Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigt zum Heiligabend 1997
Landesbischof Christian Krause, Wolfenbüttel

Liebe Gemeinde zum Heiligen Abend,

keine Frage: Dies ist die Nacht der Nächte. In fast 2000 Jahren Menschheitsgeschichte kommt keine Nacht an Bedeutung dieser einen, heiligen Nacht auch nur annähernd nahe.

Kaum eine Ebene menschlicher Lebensäußerung, die nicht von dieser Heiligen Nacht berührt, bisweilen fasziniert worden ist - oder umgekehrt immer neue Geschichten auf sich gezogen hat. Die Bücherschränke der Weltliteratur quellen über von Weihnachtserzählungen und - gedichten, die Musik großer und kleiner Meister variiert das Thema über die Zeiten hinweg, und auch in der bildenden Kunst ist es nicht anders.

Wer die Braunschweiger Buchhandlungen in der Adventszeit für ein Geschenk durchstöbert hat, sah sich einem so reichen Angebot weihnachtlicher Literatur gegenüber wie selten zuvor.

Vielleicht spiegelt sich darin eine gemeinsame Erfahrung dieses Jahres wieder. Wir suchen Zugänge zu einer Welt, die nicht ausschließlich von Leistung und Konsum bestimmt ist. Wir lassen uns gerne erinnern an eigene Erfahrungen mit dieser Welt der Kindheit, ihren Bildern und Stimmungen, in denen das Leben noch etwas Geheimnisvolles ist. Wir verbinden damit eigene Sehnsucht nach einem freundlichen, erfüllten Bild des Lebens.

1997 war ein Jahr der Sehnsucht und der großen Gefühle. Vielleicht gerade weil die Vernunft so oft versagte. Der Sehnsucht nach Heil, wo soviel in uns und zwischen uns auch in diesem Jahr kaputtgegangen ist. Der Sehnsucht nach Frieden und Rettung aus Not und Unterdrückung für die Menschen in Afrika, im Nahen Osten, in Nord Korea und vielen anderen Orten der Welt. Der Sehnsucht nach Trost in der wachsenden Einsamkeit und Kälte unserer Gesellschaft.

Wir fühlen, daß unser großer Reichtum allein nicht glücklich macht. Wir können über dieses eine Leben hinaus nichts mitnehmen. Aber wir fühlen, wie sehr uns die Menschen fehlen, die wir verloren haben. Weihnachten erinnert, daß die Menschlichkeit unser größter Reichtum ist - eine Gnade, ein Kind in den Armen zu halten; eine Gnade, Freunde zu haben, eine Familie, Menschen, die einen nicht vergessen.

Ob die Gefühle, die diese Sehnsucht nach Menschlichkeit tragen, verwelken wie die Blumensträuße auf dem Trauerweg der Prinzessin von Wales? Oder werden sie "in unseren Herzen wachsen", wie es im Song von Elton John heißt. Trauen wir unserer Sehnsucht zu, daß sie uns die Augen für ein freundliches, erfülltes Bild des Lebens öffnet, in dem sich die Liebe Gottes spiegelt? Finden wir in dieser glaubensarmen Zeit wieder Zugänge zu Gott, dessen Liebe in Bethlehem Mensch wurde und in unseren Herzen weiterleben will?

In dieser Nacht blüht eine Rose - mitten im kalten Winter. In dieser Nacht hat das Leben eine Chance, warm und reich und geborgen zu sein, so erzählen es die Märchen, Sagen und Geschichten. Im Neuen Testament, in einem Brief des Apostel Paulus heißt es darüber: "Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen." - Mit diesen Worten beschreibt der Apostel seiner Gemeinde die Bedeutung der Geburt Jesu Christi.

Mit Christi Geburt ist etwas Neues, Unvordenkliches in unsere Welt und unser Leben gekommen. Wie die Sonne am Morgen, ist Gottes Gnade aufgegangen über unserer Welt. Etwas Wärmendes, Lichtes ist in das Leben hineingekommen, etwas, das es vorher nicht gab. Das ist das Geheimnis von Weihnachten. Es liegt in der Art, wie Gott erschienen ist: in einem kleinen Kind, nackt und unscheinbar, arm und am Ende der Welt. So ist Gott da, einfach da, uns zugute, auch wenn wir ihn nicht sehen oder an ihm zweifeln angesichts der Not und Gnadenlosigkeit in der Welt.

"Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen". In unserer eigenen menschlichen Armut ist der barmherzige Gott einer von uns geworden. Die Geschichte, die davon erzählt, wie Gott erschienen ist und wie diese Nacht zur Weihnacht wurde, ist einfach und schlicht. So einfach, daß es unsere eigene Geschichte sein könnte und es ja auch immer wieder geworden ist. In unseren Herzen ist sie weiter gewachsen. Von Kindheit an, durch Krieg und Frieden, Hass und Liebe, gute und böse Zeiten ist die Geburt Jesu, das Kind in der Krippe vor unser aller Augen geblieben.

Viele andere Geschichten von Gott und den Menschen geraten immer mehr in Vergessenheit, werden außerhalb der Gottesdienste nur noch selten erzählt und noch viel seltener gehört. Das ist anders mit der Weihnachtsgeschichte. So wie wir haben sich heute abend Tausende von Menschen überall im Land auf den Weg gemacht, um an dieser Geschichte teilzunehmen, wie Gott einer von uns wurde - ein Kind unter Kindern, ein Mensch unter Menschen.

