Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Neujahr, 1. Januar 2003
Predigt über Lukas 4, 16-21, verfaßt von Gunda Schneider-Flume
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Universitätsgottesdienst am 1. Januar 2003 in der Nikolaikirche Leipzig

Ein gutes neues Jahr, liebe Gemeinde, mit diesem Wunsch haben die meisten von uns vor wenigen Stunden das neue Jahr begonnen. Diesen Wunsch werden wir heute und in den nächsten Tagen viele Male wiederholen, und er wird uns gesagt in Erwartung all des Guten, das wir uns wünschen für das neue Jahr. Noch ganz frisch liegt das Jahr 2003 vor uns, fast unbeschrieben sind die Kalenderblätter. Auch wenn bei manchen schon Termine notiert sind, möglicherweise viel zu viele, Geschehenes ist noch nicht festgehalten. Wir erwarten das noch, das Alte haben wir verabschiedet und hinter uns gelassen, und wir wollen vor allem das, was erschreckend war, hinter uns lassen.

Es tut gut, neu anfangen zu können. Es tut gut, innezuhalten, neu zu planen, sich zu besinnen. Neujahr ist ein Anlass dafür. Mit aller Kraft unserer Wünsche wollen wir anfangen.

Die kalendarische Jahreswende fällt mitten in die Weihnachtszeit, in der die Christenheit Gottes Erscheinen auf der Erde in dem Kind in der Krippe feiert, die große Zeitenwende, weil mit der Geburt des Kindes Friede und Gnade, Heil und Freude verheißen sind. Weihnachten, das Fest der Zeitenwende, weil mit der Ankunft Gottes neue Zeit anbricht, Gnadenzeit, in der Gott mit uns ist und sein Geist der Liebe und des Erbarmens, der Gerechtigkeit und Hoffnung Menschen neu in Bewegung bringt.

Nun feiern wir kurz nach dem Weihnachtsfest den Jahreswechsel, das neue Jahr des weltlichen Kalenders, der aber tatsächlich nicht nach „unserer“ Zeitrechnung, wie die Machthaber der kommunistischen Ideologie glauben machen wollten, sondern nach der Zeitrechnung des historischen Geschehens des Lebens Jesu von Nazareth rechnet. 2003 post Christum natum. Eigenartig greifen da weltlich und christlich ineinander. Neujahr inmitten der Weihnachtszeit, Silvesterböller und Kirchenglocken, Sektempfang und Neujahrsgottesdienst.

Ein gutes neues Jahr beginnen wir mit der Kraft aller unserer guten Wünsche, so wie wir das Leben eines Kindes mit Wünschen begleiten. Wie das Leben eines Kindes vielfach unbestimmt und ganz unverbraucht ist, so ist auch das neue Jahr noch unbestimmt und offen für viele Möglichkeiten. Es ist alles noch Erwartung.

Es gibt ein Märchen vom alten Silvester, der irgendwo in himmlischen Gefilden das ganze Jahr über schläft. Am letzten Tag des Jahres aber wird er geweckt, um eine neues Jahrkind zur Erde zu bringen, das er mit dem zwölften Stundenschlag am Silvesterabend freisetzt. Voller Freude und Leichtigkeit springt es auf die Erde zu den Menschen hin und nimmt seinen Lauf. Der alte Silvester aber nimmt das Wesen auf, das er vor einem Jahr hoffnungsvoll zur Erde gebracht hat und das nun grau und abgewirtschaftet, gebeugt und mühselig, müde und ohne Hoffnung an einer Mauer lehnend sitzt.

Liebe Gemeinde,
ist es so mit dem alten Jahr? Ist es so mit unseren Wünschen? Alle Jahre wieder? Ist die Zeit verbraucht und missbraucht, und sind die Wünsche und Hoffnungen am Ende zu einem Sack voller Enttäuschungen geworden?

Die ersten Tage eines neuen Jahres haben für viele Menschen etwas von der Freude, der Erwartung und der Kraft von Kindersprüngen, von dem Mut und der Unbefangenheit, mit der Kinder sich in ein neues Spiel stürzen können. Danach wird die Gangart langsamer, die alten Gewohnheiten stellen sich wieder ein, die Tage nehmen ihren Lauf wie eh und je, und plötzlich heißt es: ‚Es ist schon wieder halb vorbei‘, und man fragt sich, wo die Wünsche und Hoffnungen geblieben sind. Sind ihnen die Flügel gestutzt worden vom alltäglichen Realismus? Haben wir sie fallen lassen, weil wir uns hart angestoßen haben an den Zwängen des Alltags? Oder fühlen wir uns selbst wie fallen gelassen, müde und schwer und nicht mehr zu großen Sprüngen ansetzend?

