Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch



Predigtreihe: "Kuß des Universums"
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Universitätsgottesdienste der Universität München
im Sommersemester 1999 in der Markuskirche München

"Sinn und Geschmack fürs Unendliche"
Universitätspredigt am 16. Mai 1999 in St. Markus
von Prof. Dr. Jan Rohls

"Es war, als hätt’ der Himmel/ Die Erde still geküßt,/ Daß sie im Blütenschimmer/ Von ihm nur träumen müßt." Mit diesem Kuß des Universums beginnt eines der bekanntesten Gedichte der deutschen Romantik: die "Mondnacht" des schlesischen Freiherrn Joseph von Eichendorff.

Der Himmel küßt die Erde. Unendliches und Endliches berühren sich, verschmelzen wie zwei Liebende, werden eins. Ist es nicht eine neue Welt, ist es nicht die ganze Welt, die man in der Geliebten, dem Geliebten anschaut? Und das Gefühl, das damit verbunden ist, hebt es nicht alle Schranken auf? Erhebt es einen nicht über alles Kleinliche, Begrenzte, Endliche? Anschauung und Gefühl des Universums, Sinn und Geschmack fürs Unendliche-: so hat der reformierte Prediger an der Berliner Charité, so hat Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher die Religion verstanden wissen wollen.

Die Religion, das ist kein Wissen, das Kindern durch den Katechismus eingetrichtert wird und das Erwachsene durch die Lektüre von kirchlichen Dogmen und Bekenntnisschriften oder gar theologischer Fachliteratur erlernen. Die Religion besteht aber auch nicht in der korrekten Erfüllung der zehn Gebote. Sie ist weder Wissen noch Moral, weder Denken noch Handeln. Nein, sie ist Anschauung und Gefühl.

Schleiermacher wollte damit die Religion den Gebildeten unter ihren Verächtern nahebringen. Jenen, die weder mit trockenen Katechismen, Dogmen und imposanten theologischen Lehrgebäuden noch mit einem Katalog von Gesetzen, Vorschriften und Verboten mehr etwas anzufangen wußten. Und die Gebildeten der jungen Generation um 1800 wußten damit nun einmal nichts mehr anzufangen. Das traditionelle kirchliche Christentum mit seinen Dogmen und Bekenntnissen war ihnen fremd geworden. Aber ebenso fremd geworden war ihnen die trockene Moralreligion, die die Aufklärer an seine Stelle gesetzt hatten, die Pflichterfüllung und das gute Handeln, das man als das einzig wahre Glaubensbekenntnis statt des toten Buchstabenglaubens empfahl.

Die Gebildeten der jungen Generation, das waren die Romantiker, die ihren Goethe gelesen und "Werthers Leiden" mitgelitten hatten. Das war die Generation, der Schleiermacher selbst, der die Brüder Schlegel, Novalis und Schelling angehörten. Für sie war die neue Antwort auf die alte Frage gedacht. Was ist Religion? Weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl des Universums, Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Eine Sache des Herzens mehr denn eine Sache des Verstandes oder des Willens. Nichts, was äußerlich an einen herangetragen wird, sondern etwas zutiefst Innerliches, ein heiliger Instinkt, der bei dem frommen Hindu, Muslim oder Juden ebenso vorhanden ist wie bei dem frommen Orthodoxen, Katholiken, Lutheraner, Reformierten und Pietisten der Herrnhuter Brüdergemeine. Wer immer religiös und fromm ist, der hat eben dies: Anschauung und Gefühl des Universums, Sinn und Geschmack fürs Unendliche.

Sinn und Geschmack, das sind zwei Begriffe, die man gewöhnlich nicht in erster Linie mit der Religion verbindet. Sie sind doch eher im Umkreis von Kunst und Ästhetik daheim. Sinn und Geschmack sind vonnöten, wenn man Kunstwerke verstehen und beurteilen will. Kunstgeschmack und Kunstsinn, das sind geläufige Wortverbindungen. Wenn man daher von Sinn und Geschmack auch im Zusammenhang mit der Religion spricht, dann stellt man eine Beziehung her zwischen der Religion und der Kunst.

