Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Predigtreihe zum Vaterunser

2. Teil (4. Juni 1998)

Verfasser: Hans-Gottlieb Wesenick


Predigt über die zweite Bitte des Vaterunsers

"Dein Reich komme!" – Matth. 6, 10 a // Luk. 11, 2 c

(Anmerkung zur Predigt: s. am Schluß der Predigt)

Liebe Gemeinde!

Während ich an der Vorbereitung dieser Predigt sitze, erfahre ich von dem schweren Eisenbahnunglück in Eschede im Kreis Celle. Diese Nachricht lähmt mich geradezu seit Stunden, legt sich über die Unglücksnachrichten, die sich ohnehin in den letzten Tagen gehäuft haben und die mich nicht teilnahmslos sein lassen können:

  • Indien und Pakistan haben eigene Atomversuche unternommen und mehrere Sprengladungen gezündet; der Konflikt zwischen den beiden Staaten eskaliert. Beide Regierungen stellen unverhohlen Stolz und nationales Selbstbewußtsein zur Schau trotz weltweiter Proteste: endlich sind wir Wer! Atommächte!
  • Ein schweres Erdbeben im Norden Afghanistans hat Tausende von Todesopfern gefordert und Zehntausende obdachlos gemacht. Stefan Roth/ARD und Dirk Sager/ZDF sind vor Ort und berichten live von dem unsagbaren Elend. Hilfe kann den Betroffenen nur in höchst unzulänglichem Maße gebracht werden. Zu wenig Hubschrauber als einzig brauchbare Transportmittel, starke Regenfälle und Überschwemmungen und dazu der Bürgerkrieg im Lande mit unüberschaubaren politischen und militärischen Machtinteressen der verschiedenen Seiten – dies alles erschwert die Lage zusätzlich. Internationale Hilfe kommt kaum in Gang.
  • In der südserbischen Provinz Kosovo wird schwer gekämpft. Tausende fliehen ins Nachbarland Albanien und nach Montenegro. Die Regierung in Belgrad will offenbar um jeden Preis ihren Vormachtsanspruch gegenüber dem Unabhängigkeitsstreben der Kosovo–Albaner durchsetzen.

Eine heillose Welt ringsum! Und dazu nun die 2. Bitte des Vaterunsers: "Dein Reich komme!" Ist sie nicht weltfremd? Ich behaupte dagegen: sie ist höchst weltlich und menschenfreundlich! Deshalb ist sie höchst angemessen in dieser Lage und gerade angesichts dieser Nachrichten. Deshalb ist sie notwendig. Diese Behauptung werde ich begründen. Doch damit das möglich ist, sind zuvor einige andere Überlegungen nötig.

Dieses Gebet hat Jesus seine Jünger gelehrt. Wir beten es auch und immer noch: Tag für Tag, in jedem Gottesdienst, bei jeder möglichen und auch unmöglichen Gelegenheit, manchmal als Stoßseufzer, weil uns andere Worte fehlen, sehr oft aus Routine, weil es einfach dazugehört. Wissen wir eigentlich, um was wir da bitten? Sind wir uns klar über den Inhalt nicht nur dieser, sondern auch der anderen Bitten des Vaterunsers? Deshalb versuche ich zunächst zu beschreiben, wie es zu dieser Bitte gekommen ist und wie Jesus sie gemeint hat. Darauf folgen Überlegungen, wie wir diese Bitte heute verstehen können und warum sie sachgemäß und notwendig ist.

Den Evangelien können wir entnehmen, daß Jesus selbst sehr oft vom Reich Gottes gesprochen hat. Er nennt das "Reich Gottes" oder auch "das Himmelreich" gern als Bezugsgröße für seine Gleichniserzählungen. Oft beginnen sie so: "Mit dem Reich Gottes verhält es sich so wie ..." und dann erzählt Jesus eine kurze Geschichte, eine kleine Begebenheit, zum Beispiel so:

Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker.

Oder so: "Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn, das ein Mensch nahm und auf seinen Acker säte; das ist das kleinste unter allen Samenkörnern; wenn es aber gewachsen ist, so ist es größer als alle Kräuter und wird ein Baum, so daß die Vögel unter dem Himmel kommen und wohnen in seinen Zweigen.

Wie es im Reich Gottes zugeht, schildert Jesus auch mit seiner Geschichte von den Arbeitern im Weinberg. Die kennen Sie sicherlich, jene Geschichte, in der alle den gleichen Lohn bekommen, egal, ob sie den ganzen Tag über oder nur eine Stunde lang gearbeitet haben.

Jesus redete vom Reich Gottes, weil er überzeugt war: in dem, was ich sage und den Menschen Gutes tue, wendet sich Gott heilvoll den Menschen zu. Kennzeichen von Gottes Heil ist: "Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Taube hören, Tote stehen auf ..." Was jetzt also durch Jesus geschieht, ist genau das, was als Gottes Heilshandeln durch die Propheten angekündigt worden ist und worauf die Menschen zur Zeit Jesu sehnsüchtig warteten. Gottes Herrschaft kommt hier in Jesus auf die Menschen zu, nicht nur in Worten, sondern in Taten des Heils und der Hilfe für den ganzen Menschen.

