Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Letzter Sonntag nach Epiphanias, 9. Februar 2003
Predigt über Matthäus 17, 1-9, verfaßt von Hans Joachim Schliep
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"Nach sechs Tagen nahm Jesus mit sich Petrus und Jakobus und Johannes, dessen Bruder, und führte sie allein auf einen hohen Berg.

Und er wurde verklärt vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß wie das Licht. Und siehe, da erschienen ihnen Mose und Elia, die redeten mit ihm.

Petrus aber fing an und sprach zu Jesus: „Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen, dir eine, Mose eine und Elia eine.“

Als er noch so redete, siehe, da überschattete sie eine lichte Wolke. Und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: „Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe; den sollt ihr hören!“

Als das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an und sprach: „Steht auf und fürchtet euch nicht!“ Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein.

Und als sie vom Berge hinabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: „Ihr sollt von dieser Erscheinung niemandem sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist.“"

„Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. ... Und deshalb bin ich glücklich heute abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“

Mit diesen Worten, liebe Gemeinde, schloß Martin Luther King, Streiter für die Bürgerrechte der schwarzen Amerikaner und Friedensnobelpreisträger, seine letzte Rede. Am Tag darauf, am 4. April 1968, erlag er einem hinterhältigen Attentat. Erst durch Martin Luther King’s letzte Rede ist mir die Erzählung von der „Verklärung Jesu“ bedeutsam geworden. Sie läßt mich das Geheimnis des Glaubens erahnen.

Ein Geheimnis ist mehr als ein Rätsel. Rätsel muß man lösen. Geheimnisse soll man stehen lassen. Denn darin besteht ihr Sinn: ein Geheimnis zu sein, eine Bedeutung jenseits rationaler Deutung zu repräsentieren. Der Schleier vor diesem Geheimnis schützt es vor Zudringlichkeiten, die alles beschädigen, zerstören können, und schützt die Zudringlichen vor dem versengenden Feuer, das in jedem Geheimnis lodert.

Damit bin ich schon zu Beginn der Predigt am Ende der Geschichte. Man fragt sich ja: Warum gebietet Jesus seinen Jüngern, von dieser Erscheinung niemandem etwas zu sagen, bis der Menschensohn von den Toten auferstanden ist? Er verbietet es ihnen ja nicht, er gebietet es ihnen. Er hat also Gutes mit ihnen im Sinn. Über das Nichtalltägliche, Außergewöhnliche und Überwältigende kann man nicht ständig reden. Einem geliebten Menschen kann und muß man auch nicht dauernd sagen: „Ich liebe dich.“ Wie die Liebe, so die Gottesnähe:

Die schöpferische Gottesmacht, die in Worten, Vorstellungen, Bildern wie >Auferstehung< sich Ausdruck verschafft und die sich in dieser Erscheinung ankündigt, gilt uns in unserem Alltag. Umso weniger alltäglich, umso überwältigender und außergewöhnlicher ist sie. Jede/r muß erst einmal lernen, mit diesem Geheimnis umzugehen. Es gilt nämlich etwas wahrzunehmen, was für uns Menschen normalerweise ein Widerspruch in sich ist: Höhe und Tiefe, Leiden und Glanz, Licht und Finsternis, Vergeblichkeit und Herrlichkeit, Passion und Aktion.

So will ich den Schleier vor diesem Geheimnis, ohne ihn auch nur einen Spalt breit lüften zu können, nur betrachten und die Umrisse beschreiben, die ich erkenne. Vier Blicke wage ich.

Ein erster Blick. Jesus führt seine drei engsten Vertrauten allein auf einen hohen Berg. Der Berg in den Evangelien: ein Ort der Einsamkeit, des Rückzugs, der Besinnung und vor allem des Gebets. Betende Menschen sind „tabu“. Wir finden es unanständig, betende Menschen zu fotografieren. Wir stören sie nicht. Wir lassen sie beten. Im Gebet und mit dem betenden Menschen ereignet sich das Geheimnis der Gottesbeziehung und ineins damit das Geheimnis innerster Personenbeziehung. Um sie an solcher Beziehung teilhaben zu lassen, nimmt Jesus die drei Jünger - wir lesen: mit sich, ich lese in der alten Lutherbibel - zu sich. Das heißt: Er nimmt „sie hinein in das Geheimnis seiner eigenen Person“ (Wilhelm Stählin).