Und in der Tat: Religion und Kunst sind für Schleiermacher zwei befreundete Seelen. Über ihre Beziehung läßt sich gerade an diesem Ort gut reden, angesichts der benachbarten Pinakotheken und des nahen Ensembles von Musentempeln am Königsplatz. Leo von Klenze, der Architekt sowohl der Alten Pinakothek als auch des Königsplatzes, hatte seine eigenen Vorstellungen über das enge Verhältnis von Kunst und Religion. Der ursprüngliche Plan des Königsplatzes sah vor, daß der Glypthothek als dem Tempel der Kunst eine Apostelkirche als Tempel Gottes gegenüberstehen sollte. Der Plan gelangte zwar nicht zur Ausführung. Aber auch in seiner jetzigen Form verleiht das Ensemble am Königsplatz mit seiner Verbindung der Museen und der Basilika St. Bonifaz der Verbindung von Kunst und Religion lebhaften Ausdruck.

Schon die Begriffe - "Kunsttempel" oder "Musentempel" - machen deutlich, wie stark man damals in der Epoche der Romantik die Verwandtschaft von Kunst und Religion empfand. Das Museum wurde ebenso wie das Theater, das Opernhaus oder der Konzertsaal zur ästhetischen Kirche. Es gibt, gleichzeitig mit Schleiermachers Reden "Über die Religion" erschienen, also vor zweihundert Jahren, ein literarisches Dokument, das wie kein zweites diese Verwandtschaft der Kunst mit der Religion besingt. Seine Verfasser sind zwei junge Romantiker, Wackenroder und Tieck, die den göttlichen Raffael und den frommen Nürnberger Meister Dürer als Kunstheilige verehren. "Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", so der Titel ihrer kunstfrommen kleinen Traktats.

Die Kunst spricht wie die Religion das Herz an. Ja, mehr noch: die Kunst ist eine Sprache Gottes, in ihr offenbart sich Gott. Daher ist das angemessene Verhältnis zur Kunst eigentlich religiös. Der wahre Kunstsinn und Kunstgeschmack ist selbst Religion, ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Und ist es nicht tatsächlich so?

Wenn wir einmal einen klaren Trennungsstrich ziehen zwischen Kunst und Kulturindustrie, würden wir da nicht sagen, daß uns im Kunstwerk eine höhere Wahrheit begegnet? Ist das Kunstwerk nicht der Vorschein einer überlegeneren Wirklichkeit? Tritt uns in ihm nicht etwas entgegen, dem wir Absolutheit nicht absprechen können? Ist Tizians "Dornenkrönung" in der Alten Pinakothek nicht mehr als eine farbige Illustration einer biblischen Erzählung? Und ist der Schlußsatz von Beethovens Neunter Symphonie nicht mehr als nur die Vertonung einer Ode von Schiller?

Es klingt altmodisch, wenn man heutzutage vom erhebenden Charakter der Kunst spricht. Dabei hat der im selben Umkreis beheimatete Begriff des Erhabenen in letzter Zeit eine erstaunliche Renaissance erfahren. Die Kunst erhebt-: das bedeutet, daß wir uns im Kunstwerk auf eine andere, höhere Wirklichkeit beziehen, auf das, was man zur Zeit Schleiermachers das Unendliche, das Universum oder das Absolute nannte. Kunst und Religion scheinen somit etwas miteinander gemein zu haben. Noch die Kunstwerke von Beuys beziehen ja ihr Pathos aus dieser Affinität. Beide scheinen sich als Sinn und Geschmack fürs Unendliche, als Anschaung und Gefühl des Universums beschreiben zu lassen. Denn beide erheben uns vom Endlichen zum Unendlichen, zum Absoluten.

