Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vaterunser

7. Teil (17. Juli1998): "Und führe uns nicht in Versuchung"

Verfasser: Heinz Behrends


Heinz Behrends

Predigt über die 7. Bitte und den Schluß des Vater Unser

"Und erlöse uns von dem Bösen. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."

Wir haben am Sonntag in der Klosterkirche Nikolausberg oberhalb Göttingens ein interessantes Projekt mit Konfirmanden erfolgreich abgeschlossen. An 12 Nachmittagen im letzten halben Jahr haben sie jeweils an einem Verb aus dem Text des Glaubensbekenntnisses der Kirche gearbeitet, die Schlüsselworte von empfangen, geboren, gelitten, gekreuzigt bis richten die Lebenden und die Toten für sich erarbeitet. Sie haben zunächst jeweils reflektiert, wo das Wort in ihrem eigenen Erfahrungsbereich eine Rolle spielt und wie es im Leben Jesu vorkommt. Dann hat abwechselnd eine Teilgruppe dazu ein Bild auf Leinwand mit Abtönfarbe gemalt.

Am Ende des Projektes lagen zehn Bilder zum Leben Jesu und dem Glauben an ihn vor. Das Werk kam zum Abschluß, indem alle gemeinsam sich auf ein Jesus-Bild einigten und der Sammlung als elftes hinzufügten. Schließlich mußten sie eine Anordnung der elf Bilder finden. Auf diese Weise entstand ein Konfirmanden-Altar, in dem Mädchen und Jungen von 13 Jahren ihren Zugang zu den Grundthemen des Lebens und des Glaubens ausdrücken. Der Konfirmanden-Altar wurde in einem Gottesdienst am Sonntag eingeweiht und hängt nun über den Sommer in unserer Kirche. Texte der Konfirmanden schließen ihr Verständnis für die Betrachter auf. Unsere große Entdeckung als Erwachsene war, daß das Thema, das sie am meisten beschäftigte, das von "Gut und Böse" ist.

"Wer Freiheit und Licht erreichen will, sollte nicht sündigen," so schreiben sie unter ein Bild, das sie zu dem Wort "zu richten die Lebenden und die Toten" gemalt haben. Eine nach unten geneigte Waage haben sie auf der rechten Bildhälfte vor einem dunklen Gefängnisfeld gemalt, auf der linken Bildhälfte die nach oben zeigende Waage vor einem hellen, grünen Hintergrund, auf dem ein Weg in eine Zukunft weist. "Wir haben eine Waage dargestellt, die zwischen Licht und Freiheit, Unfreiheit und Dunkel abwiegt. Freiheit und Licht sind wie ein Weg, der in einen weiten Horizont führt. Unfreiheit und Dunkelheit sind wie ein vergittertes Gefängnisfeld", schreiben Konfirmanden zu ihrem Bild. Sie haben das Bild gleich unter dem oben stehenden Schlußbild, dem Jesus-Bild gehängt. Andere meinen, es müsse gleich nach dem Bild über die Geburt eingeordnet werden. Denn wenn du in die Welt kommst, bist du schon einer, der böses tut.

Wir Unterrichtenden sind verblüfft und überrascht. Die Kinder kommen aus den Häusern einer intellektuellen und liberalen Gemeinde. Sie werden von einer Pastoren- und Lehrergeneration erzogen, die den 68igern entwachsen ist, für die Gut und Böse keine moralischen Kategorien mehr sind. Eine Generation, die auf die Sozialwissenschaften setzte, auf die Psychotherapie. Man kann innere und äußere Prozesse erkennen, bewußt machen und verändern. Eine Generation, die auf die Pädagogik setzte: Man kann Menschen zu Erkenntnissen und veränderten Verhaltensweisen erziehen. Gut und Böse sind keine Frage von Moral, sondern von Bewußtsein, angeeigneter Einsicht und daraus folgender Verhaltensänderung.

Aber plötzlich reden 13jährige von dem Bösen, von Urteil und Gericht über den Menschen. Es scheint tief im Menschen drin zu stecken, das Wissen um das Abgründige. Die Jugendliche verschließen das Auge davor nicht. Sie sind davon umgeben durch Filme mit apokalyptischen Themen. Rock-Bands schmücken sich mit Namen von Endzeit und Zerstörung. Bilder vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien haben einen Blick in die Abgründe menschlicher Seele gegeben.

