Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vaterunser

6. Teil (11. Juli1998): "Und führe uns nicht in Versuchung"

Verfasser: Werner Reich


"... und führe uns nicht in Versuchung"

Manche kennen diese Geschichte. 40 Tage lang lebt Jesus in der Wüste, bevor er seine Predigt und sein Wirken unter den Menschen begann. In dieser Zeit, so erzählt es der Evangelist Matthäus, wurde er vom Teufel versucht. Am Ende dieser Prüfungen aber kommt es zu den drei Angeboten des Teufels, die wohl die schwersten Versuchungen bedeuten.

Er bietet dem hungernden Jesus die Macht an, aus Steinen Brot zu machen.
Er führt Jesus auf die höchste Zinne des Tempels in Jerusalem und fordert ihn auf: "Bist du Gottes Sohn, so wirf dich hinab."
Und schließlich zeigt er ihm alle Reiche der Welt und will ihm die Macht über sie geben, wenn er nur ihn, den Teufel, anbetet.

Aus Steinen Brot machen für die Hungernden; vor allen Menschen etwas Einmaliges tun: Herrscher sein über die ganze Welt - was für eine Versuchung für Jesus - auch für uns.

"Und führe uns nicht in Versuchung" beten wir im Vaterunser. Und doch werden wir immer wieder versucht, Macht haben zu wollen, Macht auszuüben über andere, zu herrschen über andere, die man sich gefügig und abhängig macht.

Diese Versuchung gibt es im Großen und im Kleinen. Den anderen Menschen zu übertrumpfen, eigenen Vorteil auf Kosten anderer zu erzielen, besser sein zu wollen, sich durchzusetzen und andere herabsetzen: Das scheint unser Leben im Großen und im Kleinen, in der Familie und im Staat, in der Schule und im Beruf zu prägen. Ellenbogengesellschaft sagt man dazu und meint genau dies: Ich setze mich durch, und andere bleiben auf der Strecke.

Manche können da nicht mehr mit. Sie gehen unter, werden ganz klein oder krank. Oder sie schlagen um sich und werden gewalttätig, weil sie nur noch so auf sich aufmerksam machen können. Mir gehen die Kinder und die Jugendlichen nicht aus dem Kopf, von denen wir in den letzten Wochen so viel gehört haben. Kinder und Jugendliche, die Gewalt ausüben, Menschen überfallen und auch töten. Und ich frage mich, was da passiert ist, was mit diesen Kindern geschehen ist, Kinder, die in unserer Weit, in unseren Familien und Schulen groß werden.

Oft ist es so: Nur noch, wer laut schreit oder um sich schlägt, wird gehört. Die Leisen, die Vorsichtigen, die Kümmerlichen gehen unter und haben keine Chance mehr.

Macht zu haben und sie auf Kosten anderer auszuüben zum eigenen Vorteil, ist eine große Versuchung. Aber sie schädigt Menschen, Kinder und Jugendliche, die immer wieder gedeckelt werden, die immer wieder unterdrückt und klein gehalten werden, verlieren wie alle andere das Leben. Sie lernen Gewalt und Unterdrückung und werden selber zu Gewalttätigen.

Jesus widersteht dieser Versuchung der Macht. Er antwortet: "Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen."

Das ist mehr als ein Gebot. Das ist eine grundlegende Lebens- und Glaubenseinstellung, die uns hier gesagt wird. Gott alleine dienen, das heißt: Alles. was wir tun, denken, sagen und entscheiden, steht unter diesem Vorzeichen: Es soll Gott dienen. So, wie auf vielen unserer Orgeln der lateinische Satz steht: "Soli Deo Gloria". Allein Gott zur Ehre, zum Ruhm. Ein Satz, der den Musiker oder die Musikerin daran erinnert, für wen er diese Musik macht. Nicht zum eigenen Ruhm, sondern zur Ehre Gottes.

