Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vaterunser

5. Teil (28. Juni 1998): "Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern"

Verfasser: Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller


Liebe Gemeinde:

Immer noch drosseln die Züge das Tempo, wenn sie Eschede passieren. Man sieht die eingestürzte Brücke und westlich von den Gleisen auf dem freien Feld immer noch ein Areal mit weiß-rotem Plastik-Band abgegrenzt und auf ihm die letzten Trümmer des zerfetzten ICE "Konrad Röntgen". Und nicht nur bei den Betroffenen ist die Frage noch längst nicht zur Ruhe gekommen: Wie war das möglich? Und: Warum? WARUM? Fragen ohne Antwort oder zumindest ohne befriedigende Antwort. Und von Anfang verband sich mit ihnen eine weitere, und sie hat die Medien ausführlich bewegt: Wer ist schuld an dieser Katastrophe?

Je weiter Aufräumung und Aufklärung vorankamen, desto deutlicher wurde: Offensichtlich ist niemand schuld. Weder Terroristen noch dumme Jungs, weder ein dösender Lokomotivführer noch ein fahrlässiger Stellwerkbeamter, weder ein von der Brücke schleuderndes Auto noch ein bei der Inspektion schlurendes Bahnbetriebswerk. Es zeigte sich zugleich, daß das technische Risiko es durchaus zuließ, auf eine ständige elektronische Überwachung der Räder zu verzichten; denn weder theoretisch noch aufgrund der bisherigen Erfahrungen, so hören wir, war mit einem Radbruch zu rechnen. Nein, die Katastrophe hatte sich "einfach so" ereignet. Im üblichen Jargon geredet: Das - natürlich "minimale"! - "Restrisiko" hatte sich realisiert, und das lediglich kraft seiner theoretisch-statistischen Möglichkeit. Der sogenannte "Störfall" war eingetreten. Und niemand hatte schuld.

Auch der Lokführer nicht. Weder subjektiv noch objektiv trifft ihn ein Vorwurf. Doch ich werde die Frage nicht los, wie es ihm gehen mag? Denn er ist in die Katastrophe hineinverwoben und damit faktisch beteiligt; das aber kann man nicht abstreifen wie einen fleckigen Kittel. Ich versuche mir vorzustellen, wie ich mich an seiner Stelle fühlen würde - und wieviele quälende "Hätte...!" und "Wenn nur...!" und "Wäre nicht doch...?!" ihm seither Kopf und Herz zerfressen mögen. Er ist nicht schuld, er schon gar nicht. Niemand ist schuld. Aber es muß doch irgendjemand die Schuld haben! Wenn nämlich niemand schuld ist an dieser Katastrophe, dann - ja, dann kam sie aus blindem Ungefähr, "einfach so", war sie bloßes dunkles Schicksal oder auch dämonisches Würfeln. Dann ist auf nichts mehr Verlaß; dann sind wir vielmehr preisgegeben ins Unabsehbare. Und also wird nach Schuldigen gesucht, und müssen sie gefunden werden.

Ich werde den Eindruck nicht los, das alles sei für unsere Situation typisch. Es geschehen Schäden, Unfälle, Ungerechtigkeiten, ja Katastrophen, und niemand ist schuld. Wenn aber jemand schuld ist - mit fortschreitender Technisierung und Verflechtung des Lebens treten die Folgen einer auch nur geringen Schuld in ein immer beklemmenderes Unverhältnis zur Ursache. Und das nicht nur beim falsch reagierenden Jumbo-Piloten oder achtlosen Schweißer der Naht eines Reaktor-Mantels, sondern auch etwa beim falschen Überholen oder beim Pfusch am Bau: Auch kleine Versehen oder unbedeutende Fehler haben zunehmend katastrophische Folgen. Wo jedoch Verschulden und Auswirkungen in einsehbarem Verhältnis stehen, da bewegen wir uns weithin entweder im Bereich des Kriminellen, oder - wir können uns zurücklehnen: "Das regelt meine Versicherung." bzw. "Da kann man sowieso nichts machen." Zudem werden wir immer wieder - wie der Lokführer - in Schuldzusammenhänge hineingezogen allein, weil wir gerade waren, wo wir waren.

