Göttinger Predigten im Internet
hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost

Sylvester, 31. Dezember 2002
Predigt über Lukas 12, 35-40, verfaßt von Wilhelm Hüffmeier
(-> zu den aktuellen Predigten / www.predigten.uni-goettingen.de)

Liebe Gemeinde,

ein merkwürdiger Text für den Sylvesterabend. Wenn je, dann braucht man heute Abend kaum jemanden extra zu ermahnen, die Lichter brennen zu lassen und sich nicht schlafen zu legen. Das versteht sich heute Abend von selbst. Der Schlaf mag ja unentbehrlich sein und eine rechte Wohltat für jeden müde gewordenen Menschen, eine Brücke zwischen Verzweiflung und Hoffnung, wie man in Rußland sagt. Das soll auch nicht in Frage gestellt werden. Aber in dieser Nacht gehen nur die Schlafmützen zu Bett. Für alle anderen ist das Wachsein ein Muss, ja für die meisten Menschen, besonders aber für die jungen Leute, kann heute Nacht das Wachbleiben nicht lange genug dauern. Es gibt so viel zu sehen, zu hören, zu feiern und sich zu sagen. Ein volles altes Jahr soll lauttönend verabschiedet und das neue Jahr mit noch lauterem Hurra willkommen geheißen werden. Dafür können die Leuchtkörper nicht hell genug sein, und die Kleidungsstücke nicht lang genug gegürtet bleiben.

Sicher, dieses Wachbleiben bis in die Morgenstunden ist noch kein Grund, selig gepriesen zu werden, oder doch? Selig, das ist in der biblischen Tradition ein anderes Wort für glücklich. Glücklich sehen doch die meisten Gesichter auf den Sylvesterfeiern und -feten aus. Sollten Christen da sauertöpfisch beiseite stehen und sich die Wunden lecken, dass wieder einmal die Parole „Brot statt Böller“ den Kürzeren gezogen hat gegenüber all den großen und kleinen Knallkörpern, Sonnen und Raketen?

Stehen die biblischen Seligpreisungen in einem totalen Gegensatz zu den weltlichen Glücksstunden? Auf keinen Fall! Dafür bürgt der hohe Herr, dafür bürgt Jesus Christus, dessen Wiederkehr nach unserem Text erwartet wird. Er kommt, liebe Gemeinde, so heißt es, von einem hochzeitlichen Festmahl. Sicher, das ist ein Bild, ein Gleichnis. Aber sauertöpfisch, schlecht gelaunt kann man sich einen solchen Herrn nicht vorstellen. Auf einem hochzeitlichen Festmahl wird gelacht und gesungen, wird Wein, reichlich Wein getrunken. Wer von so einem Fest kommt, der bringt ganz bestimmt eine festliche Stimmung und allerbeste Laune mit.

Und was dann geschieht, wenn er kommt, hat nach unserem Text geradezu karnevalistische Züge. Da wird das Verhältnis von Herr und Knecht umgekehrt. Die Knechte sollen ja nicht warten, um ihren Herrn dann, wenn es ihm beliebt zu kommen, zu bedienen. Das wäre ein Zustand, wie wir ihn tausendmal aus der Weltgeschichte kennen. Oben die Herren, unten die Knechte, oben die Großen und unten die Kleinen. In unserem Gleichnis aber geht es umgekehrt zu: Der Herr wird sich die Schürze anziehen, um die, die auf ihn warten, zu Tische zu bitten und ihnen zu dienen. Er wird dann eben das tun, was Jesus schon getan hat. Er bringt, was er schon gebracht hat: die neue Welt, den Himmel, den Himmel auf Erden. Dieses Freudenfest übertrifft alles, was Glück heißt auf Erden. Doch übertreffen heißt nicht ausschließen. An dem Tisch in der neuen Welt ist auch Zeit und Raum, vom weltlichen Glück auf Erden zu reden. Nein, im Gegensatz zu unseren weltlichen Glückstunden kann die Seligpreisung derer nicht stehen, die auf ihren Herrn gewartet haben.

Doch soweit ist es noch nicht, dass er eingetroffen ist. Noch ist der Herr abwesend! Noch ist er unterwegs! Noch ist Nacht, noch ist die Zeit des Wartens! Freilich ist dies kein leeres, kein zielloses Warten. Das könnte einem ja ganz schön auf die Nerven gehen. Es gibt nichts Schlimmeres als ein ungewisses Warten nach der Melodie: „Ob er aber über Oberammergau oder aber Unterammergau oder aber überhaupt nicht kommt, ist nicht gewiss“. Das Verhältnis der Christen zu Christus gleicht nicht dem Verhältnis der Lise zu Hans. Ungewissheit, hat Luther gelegentlich gesagt, ist das größte Elend. Ein Mensch aber, der gewiss ist, dass der kommt, den er erwartet, der kann sich schon jetzt glücklich preisen. Sein Warten hat etwas Beseligendes, so wahr die Vorfreude die schönste Freude ist.