Das ganze Leben unter das Motto "Gott dienen" stellen: Das ist schwer. Das schaffen wir doch gar nicht. Gott ist in unserem Alltag oft so fern und nicht in unseren Gedanken. Und doch: Das Vaterunser mit seinen Bitten, auch mit der Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, hilft uns - von Zeit zu Zeit, wenn wir es beten - uns daran zu erinnern und diesen Gedanken nicht zu vergessen. Wenn wir versuchen, unser Leben und Handeln ganz unter das Vorzeichen der Ehre Gottes, des Gott-Dienens zu stellen, dann sind wir geschützt vor den Versuchungen der Macht; geschützt dagegen, wie Gott sein zu wollen und über andere zu bestimmen.

Jesus hat das einmal in noch anderer Weise im sogenannten Doppelgebot der Liebe gesagt: "Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen. von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Das ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist ihm gleich: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst."

Es geht also in unseren Überlegungen noch einen Schritt weiter. Wenn wir Gott aus ganzem Herzen lieben, dann kommt dies unserem Nächsten zugute, dann handeln wir zu Gunsten unserer Mitmenschen, dann folgt aus der Gottesliebe die Nächstenliebe. So wie der Musiker oder die Musikerin, die die Orgel zur Ehre Gottes spielt, dann erst recht etwas für die Menschen, die zuhören, tut. Sie hilft ihnen zum Leben, zum Glauben, so wie Musik nur helfen kann.

Das Vaterunser-Beten gibt uns also zweierlei. Wir beten zu Gott um das, was wir brauchen, daß er uns z.B. Brot gebe, aber auch, daß wir nicht versucht werden, unser Leben ohne Gott auf Kosten anderer führen zu wollen. Dieses Beten aber verändert unser Verhalten und führt uns zur Tat für den Mitmenschen und nicht gegen ihn. Es hat einen Sinn, das Vaterunser immer wieder zu beten.

Noch einmal: So zu leben, das ist schwer. Das schaffen wir doch gar nicht. Aber dennoch: Das ist eine Lebensaufgabe, dem wollen wir nachjagen, wie das Paulus einmal ausdrückt. Ich bin überzeugt, ich glaube, wenn wir es einmal schaffen würden, so zu leben, dann könnten auch wir gleichsam aus Steinen Brot machen, weil wir teilen könnten. So wie Jesus mit fünf Broten und zwei Fischen einmal Tausende von Menschen satt gemacht hat, nachdem er Gott gedankt hat.

Ich glaube, wenn wir so leben würden, dann gehört uns die ganze Welt mit ihrer Fülle und ihrem Reichtum, mit ihrer Herrlichkeit. die ganze Schöpfung Gottes. Aber sie würde uns allen gehören und uns allen zugute kommen.

Ein letzter Gedanke: Die Kehrseite des Machthaben-Wollens ist die Versuchung, sich fallen zu lassen und sich aufzugeben, ist die Hoffnungslosigkeit. Manche haben viel Anlaß dazu. Krankheiten, Arbeitslosigkeit, Unglücke. Es gibt so viel Leid und Krankheit in unserer Welt und in unserem Leben. Für viele ist es manchmal zum Verzweifeln.

Da ist die Frau, die plötzlich umfällt. Eine Blutung im Gehirn. Seit einem Jahr kann sie sich kaum noch bewegen und ist fast immer bewußtlos. Zwei Kinder sind da, 11 und 13 Jahre alt und der Ehemann. Ein Schicksal aus der Nachbarschaft. Wie soll man da noch Hoffnung haben? Wie soll man da nicht der Resignation verfallen, sich nicht aufgeben?

Von manchen Menschen wird erzählt: In Augenblicken der höchsten Not blieb ihnen nur noch das Vaterunser. Früher mal gelernt, längst vergessen, kommt es in die Erinnerung zurück als Stoßgebet, als Hilfe in der größten Not.

Das Gebet, das Vaterunser ist hilfreich in unserem Leben. Die Bitte, nicht in Versuchung geführt zu werden, kann uns zurückbringen zu dem Grund unseres Lebens, zu Gott. Das kann uns bewahren vor der Versuchung der Macht, es kann uns schützen vor der Anfechtung der Hoffnungslosigkeit.

Werner Reich
De-Steeg-Weg 1
31303 Burgdorf


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