Das heißt: Persönliche Schuld, die frühere Geschlechter bis in Angstträume hinein belastete, wurde beiläufig. An ihre Stelle treten immer mehr überpersönliche und oft anonyme Schuldzusammenhänge, in die wir uns hineinverwickelt finden - ungefragt, ungewollt, oft genug ohne irgendein eigenes Tun wie z.B. bei der Vergiftung von Böden und Grundwasser oder bei Krawallen im Ausland durch Schlägerhorden des eigenen Landes. Sind wir aber durch eigenes Verschulden in sie verstrickt, so stehen wir angesichts der oft aberwitzigen Dimensionen der Folgen aufgrund der allgemeinen Vernetzung mit gänzlich Anderem; stehen wir also nachgerade unter dem Zwang, unsere Schuld zu leugnen, zu verdrängen, kleinzureden - tun wir's nicht, erdrücken uns die Folgen in ihrer überfordernden Maßlosigkeit. Darüber wurde Schuld unpersönlich; an ihre Stelle traten "Störfall", "Restrisiko", "Unfall", "Zufall" oder auch "Gefährdungshaftung". Als persönliche Schuld ist sie weithin reduziert auf den privaten Bereich; doch hier verkümmert bekanntlich, was öffentlich Ort und Bedeutung verlor. Übertreibe ich, wenn ich sage, daß wir dabei sind, eine Gesellschaft ohne Schuld zu werden?

Sind wir es aber, so befinden wir uns umfassend in der Situation von Eschede: Der Zufall waltet in seiner Unabsehbarkeit. Daß etwas passiert, wann es passiert und wo, wieso, woraufhin und insbesondere: warum - niemand weiß es, und niemand kann es sagen; mit der Schuld verschwand auch der benennbare Grund. Nun kommt es eben, wie es kommt. Und mögliche eigene Schuld verschwimmt dabei, geht auf in den allgemeinen Abläufen. Sie muß mich nicht länger belasten; es ist in der Tat realistisch zu sagen: "Hätte ich's nicht getan, dann hätte es ein Anderer gemacht."

Die Fünfte Bitte des Vaterunsers aber wurde darüber überflüssig. Wie überhaupt uns das Evangelium und mit diesem unsere Gebete und somit auch das Vaterunser gleichsam von innen her zergehen, ja geradezu abhanden kommen, irgendwie abhanden kommen. Unser Herz, unser Leben, unsere Welt, sie sind überwiegend durch Andersartiges bestimmt. Übrig bleibt das ungute Gefühl, daß wir etwas Wichtiges, ja etwas Großes verloren haben; ein Gefühl, das gelegentlich zu etwas krampfhaften Reaktionen verleitet. Denn wenn wir das Vaterunser nicht mehr wirklich beten können -

Doch nicht Wehklagen ist angesagt. Uns wurde das Vaterunser geschenkt, daß wir es beten. Und können wir es vielleicht auch nicht - mehr - beten, so können wir es wenigstens lesen. Tun wir das eigentlich? Es einfach lesen - es lesen und wieder lesen, "einfach so" vor uns hin, möglicherweise halblaut; es lesen, bis daß es uns einfängt, uns sammelt und uns die Welt neu aufschließt. - Ich weiß, wovon ich rede. Mir ist dabei insbesondere dreierlei aufgegangen:

Zum einen: Paulus leuchtet mir immer mehr ein, wenn er schreibt: "Wir wissen nicht, was wir beten sollen" (Rm. 8,26), nicht nur nicht, "wie sich's gebühret", sondern überhaupt - unser Alltag mit seinen Gesetzen verläuft wie jenseits aller Gebete, aller Möglichkeiten zum Gebet überhaupt. Da sind wir geradezu darauf angewiesen, daß uns Gebetsworte vorgegeben, daß uns ein wirkliches Gebet geschenkt werde. Und mit der Annahme dieses Geschenks ist es, wie wenn ein Vorhang weggezogen würde: Eine neue Landschaft, ja geradezu einen neue Welt tut sich auf. Eine Welt, die ungewohnt ist bis zur Fremdheit: In ihr kommt Schuld ganz selbstverständlich vor, mehr noch, in ihr ist sie eine bedrückende, eine niederdrückende Realität. Mein erster Reflex: So lange und so elend hat die Christenheit mit der Schuld Schindluder getrieben, so undifferenziert und so einseitig hat sie alles auf sie bezogen, daß ich es von mir weise, mich hierauf einzulassen! Doch darüber steigt die Frage in mir auf: Und wie, wenn nicht nur Unabsehbarkeit und Unbeständigkeit unserer Lebenswelt, sondern auch ihre Kälte und Armut, ihre Unmenschlichkeit und brutale Gleichgültigkeit daraus erwachsen, daß uns die Schuld abhanden kam? Wie, wenn gerade das unsere Last wäre, daß Schuld von uns nicht mehr erlebt wird? So daß wir also mit dieser Bitte überhaupt erst wirklich ins Leben kämen?

Fragen - und auf einmal wird mir diese neue Welt durchsichtig: Wo keine Schuld, da auch keine absehbaren Zusammenhänge - siehe Eschede. Wo keine Schuld, da auch keine Sühne noch Versöhnung. Wo keine Schuld, da auch keine Verantwortung. Wo keine Schuld, da keine Entschuldigung. Wo keine Schuld, da keine Vergebung. Wo keine Schuld, da keine - Liebe. Liebe nämlich wird schuldig: Sie kann sich vom eigenen Verschulden nicht zurückziehen. Und sie kann nicht weiterschieben - das macht sie ja aus, daß sie sich schenkt, schenkt mit allem, was sie hat, und darum sich nicht entzieht in dem, was ihr fehlt oder sie verfehlt. Liebe steht zur Schuld, nimmt sie auf sich, trägt sie; alle jene Fragen und Unruhe und auch Zorn und Resignation, die hier aufkommen, zieht sie auf sich und läßt sie damit zur Ruhe kommen. Wo einer die eigene Schuld eingesteht, wird das Leben den anonymen Mächten des Zufalls und der Kälte des Unpersönlichen entzogen und damit menschlich - menschlich selbst dann, wenn Unmenschen hieraufhin nichts Gemeineres zu tun wissen, als hineinzustechen oder mit Fingern zu zeigen. Menschlich bereits darum, weil mit dem Schuldbekenntnis ein Mensch es gewagt hat, hinter der Mauer der - stets auch vorhandenen - schicksalhaften Zusammenhänge hervorzukommen und sich schutzlos als Mensch zu outen.

Zum zweiten stoße ich darauf, daß erkannte, daß eingestandene Schuld, wie groß oder gering auch immer; daß also meine Schuld, zu der ich stehe, wiegt. Sie hat Gewicht. Diesem Gewicht kann ich mich nicht entziehen, ohne mich zu belügen und meine Menschlichkeit zu verleugnen. So bleibt sie als eine Last - meine Last! Ob ich's auch anders meinte, besser wollte, lautere Absichten verfolgte, womöglich irregeleitet oder selber getäuscht wurde - nun liegt es auf mir, auf mir als, wie es in der alten lateinischen Liturgie heißt, mea maxima culpa, als meine übergroße Schuld. Sie ist Faktum und Teil meiner Biographie geworden, wie alle meine Taten und alle meine Tage Fakten sind und Teil meiner Biographie. Es steht nicht in meiner Macht, sie wegzuradieren. Und wo ich's versuchte - wir haben jene unwürdigen, ja widerlichen Schauspiele im Gedächtnis, wo Politiker über Monate sich öffentlich um ihre Vergangenheit und ihre Schuld zu drücken bemühten. Wir haben vor Augen: Ein Weg, sie nicht loszuwerden, sondern festzuschreiben, ist das Verleugnen und Verdrängen!