Der christliche Glaube lebt aus solcher Gewissheit. Heilsgewissheit nennen die Theologen das. Sicher, den Tag und die Stunde der Wiederkunft Christi, die kennen wir Christen nicht. Das ist aber auch gar nicht nötig, denn die Gewissheit, dass Christus kommt, die reicht aus. Das Warten hat einen festen Grund. Diese Heilsgewissheit hat sich an einem Ereignis entzündet, das schon geschehen ist. Wir haben es an Weihnachten besungen:

Das ewig Licht geht da herein,
gibt der Welt ein’n neuen Schein;
es leucht’ wohl mitten in der Nacht
und uns des Lichtes Kinder macht.

Als Kinder des Lichts warten Christen darauf, dass der, der gekommen ist, wiederkommt. Sie glauben, dass das, was schon geschehen ist, sich dann erst recht ereignen wird. Sie hoffen, dass das, was hier schon herrlich geleuchtet hat und im Glauben mir auch einleuchtet, einst alle Welt erleuchten wird.

Doch noch ist es nicht so weit. Noch lässt der Herr auf sich warten. Die Abwesenheit des kommenden Herrn kann dem Glauben zu schaffen machen. Wo diese Abwesenheit erfahren wird, drängt sich die Welt mit ihren Dunkelheiten, mit ihrem Unfrieden und ihren Ungerechtigkeiten drohend und beängstigend in den Vordergrund. Es kann dann so scheinen, als wäre die Welt von allen guten Geistern verlassen. Die Gewissheit des Glaubens schließt Anfechtungen nicht aus. Solche Anfechtungen bilden den Hintergrund dafür, dass der Text in Aufforderungen redet und an die Verheißung erinnert. „Eure Lenden sollen umgürtet sein und eure Lampen sollen brennen“, heißt es im Text. Noch ist der Jammer, der über ein Menschenleben hereinbrechen kann, nicht ausgeschlossen. Noch kommen Bedrohungen und Infragestellungen des Glaubens auf uns zu. Dann werden wir sehnsuchtsvoll klagen und seufzend rufen: „Wo bleibst du Trost der ganzen Welt?“

Doch eine solche Klage spricht nicht gegen das Licht. In ihm leuchtet es vielmehr auf. Lasst eure Lampen brennen, heißt dann: Seid Zeugen dessen, der schon gekommen ist. Denn Zeuge Christi sein heißt, so zu leben, dass dieses Leben unerklärlich wäre, wenn es das Licht nicht schon gäbe.

Der brasilianische Schriftsteller Erico Verissimo erzählt in seiner Autobiografie „Klarinettensolo“ von der Apotheke seines Vaters in einem Provinzstädtchen im Süden Brasiliens. In den hinteren, schlecht beleuchteten Räumen dieser Apotheke leistete oft ein Arzt Erste Hilfe für plötzlich erkrankte oder im Streit verletzte Mitmenschen. Eines späten Abends brachte man einen übel zugerichteten Mann dorthin. Er musste notoperiert werden. Der Vater drückte dem 14-jährigen Erico eine elektrische Lampe in die Hand und sagte: „Du hältst fest und leuchtest dem Arzt“. Da habe er dann gestanden und die Lampe fest in den Händen gehalten, obwohl ihm beim Anblick der Wunden und beim Geruch des Blutes ganz übel wurde. Das ist auch ein treffendes Gleichnis für das Sein und Tun der Christen: Seine Lampen brennen lassen mitten in den Dunkelheiten der Welt. Nicht wir sind es, die die Welt in ihren tausend Wunden heilen könnten. Dafür bedarf eines anderen Arztes. Aber wir dürfen bezeugen, dass der Heiland gekommen ist, kommt und kommen wird. Und wir dürfen zeigen, wo es nötig ist, und dabei sein, wenn er Menschen hilft. An diesem Zeugnis wird die Welt uns als Kinder des Lichts erkennen – in dieser Nacht und im neuen Jahr. Amen.

Dr. Wilhelm Hüffmeier, Evangelische Kirche der Union, Berlin


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