Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Quasimodogeniti (1. Sonntag nach Ostern), 27. April 2003
Predigt über Johannes 20, 24-31, verfaßt von Paul Kluge
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24 Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam.
25 Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich's nicht glauben.
26 Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt, und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch!
27 Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!
28 Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott!
29 Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
30 Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch.
31 Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.

Liebe Geschwister,

Thomas ist als der Zweifler bekannt. Das bringt ihn in meine Nähe. Doch Thomas will seine Zweifel überwinden. Deshalb will er der Sache auf den Grund gehen, deshalb fordert er Beweise. Diese Gründlichkeit gefällt mir. Ich habe Thomas einen Brief geschrieben, und den möchte ich Ihnen vorlesen:

Lieber Thomas,

ich habe deine Geschichte gelesen, und nun will ich dir einen Brief schreiben. Denn ich kann dich nur zu gut verstehen, und so denke ich, du wirst auch mich verstehen. Du glaubst nicht alles, was andere so reden, und dafür gibt es ja gute Gründe. Da wirst du ebenso deine Erfahrungen gemacht haben wie ich. Du wirst wissen, wie schnell Gerüchte entstehen, wie gern sie erzählt und gehört werden, und du wirst die Gier der Massen nach sensationellen Nachrichten kennen. Das war zu deiner Zeit sicherlich nicht anders als heute. Man kann sein Geld damit verdienen, daß man Gerüchte als Nachrichten verkauft, und man kann damit Menschen zu Grunde richten oder zu Superstars stilisieren.

Du willst mit deinen eigenen Augen sehen, mit deinen Händen fassen, was die anderen dir erzählt haben, willst die Nachricht überprüfen. Diese Tugend ist heute wenig verbreitet, war es wohl auch zu deiner Zeit nicht. Hätte dein Verhalten sonst Erwähnung gefunden? Ich vermute, zu der Zeit wußtest du selbst noch nicht, daß du einmal ein eigenes Evangelium schreiben würdest. Es hat bei weitem nicht die Publizität erlangt wie andere Evangelien. Das mag daran liegen, daß du fast nur kurze Worte und Gleichnisse Jesu aufgeschrieben hast und keine spektakuläre Wunder wie die anderen. Auch keine Beschreibung von Spott und Hohn, von Folter und Hinrichtung, wie viele Menschen sie so gern mit Gänsehaut lesen. Vielleicht hast du das alles nicht geschrieben, weil du es nicht überprüfen konntest.

Aber sag mal, warst du denn nicht dabei in Gethsemane, als Jesus verhaftet wurde, hast du den Scheinprozeß nicht verfolgt, bist nicht anonym in der Menge der Schaulustigen nach Golgatha gezogen? Das würde zu dir passen, denn du scheinst ein vorsichtiger, auf Sicherheit bedachter Mann zu sein, der das Risiko nicht gerade sucht. Das macht dich mir sympathisch. Doch wer sich so verhält, ist dann auf Informationen aus zweiter Hand angewiesen, auf das, was andere ihm erzählen, und muß das dann auch noch überprüfen.

Als die anderen dir erzählten, Jesus sei bei ihnen gewesen, konntest du das nicht glauben, hatten die Römer ihn doch zwei Tage vorher hingerichtet. Zwar hatte Maria aus Magdala berichtet, daß das Grab leer war, doch das konnte viele Gründe haben. Und das sie, gerade sie, in einem Friedhofsgärtner Jesus erkannt haben wollte, hast du vermutlich als Trauerhysterie abgetan.

Dann hast du das Haus verlassen, wo ihr alle zusammenwart. Konntest du das Trauern und Klagen, die Angst und die Verzweiflung, die Rat- und Orientierungslosigkeit der anderen nicht mehr ertragen – oder warst du unterwegs, um das Gehörte zu überprüfen? Und was haben deine Recherchen ergeben – in deinem Evangelium steht nichts darüber.

Jedenfalls: Als du zurückkamst, haben die anderen dich mit der Nachricht überfallen, Jesus sei dagewesen. Du hast das vielleicht für eine Gruppenhalluzination gehalten, doch wohl, um die anderen nicht zu verletzen, hast du den Beweis verlangt. Der kam dann auch eine Woche später. Was da passiert ist, hast du vermutlich genau so wenig verstanden wie wir das heute mit unserem Verstand erklären können. Aber es muß dich überzeugt haben - auch, wenn es deiner Vernunft, deiner nüchternen Überlegung widersprach. Doch ist nicht gerade das typisch für Glauben, daß er unsere Vernunft übersteigt? Was ich mit meinem Verstand erfassen kann, brauche ich nicht zu glauben, ich weiß es einfach. Doch auch heute gibt es Dinge, die sind einfach nicht zu fassen und auch nicht zu erklären. Aber sie sind da. Liebe zum Beispiel oder manchmal vorkommende Spontanheilungen. Ich kenne Leute, die hatten für einen kurzen Moment das Gefühl, mit der ganzen Welt eins zu sein. Sie können es nicht beschreiben, aber sie haben es erlebt. So etwas gibt es und gab es wohl schon immer. Unser Verstand, haben Forscher herausgefunden, macht gerade mal 20% von uns aus. Das ist nicht gerade viel, und unser Stolz darauf sollte eher bescheiden sein.

Wenn ich mich in deine Lage versetze, als die anderen dir vom Erscheinen Jesu erzählten und du das nicht glaubtest, kommt mir der Gedanke, daß du da ja wohl zum Außenseiter in der Gruppe wurdest, zu einem, der nicht dazugehört. Ich stelle mir das schlimm vor, denn du hattest ja vermutlich keine anderen Beziehungen mehr. Doch dann, nach deinem Erlebnis, gehörtest du wieder dazu. Das muß doch für dich wie die Heimkehr des verlorenen Sohnes gewesen sein, wieder zur Gemeinschaft der Jüngerinnen und Jünger zu gehören, zur Gemeinschaft der Glaubenden. Mindestens mußt es dich erleichtert haben, wieder dazuzugehören.

Lieber Thomas, spätere Generationen haben dich zum Zweifler erklärt und damit zu einem negativen Vorbild gemacht. Ich muß dem widersprechen. Du wolltest überzeugt werden, und das wurdest du. Ich sehe in dir den letzten Augenzeugen und denke, das wird dir gerechter. Die Chance zu sehen, die du hattest, haben wir heute nicht mehr. Wir können aber glauben, weil du gesehen hast. Und weil du uns Mut machst, skeptisch zu sein, nachzufragen und uns überzeugen zu lassen. Du hast deinen Verstand nicht ausgeschaltet, sondern erfahren, daß der nicht alles ist. Das anzuerkennen, meine ich, müssen wir heute wieder lernen. Dabei kannst du uns helfen, und dafür möchte ich dir danken.

Herzlichst, Dein ...

Liebe Geschwister, vielleicht können Sie diesen Brief auch unterschreiben – oder Sie schreiben zu Hause Ihren Brief an Thomas. Amen

Paul Kluge, Provinzialpfarrer
im Diakonischen Werk in der
Kirchenprovinz Sachsen
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de



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