Während der Arbeit am Konfirmanden-Altar wurden in ihrem ruhigen Stadtteil auf dem Berg ein Nachbar wie zufällig und wahllos bestialisch von einem Mann ermordet, der vor zwei Jahren als geheilt aus der Psychiatrie entlassen wurde. Und in Lens finden Hooligans nur Solidarität und Sinn in ihrem Leben, indem auf böse Weise gewältig werden. Von den subtileren Formen der Gewalt ganz zu schweigen.

Das Böse ist eine Realität. Es ist nicht durch Erziehung, Therapie oder Modelle gesellschaftlicher Ordnung einfach abzuschaffen. Die Konfirmanden scheinen das zu spüren und begriffen zu haben. Und plötzlich erscheinen uns mit ihrer Seh-Hilfe die Tierdarstellungen in unserer romanischen Kirche wieder aktuell. Da sind auf den Kapitellen der linken Seite des Hauptschiffes die Drachen zu sehen und der Luchs. Und die linke Säule des Torbogens zum Altarraum wird von einem Löwen getragen, der einen Menschen frißt. Hier drückt sich nicht die Angst des mittelalterlichen Menschen aus, sondern seine tiefe Einsicht in das Wesen des Menschen. Das Böse bleibt selbst im Hause Gottes nicht außen vor. Aber der Löwe wird von der Säule heruntergedrückt und die Schwänze der Drachen sind verknotet. Das Böse ist da, aber es ist im Hause Gottes bezwungen.

Die Sprache dieses Raumes, der Konfirmanden-Altar in unserer Kirche und die letzte Bitte des Vater Unser helfen erkennen: Die Erlösung von der Kraft des Bösen muß von außen kommen. Die Versuchung des Menschen ist immer, sein Vertrauen allein auf seine Kraft und auf die eigene Machbarkeit zu setzen. Erlöse du mich, Gott, von der Macht der Abgründe in mir. Denn Aggressivität und Zerstörungslust, Todessehnsucht und Apokalypse schlummern in jedem Menschen. Sie haben eine gesunde, auch kreative Kraft. Aber losgemacht von allen Beziehungen, gewachsen auf einem Boden mangelnden Selbst-Vertrauens wirken sie vernichtend. Ungebändigt und losgelassen ist das Böse anzuschauen wie die Fratze des Teufels auf alten Darstellungen in den Kirchen. Wer schützt den Menschen vor sich selbst? Nur Gott allein. Darum schützt der Mensch sich, der sich in die Nähe Gottes bewegt. So findet Schutz, wer sich in das Haus Gottes, in eine Kirche setzt und sich öffnet. So findet Schutz der betende Mensch. "Erlöse mich von dem Bösen." Meine kleine Kraft reicht nicht aus. Mein Vertrauen ist zu schwach.

Gott wird das Böse nicht abschaffen. Das Gebet wird ihn nicht bewegen, die Gegenkraft zu vernichten. Der Prozeß der Erlösung vom Bösen muß im Glauben jedes einzelnen geschehen. "Erlöse mich von dem Bösen,", formuliert das Vater Unser sehr persönlich. Wenn ich das Vater Unser bete, bringe ich nicht Gott in Bewegung, etwas zu tun, sondern ich bringe mich in Bewegung zu Gott. Seine Nähe wird mich schützen vor Versuchung und Lust des Bösen. Denn Gott weiß alles, was ich brauche.

Das Gebet ist nicht dazu da, ihm meine Wünsche mitzuteilen. Es ist der Ort, an dem ich mich ihm nähere und meine Macht aus dem Händen gebe. Das Gebet gibt die Welt in Gottes Hand. "Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit", nicht nur heute und morgen,sondern alle Zeit, "bis in Ewigkeit". Herrschaft, Energie, Macht und Klarheit sind bei Gott. Das Beten des Vater Unser ist ein Schritt, sich in das Vertrauen zu Gott einzuüben.

Exegetische Anmerkung:

Die Auslegung orientiert sich an einer Theologie des Gebetes, die das Beten als Handeln des Menschen versteht: Der Beter öffnet sich, hört, schweigt, klagt, bittet. Gott muß nicht handeln. Der Beter versetzt sich im Gebet in die Nähe Gottes (Hans Weder, Die Rede der Reden, Zürich 1987 S. 176ff).

*Material zum Projekt im Konfirmanden-Unterricht zu den Schlüsselworten des Glaubensbekenntnisses zur Erstellung eines Konfirmanden-Altares kann angefragt werden beim Autoren.

Heinz Behrends
In der Worth 7
37077 Göttingen
Tel 0551/21222


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