Nein, Schuld werden wir nur los, indem sie von uns genommen, indem sie vergeben wird. "Bei dir ist die Vergebung, daß man dich fürchte" (Ps. 130,3), heißt es etwas rätselvoll im Psalm. Ist mir Schuld deutlich geworden, so verstehe ich's: Vergebung heißt ja, Geschehenes gültig außer Kraft setzen. Das aber liegt jenseits menschlicher Möglichkeiten. Das vermag nicht nur Gott allein; ihm allein steht es auch zu. Vergebung - das ist Hoheitsakt, Majestätsakt. Gott allein hat Recht und Vermögen, etwas Geschehens - das kann ja niemals aufgeholt werden! - außer Kraft und Geltung zu setzen. Ja, ich bin auf Vergebung - ich bin auf Gottes Gnade angewiesen.

Zum dritten wird mir darüber klar, in beunruhigender Weise selbstverständlich klar, daß ich meinerseits zum Unmenschen werde, wo ich denen Vergebung verweigere, die ihrerseits an mir schuldig wurden, und das (nach langem Nachdenken und nicht ohne Mißmut!) unabhängig davon, ob sie sich entschuldigen oder nicht. Ich werde darum zum Unmenschen, weil ich die Gemeinschaft mit diesen Menschen an dem Punkte kündige, an dem wir insbesondere als menschlich uns erweisen und deswegen auf einander angewiesen sind - eben: der Schuld. Wir alle werden schuldig, wir wollen oder nicht. Doch wie auch immer, Schuld ist Schuld. Mit ihr leben kann ich nur, indem sie mir vergeben wird, so daß ich mich zu ihr stellen kann. Entsprechend können wir miteinander ebenfalls nur leben, als Menschen und menschlich leben allein, indem wir einander wechselseitig vergeben. Verweigerte Vergebung führt zu Verdrängung oder Leugnung von Schuld und damit zur Auslieferung des Lebens an Zufall und anonyme Mächte oder zum Trachten und Lauern auf Rache - so oder so damit zur Brutalisierung.

Nein, daß ich meinem Mitmenschen vergebe, ist keine besondere Leistung, auch dann nicht, wenn es mich schwere innere Arbeit kostet. Sondern es ist die vollzogene Einsicht, daß wir als Menschen unausweichlich in Schuldzusammenhängen leben, Schuldzusammenhängen, die nur aufgebrochen werden können, indem Schuld vergeben wird und auf sie hin überhaupt bekannt werden kann und ihre Macht verliert. Das hat nichts zu tun mit "Friede, Freude, Eierkuchen" und schließt das klare Wort nicht aus. Wohl aber hat es zu tun mit dem Wissen, daß die Schuld, die ich vergebe, nicht soz. an mir hängen bleibt: Auch sie soll vergeben werden von dem, der Macht und Recht hat, alle Schuld zu vergeben und dadurch zu annullieren.

Und der ist unser Vater im Himmel. Das zeichnet ihn aus. Auch darin ist er unser Vater, daß er uns in unserer Schuld ernstnimmt, annimmt und ihr entnimmt. So läßt er uns Menschen sein, Menschen die auch in ihrer Schuld frei atmen sollen und die darum ihrerseits anderen zu vergeben vermögen.

Wirklichkeit ist das nicht unter uns. Doch es soll nicht im Himmel bleiben. Das Kreuz von Golgatha hat es in unsere Welt gepflanzt als wirklich und gültig. Und so bitten wir unseren Vater im Himmel, daß er uns unsere Schuld vergebe und uns dazu befreie, auch unsern Schuldigern zu vergeben.

Ja, himmlischer Vater, das ist unsere Bitte. Amen.

Klaus Schwarzwäller, Göttingen


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