Man kann das Bild vom alten, abgewirtschafteten Jahrkind im Märchen wohl verstehen, und vielleicht würden wir uns auch gerne der Vorstellung des Märchens hingeben, wenn es erzählt, dass dieses müde Wesen des alten Jahres liebevoll aufgenommen und in einem himmlischen Jungbrunnen verjüngt wird. Zu schön, um wahr zu sein. Und all die guten Neujahrswünsche des Jahres 2002, Frieden, Gesundheit, Erfolg im Studium, Erfolg im Beruf, was ist aus ihnen geworden? Manche sind in Erfüllung gegangen, manches konnten wir verwirklichen, vieles ist unerfüllt geblieben, obwohl die Kräfte verbraucht sind und das Jahr vorbei, wie auch immer.

Ist die Sicht, dass das alte Jahr grau und abgewirtschaftet sei, zu pessimistisch? Manche werden das sagen und auf die Lichtblicke hinweisen, das, was erreicht wurde im vergangenen Jahr, das, was schön war, Unerwartetes, das sich wie ein Wunder ereignete, eine Gesundung, eine Rettung im Verborgenen, Geschehen, das so schnell vergessen wird, weil es gar nicht sensationell ist. Andere blicken entschlossen und tatkräftig nach vorne auf die Pläne und Vorhaben für das neue Jahr. Manche aber, die auf das alte Jahr blicken, werden sagen: Es war viel schlimmer, als es im Märchen erzählt wird. Sie sehen das alte Jahr mit den Augen des Engels, den Paul Klee gemalt hat. Mit dem Rücken zur Zukunft blickt er zurück, sein Gesicht ist von Schrecken gezeichnet über all das, was sich ihm in der Vergangenheit auftut. Er sieht die Berge von Trümmern, die Menschen angehäuft haben, er sieht die Katastrophen und die Kriege, die Verwüstungen der Jahrhundert-Flut und die Zerstörungen der Feuer, die ermordeten Schüler und Lehrer von Erfurt, die durch Krankheit und Seuchen Hingerafften und die vielen durch Aids infizierten Kinder. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht der Engel eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Wahrscheinlich gehört auch aus unserem persönlichen Leben etwas zu diesen Trümmern. Der Philosoph Walter Benjamin hat das Bild von Klee ausgelegt und den Sturm als das interpretiert, was wir den Fortschritt nennen.

Gelegentlich scheint es uns so zu gehen wie dem Engel, gebannt von der Überfülle der Zerstörung und müde davon, dass Wünsche, Kräfte und Hoffnungen immer wieder verbraucht sind. Im Blick auf das an Schrecken nicht arme Jahr 2002 neigen viele Menschen der Interpretation des Philosophen zu: Mit vermeintlichem Fortschritt richten Menschen sich selbst und die Welt zugrunde.

Es tut gut, neu anzufangen. Aber können wir neu anfangen? Woher kommt die Hoffnung und die Kraft, wenn man schon weiß, dass am Ende alles verbraucht ist? Der Neuanfang im Jahreskreislauf erinnert daran, dass ein neuer Zeitabschnitt, ein Stück unserer Lebenszeit ist – am Ende verbraucht und wir mit ihm. Und so immer wieder. „Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet“ (Jak 4, 14), so haben wir es in der Epistellesung gehört.

Der Predigttext zum heutigen Neujahrstag sieht die Zeit anders als das Märchen vom alten Silvester und als der Engel Paul Klees. Jesus kommt in seine Heimatstadt, geht in die Synagoge und steht, so wie es für jüdische Männer Brauch ist, auf, um zu lesen. Man reicht ihm die Buchrolle, und er liest die Stelle aus dem Buch des Propheten Jesaja:

„Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." Und als er das Buch zutat, gab er‘s dem Diener und setzte sich. Und aller Augen in der Synagoge sahen auf ihn, und er fing an, zu ihnen zu reden: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren.“

Heute – das ist unerhört und unglaublich. Jahrhundertelang hat die alte prophetische Verheißung Menschen getröstet und aufgerichtet durch die Kraft der Erwartung, und jetzt heißt es „heute“. Gute Botschaft den Armen, frei sein, sehen, den Zerschlagenen Befreiung, heute das Gnadenjahr des Herrn. Das ist nicht geprägt vom gebannten Blick auf den Trümmerhaufen, aber auch nicht von der entschlossenen Abwendung davon, sondern von der Provokation des Heute.