Besonders deutlich hat Jesus dies auch in seinen Seligpreisungen zum Ausdruck gebracht. Die erste verheißt den Armen Anteil am Reiche Gottes: "Selig die Armen; denn ihrer ist das Reich Gottes!" Die nächsten beiden verheißen den Hungernden, daß sie satt werden, und den Trauernden, daß sie getröstet werden. Stillung des Hungers jedoch und Tröstung sind Verheißungen für die Heilszeit: all dies widerfährt Menschen, wenn Gottes Reich kommt. Jesus meint es so umfassend, wie er es sagt: Das Reich Gottes bringt ein leibliches und geistliches Heilwerden, also im Endergebnis eine neue Welt ohne Mangel und Leid, eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit. Und das Reich Gottes kommt so, daß Gott dem Menschen begegnet und ihn in seine Gemeinschaft hineinnimmt. Es bricht dort an, wo Gott die Trauer und den Hunger überwindet und also letztlich den ganzen Menschen barmherzig annimmt.

Jesus hat diese heilvolle Zuwendung Gottes zu den Menschen in seinem Wirken, in seinem Reden und Tun bereits beispielhaft gelebt und verwirklicht. Er hat gezeigt: Gottes Reich bringt neue Verhältnisse, eine neue Gesellschaft – nicht durch Veränderung der Verhältnisse, sondern so, daß das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen im Ganzen heil wird.

Das bestätigt nun auch das Vaterunser und seine 2. Bitte. Gottes Reich kommt, wenn Gott als Gott anerkannt wird und sein gnädiger Wille geschieht. Wird der Mensch in Gottes Herrschaft hineingenommen, dann nimmt Gott die Sorge um das Brot und die Schuld weg: durch dieses neue Verhältnis des Menschen zu Gott wird Geistliches und Leibliches heil. "Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch das alles zufallen." So sagt es Jesus. Und er meint: Fragt der Jünger, also der Mensch, der ihm glaubt, wie seine Bitten erfüllt werden, dann sieht er den, der vom Sorgen befreit und die Sünder annimmt, den Menschen gelten läßt, wie er ist. Dann sieht er Gott. Jede Bitte des Vaterunsers hat ihre Erfüllung in dem, was Jesus jetzt wirkt, auch wenn es gegenüber dem Ganzen der Bitte wie ein Senfkorn ist – das will das vorhin erzählte Gleichnis sagen. Da ist Gottes Reich schon da – auch wenn es noch nicht in seiner Fülle da ist.

Durch Jesu Wirken kommt in der Tat Gottes Herrschaft, wenn auch in vorläufiger Gestalt. Gottes Reich ist schon gekommen, wo jetzt Gottes Verhältnis zu einem Menschen heil wird. Das heißt: es bricht überall dort an, wo durch Jesus ein Mensch in eine neue Beziehung zu Gott kommt, auch wenn sein leibliches Leben und die Welt insgesamt noch nicht heil geworden sind. Gottes Reich bleibt dann aber auch nicht nur auf das neue Verhältnis zu Gott beschränkt, sondern dann gehört auch das leibliche Leben dazu; denn Gott ist der Schöpfer.

Natürlich fragen wir jetzt: So war das bei Jesus, so hat er das Reich Gottes verstanden. Gilt das denn aber auch für uns, wo doch Jesus nicht bei uns ist? Können, ja dürfen wir auch so um Gottes Reich bitten? Und kommt es zu uns, wenn wir so beten? Können wir das spüren, erfahren, erleben?

Darauf antworte ich: Jesus hat seine Jünger ausdrücklich aufgefordert, so zu beten. Darum ist das Vaterunser ja zum Hauptgebet der Christen geworden. Wenn wir überhaupt etwas von Gott erwarten, dann dürfen wir es ihm auch sagen im Gebet. Jedes Gebet ist Wendung zu Gott, und jede Wendung im Gebet zu Gott ist ein Sich–Ausstrecken auf das Morgen, auf die Zukunft hin, die er schenkt. Gott um etwas zu bitten, ist Sorge für unsere Zukunft. Ihn zu bitten "Dein Reich komme!" ist die Bitte, er möge sich uns heilvoll zuwenden, ganz so, wie es bei und durch Jesus geschah.

Aber warum bitten wir um das Kommen seines Reiches, wenn es doch eigentlich schon da ist, mitten unter uns? Denn in Jesus ist es doch gekommen, angebrochen? Martin Luther sagt in seiner Erklärung zu dieser Bitte: "Gottes Reich kommt zwar ohne unser Gebet von selbst, aber wir bitten in diesem Gebet, daß es auch zu uns komme." Das wäre also das Erste und Wichtigste, daß wir vor aller Sorge um unsere Zukunft Gottes Herrschaft über uns anerkennen, ihn unseren Gott sein lassen. Da können wir nicht anders, als dankbar staunend Ja sagen zu Gott, zu unserem Herrn, und zu dem was längst geschieht. Da können wir nur zuversichtlich erwarten, was uns künftig von Gott geschenkte werden wird.

