsatz nicht vergeblich ist und dass Leben sich doch lohnt, wird Wirklichkeit.

Was im Lukasevangelium von diesem wunderbaren Erlebnis der Fischer berichtet wird, hat seinen tieferen Sinn bis heute nicht verloren: Gegen alle bösen Erfahrungen von vergeblicher Mühe, von Niederlagen und Erfolglosigkeit gibt es erfülltes und sinnvolles Leben. Allerdings wird uns eine andere als die gewohnte Blickrichtung zugemutet und eine neue Art von Denken abgefordert: Die Gesetzmäßigkeiten von Leistung und Erfolg, von Berechnung und Planung, nach denen wir unser Leben auszurichten gelernt haben, verlieren ihre überragende Bedeutung.

Gelingendes Leben hängt nicht in erster Linie von den Erfolgen ab, mit denen die Tüchtigen und Beharrlichen rechnen. Gelingendes Leben ist nicht logisches Ergebnis rationaler Planung und menschlichen Wagemuts. Ausschlaggebend ist schließlich, dass Gott in den Blick kommt, so wie Jesus von ihm geredet hat. Er misst den Wert eines Lebens nicht nach unseren gewohnten Kriterien. Er sieht das Herz an, heißt es schon im Alten Testament. Er wendet sich gerade den Verlierern, den Müden und Ausgebrannten zu. Unwertes Leben gibt es in seinen Augen nicht.

Sich für Gottes Wertschätzung des Lebens offen halten, das ist eine neue und vielleicht ganz ungewohnt Lebenseinstellung. Da erfährt ein Mensch: Ich bin Gott unendlich viel wert. Ich brauche mich nicht vor anderen zu verstecken. Ich muss nicht ständig auf meine Misserfolge starren. Ich brauche mich nicht aufzugeben, weil Gott mich nicht aufgegeben hat. Ich kann jeden Tag einen neuen Anfang wagen – aber in einem neuen Geist.

Darauf läuft die alte Geschichte vom neuen Anfang des Simon Petrus zu: Von nun an sollst du Menschen fangen – nicht wie der Rattenfänger von Hameln und wie alle die modernen Rattenfänger mit ihren Glücksversprechungen, die uns nur für ihre Interessen vereinnahmen und benutzen, die uns am liebsten wir zappelnde Fische in ihrem Netz sehen wollen.

Jesus meint einen anderen Auftrag, der gleichzeitig eine neue Herausforderung ist: Menschen gewinnen durch unbedingte Nächstenliebe, Menschen gewinnen für eine neue Werteordnung, die auf Gottes Wertschätzung jeden Lebens beruht.

Eine neue Erfahrung, die auch neue Kräfte freisetzt: Zur Lebenserfüllung, zum Menschein gehört doch auch, für andere dazusein, für andere einzutreten, mit anderen zu teilen, was wir haben, was andere brauchen mit in unsere Zukunftsplanungen und Vorstellungen, in unsere Sehnsucht nach Glück einzubeziehen.

Von nun an sollst du Menschen fangen. – Wer im Geist Jesu zu denken lernt, wird dieses "Fangen" als "Auffangen" verstehen und dabei an die denken, die von den alten Erfahrungen der Vergeblichkeit des Lebens niedergedrückt werden und abzustürzen drohen.

Hier öffnet sich der Horizont unserer Geschichte vom wunderbaren Fischfang. Auftrag und Verheißung der Kirche Jesu Christi kommen in den Blick. Jede Gemeinde spürt die Herausforderung, Menschen in ihrer Mitte aber auch an ihren Rändern aufzufangen. Menschsein, Lebenserfüllung ist schließlich nicht ohne Gemeinschaft denkbar – die Gemeinschaft aller, die Gottes Wertschätzung des Lebens in ihre Sehnsucht nach Lebenserfüllung und Glück einbeziehen und damit neu leben lernen.

Wir brauchen diese Gemeinschaft, die bereit ist, Gottes Werteordnung in das Leben unserer Gesellschaft einzubringen. Eine gute Perspektive für unsere Kirche und für jede Gemeinde: Auf Berechnung und Planung, Marketing und zielgerichtete Personalführung, Finanzpläne und Strukturdiskussionen kommt es weniger an. Wichtig ist letztlich das Vertrauen auf eine Anziehungskraft, die uns selbst mit Leben erfüllt und andere mit Leben ansteckt, mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Das ist eine Verheißung, und das bleibt eine Herausforderung.

Amen

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelogstraße 1
31141 Hildesheim
meyro-hi@t-online.de

 


(zurück zum Seitenanfang)