Hier ist die Zeit umgekehrt, gewendet. Da, wo wir die Kraft unserer Wünsche in die Zukunft lenken, manchmal bis zum St. Nimmerleinstag, ungewiss, ob wir hoffen dürfen, heißt es „heute“. Das ist ein wahrhaft gewendeter, neuer Realismus. Es ist der Realismus, der Gott wahrnimmt hier, mit uns, heute, nicht in himmlischen Gefilden, sondern als verlässlichen Grund eines jeden Tages. Heute ist dieses Wort erfüllt vor euren Ohren.

Das Evangelium den Armen, gute Botschaft allen, die sich nicht selbst gute Botschaft sagen können. Und wer könnte das. Es wäre eine wahrhaft erschreckende Armut, wenn ich mir selbst ein gutes neues Jahr sagen müsste oder gar meinte, ich könnte das, ich mit mir allein, und kein anderer sagte es mir. Heute gilt, dass Gottes gute Botschaft, das Gnadenjahr des Herrn allen gesagt wird. Und wir können es allen sagen, auch denen, die mit sich selbst allein sind.

Liebe Gemeinde, das Gnadenjahr Gottes gilt nicht erst dann, wenn wir unsere Pläne vollbracht haben. Das Evangelium hat, wenn es gehört wird, eine in die Gegenwart drängende Kraft schon vor der Erfüllung unserer Wünsche. Es lässt sich nicht verschieben, es ist jetzt da. Und es lässt nicht auf sich warten, bis die Wolken aller gegenwärtigen Bedrohungen verzogen sind, es leuchtet jetzt auf wie ein Stern im Dunkel, der plötzlich sichtbar wird. Deshalb gehört es zu unserem Neujahrstag, deshalb ist es Neuanfang heute.

Heute gilt: Es ist Gnadenjahr, angenehmes Jahr des Herrn. Was Gott angenehm ist, was er wohlwollend anblickt, das können Menschen nicht zunichte machen. Wie wohltuend sind schon unsere guten Neujahrswünsche. Nun werden diese Wünsche inmitten der weihnachtlichen Festzeit ausgesprochen, ganz im Blick des Geschehens, in dem Gott in dem Kind in der Krippe mit uns ist. Ein neugeborenes Kind weckt nicht nur unsere Wünsche und Hoffnungen, es fordert auch unsere gegenwärtige Aufmerksamkeit und Fürsorge, jetzt; seine Bedürfnisse müssen bemerkt und gestillt werden, und die Freude über sein Leben gilt heute schon. So ist es mit Gott.

Licht, Leben, Liebe, so umschrieb der Arzt Kurt Reuber vor 60 Jahren die Skizze der Madonna, die er im Kessel von Stalingrad gezeichnet hat. Das Weihnachtsgeschehen hat ihm auch dort im Kessel von Gewalt und Aussichtslosigkeit einen Freiraum geschaffen im gnädigen Blick Gottes: Licht, Leben, Liebe im notdürftigen Unterstand. Wie viel Kraft, Mut und Zuversicht gehen davon aus, damals und heute, einen jeden Tag neu.

In den Realismus von Angst und Aussichtslosigkeit, in die festgefügten Urteile: ‚realistisch ist da gar nichts mehr zu machen‘, bricht eine Perspektive ein, Mut – den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, den Blinden, dass sie sehen sollen. –

Es ist, als ob ein neues Heute einfällt in das Heute des Neujahrstages, wenn wir das beginnende Jahr aus der Perspektive des Evangeliums, des Gnadenjahres des Herrn ansehen.

Gnade ist Wohlwollen, und wie wir uns fühlen und wie wir uns aufrichten können unter einem wohlwollenden Blick, das wissen wir.