Es ist wohl eine ganz normale Nacht gewesen, die zur Heiligen Nacht werden sollte. Die meisten Leute schlafen längst und haben das Licht ausgemacht. Die letzten Restaurants und Bars haben längst geschlossen, und die Taxifahrer schalten die Standheizung ein, weil es jetzt nur noch wenige Fahrgäste gibt. Da klopft ein Kollege ans Autofenster und reicht einen Pappbecher mit heißem Kaffee und ein Stück Kuchen rein. "Na so was", murmelt der andere. "Aber klar, heute in dieser Nacht!" - Eine Krankenschwester schaut leise in die still gewordenen, dunklen Zimmer, gibt hier einer Schlaflosen eine Tablette, deckt dort einen frisch Operierten zu. "Hoffentlich kommt er durch", denkt sie und geht zurück ins Schwesternzimmer. - Auf dem Kontrollturm des Flughafens starren die Lotsen auf ihre Monitore. "Warum müssen die nun ausgerechnet in dieser Nacht auch noch fliegen? Könnten die nicht wenigstens einmal zu Hause bleiben?" - Frau und Kinder gehen dem Lokführer durch den Kopf, der sich einen winzigen, künstlichen Tannenbaum aufs Armaturenbrett montiert hat. - Als wir die Bachkantate hören "Jesus bleibet meine Freude", läuft meinem südafrikanischen Freund Eric Molobi eine Träne übers Gesicht. In der einen Nacht kam diese Melodie über die Lautsprecher in die Gefängniszellen, über die sonst nur Kommandos und Drangsalierungen tönten. Einmal ein Hauch von Menschlichkeit und Wärme! - Und mitten im Krieg sitzen sie übernächtigt und erschöpft im zerbombten Haus und lauschen ungläubig in die Stille hinaus: Für heute, wenigsten für die eine Nacht, wurde eine Feuerpause vereinbart. Und sie wird eingehalten.

Eine einzige Nacht in der langen Geschichte des Lebens, eine Nacht, wie auch wir unsere Nächte kennen, wird zur Heiligen Nacht. Der Bannkreis der Angst und der Einsamkeit, der Verzweiflung und der unerfüllten Sehnsucht wird durchbrochen.

Es ist etwas Neues erschienen in jener Nacht: Heilsame Gnade. Feuerpause im Krieg und ein Becher mit heißem Kaffee in der Kälte, Fürsorge für andere Menschen und eine Bachkantate statt Kommandogedröhn. Die Heilige Nacht ist der Anfang einer Hoffnung geworden. In der Hoffnung sind wir überall auf der Welt und quer durch alle Kirchen und Konfessionen verbunden: Wir schauen in eine neue Welt, für die es Zeichen und Wunder heute schon unter uns gibt. Eine Welt, in der die Traurigen getröstet werden, wo Krieg, Krankheit, Hunger, Habgier, Last und Leid des Lebens zwar nicht verschwunden sind, aber auch nicht mehr alles erdrücken und ersticken. Eine Welt, wo Menschen aufstehen und zufassen, Nächstenliebe und Menschlichkeit zu üben. Eine Welt, wo die Menschen am Rande nicht aus dem Blick geraten. Wo sich eine Gesellschaft nicht in arm und reich aufspalten läßt. Wo das Leben mehr ist als Effizienz und Schönheit und Fun. Eine gnädige Welt mit begnadeten Menschen, die etwas spüren oder ahnen vom Geheimnis Gottes, von der Liebe, die stärker ist als der Tod.

Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen. Dir und mir und uns allen! Keiner ist davon ausgeschlossen - wirklich keiner! Jede und jeder darf die Geschichte der Geburt Gottes weitererzählen, mit ganz eigenen Erfahrungen davon erzählen: wie wieder etwas heil wird in meinem Leben und Zusammenleben! Daß ich nicht mehr unter dem Zwang stehe, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Daß mich das Schicksal anderer berührt und ich zu helfen versuche, wo ich kann. Oder auch davon, daß ich mich vor dem Ende des Lebens nicht mehr fürchten muß. Davon, daß die Nacht der Welt ein für allemal ein Ende haben muß, wenn Gott abwischen wird alle Tränen und wiederbringt alle Gefangenen.

Weihnachten lebt die Sehnsucht auf nach dieser Welt - und sie findet ein Ziel: "Welt ging verloren, Christ ward geboren. Freue dich, freue dich Christenheit!" - "Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen."

Und weil es unerwartet kommt und niemand mit einer solchen Möglichkeit zu seinen Lebzeiten gerechnet hat, ist das erste Wort der Boten Gottes: "Fürchtet euch nicht! Kriegt keinen Schreck! Zieht euch nicht gleich wieder in eure Nächte zurück! Nicht gleich wieder Skepsis, Zynismus, Resignation! Wahrlich eine Heilige Nacht, von der wir Frieden auf Erden und ein Wohlgefallen für uns und die Menschen mit uns nehmen mögen, wenn es wieder Tag wird.

Fürchtet euch nicht, vertraut der Nähe Gottes in eurem Leben. Wenn es wieder losgeht in den vielen kleinen und großen Kriegen jeder gegen jeden, wenn die eigenen Wege eng werden, wenn nach den Festtagen der Alltag unsere Hoffnung auf Frieden wieder zur Gleichgültigkeit umzubiegen droht - dann wollen wir uns erinnern, es anderen weitersagen und einander Mut machen: denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen - also auch uns!

Amen

Landesbischof Christian Krause, Wolfenbüttel