So ist der Berg kein äußerer und das Gebet kein innerer Raum, in denen sich nichts ereignet, sondern in denen ganz viel, meist Entscheidendes geschieht. Vor wichtigen Aufgaben und schweren Entscheidungen ziehen auch wir uns zurück, innerlich und äußerlich oder beides zugleich, „um über den Berg zu kommen“. Alles bewegt sich auf eine Spitze, einen Gipfel zu.

Bitte erinnern Sie sich nun, liebe Gemeinde, um auf den zweiten Blick vorbereitet zu sein, an Menschen, die in bestimmten Augenblicken etwas ausstrahlten, was bisher an ihnen verborgen war: eine Ruhe, eine Klarheit, eine Gewißheit - als seien sie verklärt. Ebenso an Menschen mit einer besonderen Aura: Kaum haben sie den Raum betreten, füllen sie ihn aus. Kaum haben sie zu sprechen begonnen, hört man ihnen zu.

Man soll solche Menschen nicht anhimmeln. Aber die Begegnung mit ihnen zeigt: Es gibt Beziehungen, deren Grund und Art sich nicht erklären läßt, die einfach da sind. Wie Freundschaft. Wie Liebe. Und so ist Glaube. Darin ist Glaube etwas Außergewöhnliches, ja, hat er etwas vom Außersichsein, etwas Ekstatisches. Hildegard von Bingen, die in der Ausstellung >Frauen gestalten Frauengestalten< bei uns neben dem Altar saß, hatte es. Wenn sie nicht von dem erzählte, was sie geschaut und gehört hatte, wurde sie krank.

Zum Glauben können sinnliche Wahrnehmungen gehören, die das normale Wach- und Tagesbewußtsein übersteigen. Sie deuten sich schon in einer gesteigerten Wachheit und Aufmerksamkeit an, die uns bei bestimmten Anlässen und Ereignissen ergreift. Auf einem sonnendurchfluteten Berggipfel stehen! Beim Blick übers Meer sehen, wie am Horizont Himmel und Erde verschmelzen!

Das sind vorbereitende Erfahrungen auf das hin, was Dag Hammarskjöld, der frühere, beim Einsatz um den Frieden im afrikanischen Kongo durch einen Flugzeugabsturz umgekommene UN-General-sekretär, gesagt hat:

Gott stirbt nicht an dem Tag, an dem wir nicht länger an eine persönliche Gottheit glauben, aber wir sterben an dem Tag, an dem das Leben für uns nicht länger von dem stets wiederkehrenden Glanz des Wunders durchstrahlt wird, von Lichtquellen jenseits aller Vernunft.

Die drei Vertrauten Jesu, die zugleich Vertreter der ganzen Christenheit sind, sehen Jesus, wie sie ihn kennen - und doch in einem anderen Licht. Dieser Mensch aus Fleisch und Blut und in schlichtem Gewand erscheint ihnen als wahre Lichtgestalt. Zu diesem „Gesicht“ kommt ein „Gehör“. Eine Stimme bekennt sich zu Jesus als dem Christus. Da stellt sich jemand auf Jesu Seite und stellt Jesus an seine Seite. Und autorisiert ihn: den sollt ihr hören.

In ihm erscheint keine neue Gottheit. Aber die ursprüngliche Gotteserkenntnis, wie sie in der Lebensweisung der Gebote, für die Moses, und in den Lebensworten der Propheten, für die Elia steht und erscheint, erfüllt, vollendet sich in Jesus Christus, die Geschichte Gottes mit den Menschen kommt in ihm zum Ziel: das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit.

Das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, der preisende und anbetende Schluß eines jeden Vaterunser-Gebets, sind die Lichtquellen, die sich vor Petrus, Jakobus und Johannes auftun. Ihre Dynamik und Energie hat sie herangeführt an das „Geheimnis der Person Jesu“ und hineingenommen in eine Welt, in der die Verlachten und Verachteten, die Verlorenen und Verfolgten selig gepriesen werden, also Kinder Gottes heißen, also Anerkennung und Recht genießen. Wo nun Menschen, denen die Rolle „außen vor“ zugewiesen war, in der Nähe Jesu „außer sich“ gebracht werden, sind sie, wie die Jünger, über ihre neue Sicht und ihr neues Sein begeistert und erschrocken zugleich.

Glaube ist heiliges Erschrecken. Da gerät man schon aus der Fassung. Zuerst will Petrus auf ewig bleiben, dann fallen alle Drei bestürzt auf ihr Angesicht. Wie schon Moses - selbst er - können auch sie das Licht vom Antlitz Gottes nicht fassen und geraten in Furcht und Zittern, weil die Stimme Gottes sie meint, gerade sie.