Ein wohlwollender Blick schafft den Spielraum, den wir brauchen, um vertrauensvoll leben zu können. Wenn ein Kind uns bittet, „Spiel mit mir“, und wir dieser Bitte nicht ausweichen, sondern nachgeben, dann tut sich ein Spielraum auf, der augenblicklich gefüllt ist mit Freude und Aktivität, mit Ideen und Begeisterung. So gibt Gottes Evangelium uns Raum, es ist der Spielraum, den wir haben, weil die Zeit nicht nur abläuft. Wohl sind wir vergesslichen Menschen gefährdet und gefangen darin, dass wir uns immer wieder verlieren im Ablauf von Routine und Hetze, so sehr, dass wir nicht einmal Kindern den Spielraum mehr gewähren, den wir auch selbst so dringend brauchen. Zu kleinen Erwachsenen machen wir sie vor der Zeit. Die Zeit der Kindheit wird immer kürzer, wir nehmen Kindern die Zeit weg, in der sie als Kinder spielen können, weil wir uns selbst auf das Heute nicht einlassen.

Das Evangelium, das Lukas erzählt, schenkt Zeit: nicht in einem himmlischen Sanatorium, sondern hier und heute, so wie Jesus anhielt und mit Menschen redete. Seine Anrede ließ Menschen aufblicken und aufatmen. Die Zeit hält an, wenn ein wenig Menschlichkeit sie füllt. Das ereignet sich überall, wo Abläufe von Zeit und Arbeit nicht nur funktionieren, sondern durch Erbarmen erfüllt werden: auf Intensivstationen und in Pflegeheimen – den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen – Wo wir versucht sind zu sagen, das lohnt nicht mehr, da ereignet sich durch liebevolle Pflege und Begleitung noch einmal Aufatmen, und wo wir nicht wegsehen, richten Menschen sich auf, wenn wir sie anblicken.

Das Evangelium, die gute Botschaft hält uns an, unsere Zeitflucht wird unterbrochen und auch der Sturm, der Fortschritt genannt wird, damit wir in der schnell ablaufenden Zeit die Fülle geschenkter Zeit bemerken, ein geschenkter Augenblick an diesem ersten Januar 2003 post Christum natum, Gott mit uns.

Und die enttäuschten Wünsche, die zerbrochenen Hoffnungen?

Liebe Gemeinde,
sie werden nicht weggezaubert, auch die drohende Kriegsgefahr nicht. Aber der Spielraum des wohlwollenden Blickes macht die Last der zerbrochenen Wünsche und enttäuschten Hoffnungen erträglich, so dass die Zerschlagenen sich aufrichten können. „Noch manche Nacht wird fallen auf Menschen Leid und Schuld. Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.“ Wir müssen uns nicht mehr unter den Bergen von Trümmern ducken. Aufrecht sieht man die Berge anders, und man kann sogar einiges abtragen von den Trümmern.

Der Spielraum, den der wohlwollende Blick schenkt, verschafft die Distanz und die Nüchternheit, um beharrlich an Lösungen für Konflikte und Probleme zu arbeiten – den Blinden, dass sie sehen sollen –. In diesem Spielraum können wir auch das, was Fortschritt genannt wird, noch einmal neu bedenken. Segen und Fluch liegen da nahe beieinander. Vieles ist möglich, sehr vieles, sollte es da nicht auch möglich sein zu heilen, ohne auf dem Weg zur vermuteten Heilung Leben zu verbrauchen und zu töten? Fortschritt muss nicht immer zerstörerisch sein.

Liebe Gemeinde, Gottes wohlwollender Blick wirkt so: Er gibt Raum für Licht, Leben und Liebe, er nimmt Not scharf wahr und Zerstörung und Schuld, er blickt nicht daran vorbei, sondern er geht darauf ein bis zur Hingabe. Das ist Hoffnung genug für ein Neues Jahr. Lässt es uns doch in den Trümmerbergen und in den Ansammlungen von Schuld und Versäumnis das Kreuz Jesu Christi entdecken – auch da, wo alles zu zerbrechen droht oder zerbrochen ist, Gott selbst – und das Schaffen Gottes, der die Gebrochenen aufhebt und die Zerschlagenen zusammenfügt und uns alle neu heute das Gnadenjahr des Herrn 2003 beginnen lässt.

Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Prof. Dr. Gunda Schneider-Flume, Leipzig/Dresden
gdrschn@attglobal.net


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