Er ist bei uns, er ist anwesend, und seine Zeit ist längst angesagt. Wir gehören ihm und gehören zu seinem Reich kraft unserer Taufe. Freilich sollten wir uns unter dem Reich Gottes nicht einen Zustand vorstellen, sondern ein Geschehen. Ja, am besten stellen wir uns darunter gar nichts vor, sondern hören, was jeweils an der Zeit ist, was die Stunde jetzt geschlagen hat. Darum sagt der Apostel Paulus: "Jetzt ist die angenehme Zeit, jetzt ist der Tag des Heils." Und das heißt: Jetzt, unter all den schlimmen Nachrichten, jetzt hat Gott seine Zeit, jetzt holt uns Gott hinein in seine Zeit, die er uns gegeben hat.

Gottes Zeit ist erfüllte Zeit, die Zeit nämlich, die Gott uns schenkt. Weil Gott für uns da ist, können auch wir für Gott da sein und nun allerdings in unserem Alltag und in unseren vielfältigen menschlichen Beziehungen wirken, tun und lassen, was von seinem Willen, von seiner Liebe zu uns her bestimmt ist, können leben im Glauben, der durch die Liebe tätig ist. Und das gibt unserer Zeit göttlichen Glanz.

Da müssen keine großartigen Dinge geschehen. Da brauchen wir uns nur unserer uns von Gott geschenkten Zeit zu überlassen und in ständigem Bitten und ständigem Empfangen, also auch in ständigem Danken tun, was uns an unserem Platz möglich ist, tun, was von uns getan werden will, damit etwas von Gottes Heil in unserem Alltag und bei den Menschen, mit denen wir zu tun haben, aufleuchten kann. Gottes Reich ist mitten unter uns – wo wir es im Glauben kommen und wirken lassen.

Das allerdings tut unserer Welt not, ist notwendig, daß Christenmenschen dabei mitwirken, daß Gottes Reich unter uns spürbar und erfahrbar wird. Jedenfalls eine Ahnung davon sollte spürbar werden, daß es auch anders geht, als es normalerweise und ohne Gott unter uns zugeht. Nicht alle Verhältnisse unter uns müssen kaputt, gottlos bleiben.

Aber Afghanistan, aber die Kämpfe im Kosovo, aber das Eisenbahnunglück? Sie sind geschehen, und das Elend nimmt kein Ende. Das ist schrecklich genug. Und unmittelbar können wir auch nichts daran ändern.

Doch ich denke, es käme darauf an, jetzt mitzuwirken und dazu beizutragen, so weit es an uns ist, daß Liebe geschehen kann in aller Trauer und in allem Leid. Jedem von uns bleibt dazu das Gebet, die Fürbitte: Gott möge durch seinen Geist Menschen bewegen, menschlich und barmherzig zu handeln. Dies Gebet kann jeder tun.

Und dann: Staunenswert ist es, was die zahllosen Helfer auch die Nacht hindurch getan haben, um Hilfe zu bringen: die Ärzte, die Schwestern, die Kranführer und Rettungsmannschaften, die Soldaten und Polizeibeamten, die Leute der Bahn. Staunenswert ist auch, was trotz der Schwierigkeiten in den Bergen Afghanistans geschieht. Die Berichte der Fernsehreporter, deren Menschlichkeit und Mitgefühl mich anrührt, werden hoffentlich auch weitere Helfer und Hilfe anspornen. Und was ihre Kollegen der Welt aus der Provinz Kosovo berichten, wird hoffentlich Politiker und Diplomaten aufrütteln, ihre Mittel mit aller Konsequenz einzusetzen, damit das Blutvergießen ein Ende hat.

Ich bin überzeugt: wo in dem allen menschliche Zuwendung geschieht, da wird auch Gottes Zuwendung erfahren, selbst wenn dabei Gottes Name nicht genannt wird. Gottes Reich ist schon unter uns, es ist da. Aber wir müssen auch ständig darum bitten: "Dein Reich komme!" Amen.

Anschrift: Pastor Hans–Gottlieb Wesenick, Grotefendstr. 36, 37075 Göttingen, Tel. 05 51 / 5 66 70, Fax 48 45 80

e–mail: KG.Corvinus-GOE@evlka.de

Bemerkung zur Predigt:

Bei der Vorbereitung habe ich mit Gewinn benutzt: die NT–Theologien von R. Bultmann, H. Conzelmann, L. Goppelt, E. Lohse, ferner Gerhard Ebeling, Vom Gebet, Tübingen 1963; Martin Luther, Der Kleine und Der Große Katechimus (BSLK). Zitate sind jedoch aus Zeitmangel nicht gekennzeichnet. –– 3./4. Juni1998


[Zum Anfang der Seite]

[Zurück zur Hauptseite] [Zum Archiv] [Zur Konzeption] [Diskussion]