Ein dritter Blick. Steht auf und fürchtet euch nicht! Das ist für mich das Umwerfendste: Petrus, Jakobus und Johannes sollen aufstehen. Jesus holt sie aus der Demutsgebärde, aus Furcht und Zittern heraus - wie er ihnen vorher nach ihren Höhenflügen wieder Bodenhaftung gab. Er läßt sie weder klein noch macht er sie übergroß. Er gibt ihnen ihr menschliches Maß.

Es geht hier ja auch nicht um >Verklärung<, wie die Erzählung immer wieder genannt wird. Es geht um >Verwandlung<, um >Metamorphose<, wie es tatsächlich im Griechischen heißt. In der „Metamorphose“ bleibt das Wesen, aber die Gestalt ändert sich. Doch nicht so, daß Wesen und Gestalt nun auseinanderfallen. Sondern so, daß das Wesen seine ihm angemessene Gestalt findet. Dann wird Jesus ganz Licht. Damit erkannt werden kann, daß er Gott selbst vertritt, daß er der Christus ist. Und zugleich steht er, als die drei aufblicken und sich zu ihrer menschlichen Gestalt erheben, als Mensch vor ihnen. Als sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie niemand als Jesus allein. So beginnt auch bei Petrus, Jakobus und Johannes eine Verwandlung.

Damit bin ich beim vierten Blick. Sie steigen den Berg wieder hinunter. Denn dieser Mensch, der da jetzt vor ihnen steht, macht Petrus, Jakobus und Johannes klar, daß das Erleben der Höhe gekoppelt ist an das Erleben der Tiefe. Petrus wollte Hütten bauen, dem Flüchtigen Dauer schaffen. Hier auf dem Berg, hier im Licht Gottes könnte unser Lebensweg doch enden! Hier, wo sich die Fragmente unseres Lebens zu einem Bild zusammenfügen! Jetzt, im Höhenflug des Glaubens! Doch ausgerechnet die Stimme von oben, die jetzt die Stimme Jesu geworden ist, verweist die Jünger nach unten und an den Platz, an den Menschen erst einmal hingehören. An den Platz, an dem Jesus um Gottes und der Menschen willen sein will.

Keine Frage, der Glaube ist auch ein Höhenflug. Aber „die Ekstase ist kein Aufenthaltsort, an dem man bleiben könnte“ (Wilhelm Stählin). Deshalb gibt es noch „keinen Daueraufenthalt in der Gegenwart Gottes.“ (Manfred Josuttis) Jesus hat die drei Jünger Bilder der Vollendung sehen lassen, um sie ihres Glaubens gewisser zu machen. Aber die Bilder der Vollendung kann man nicht festhalten, weil sonst das Leben in ihnen erstarrt. Und die Gewißheit des Glaubens kann sich nur im tiefen Tal des menschlichen Lebens bewähren. Da wollte Petrus Jesus nicht hinunterlassen, als er sich, wie Matthäus im Kapitel vorher erzählt, so vehement wehrt, als Jesus seine Passion, sein Leiden ankündigt. Doch auch Petrus soll in wahres Menschsein hinein verwandelt werden.

Das letzte Bild des großen Malers Raffael heißt "Transfiguration" (trasfigurazione). Darin faßt er in einem Gemälde zusammen, was zusammengehört: Die Schau des ins Licht hineinverwandelten Christus und der Blick auf den Jungen, der wie von einem Dämon immer wieder zu Boden gerissen wird. Wie die angesichts des himmlischen Glanzes zu Boden gefallenen Jünger hilft Jesus den zu Boden gestürzten Jungen wieder auf die Beine.

Ohne Abstieg bleiben Gipfelerfahrungen wertlos. Ohne Gipfelerfahrungen wird jeder Abstieg zum Trauermarsch. Höhe und Tiefe, Passion und Aktion gehören zusammen. Davon hat Martin Luther King etwas erkannt. Im Glanz Gottes, der die Gestalt Jesu zum Leuchten brachte, nahm er den Glanz wahr, der von Christus her auf jeden Menschen fällt. Er kämpfte in der Kraft des Glaubens dafür, daß kein Mensch mehr seiner Rechte beraubt wird.

„Nun, ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird. Schwierige Tage liegen vor uns. Aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem Gipfel des Berges gewesen. Ich mache mir keine Sorgen. Wie jeder andere würde ich gern lange leben. Langlebigkeit hat ihren Wert. Aber darum bin ich jetzt nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. ... Und deshalb bin ich glücklich heute abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgend etwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.“ Amen.

Hans Joachim Schliep
Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de


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