Bislang war von Gott zumindest nicht wörtlich die Rede. Stattdessen fielen Begriffe wie "das Universum", "das Absolute", "das Unendliche". Steckt dahinter Methode? Erinnern wir uns an den Dialog zwischen Gretchen und Faust! "Glaubst du an Gott?", fragt die fromme Kirchgängerin Gretchen. Und der studierte Theologe antwortet ausweichend mit einer Gegenfrage: "Wer darf ihn nennen?" Warum dieses Ausweichen, und warum die Vermeidung des Gottesbegriffs?

Schleiermachers Antwort deckt sich in diesem Fall mit derjenigen von Faust. Mit dem Gottesbegriff verbinden beide die Vorstellung eines höchsten Wesens, das der Welt transzendent ist und sie mit Verstand und Willen regiert. Kurzum, der Gottesbegriff ist personal. Wenn man von Gott spricht, dann stellt man sich ein persönliches Gegenüber vor, ein Du, das man anreden kann und das in einem Jenseits wohnt, das man als Himmel bezeichnet. Das ist eine Vorstellung von Gott, wie sie Gretchen in der Kirche aus dem Munde des Pfarrers vermittelt bekommen haben dürfte. Aber zugleich ist das eine Vorstellung, mit der die Gebildeten unter den Verächtern der Religion zur Zeit Schleiermachers herzlich wenig anfangen konnten.

Ein persönlicher Jenseitsgott, das ist gewiß nicht der Allmächtige und Alliebende, dessen Gegenwart Goethes Werther in der Natur fühlt. Das ist nicht der Allumfasser und Allerhalter, von dem Faust spricht. Nein, der Gott Goethes und Schleiermachers ist ein anderer Gott. Er ist der Gott, den Paulus meint, wenn er auf dem Areopag zu den Athenern sagt: "Fürwahr, Gott ist nicht ferne von einem jeden unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir." In ihm leben, weben und sind wir. Das läßt sich nicht von einem persönlichen Wesen sagen, daß welttranszendent in einem himmlischen Jenseits wohnt.

Goethe greift denn auch die paulinische Botschaft begierig auf, wenn er in Bezug auf Gott erklärt: "Ihm ziemt’s, die Welt im Innern zu bewegen,/ Natur in Sich, Sich in Natur zu hegen,/ So daß, was in Ihm lebt und webt und ist,/ Nie Seine Kraft, nie Seinen Geist vermißt". Diesen Gott, der uns nicht ferne ist wie der transzendente Schöpfer des Himmels und der Erde, der das Abbild des absoluten Herrschers zu sein scheint, diesen nahen Gott, in dem wie leben, weben und sind, von ihm las man damals nicht nur bei dem orthodoxen Paulus, sondern auch noch bei einem weit moderneren Autor. Gemeint ist der heterodoxe, aus der Synagoge ausgestoßene Amsterdamer Jude Spinoza. Gott und Natur, für Spinoza sind beide eins.

Und dieser Gottesbegriff, der nun gar nichts mehr gemein hat mit der traditionellen Vorstellung eines transzendenten persönlichen Weltschöpfers und Weltherrschers, ist es, der sich hinter Schleiermachers Begriff des Universums, des Unendlichen verbirgt. Denn um die Unendlichkeit Gottes wäre es schlecht bestellt, wenn er uns und allem Endlichen als ein Du gegenüberstünde. Er hätte dann ja seine Grenze am Endlichen und wäre damit selbst endlich. Und ein endlicher Gott, das ist doch ein Widerspruch in sich. So ist Gott also nicht der transzendente persönliche Weltregent, sondern er ist das Unendliche, das Universum, das Absolute, in dem wir leben, weben und sind.

Die Religion als Sinn und Geschmack fürs Unendliche, Anschauung und Gefühl des Universums. Wo aber schaue ich das Universum an, wo offenbart es sich mir? Für viele Künstler der romantischen Generation war das die Natur. Man denke nur an die Bilder von Phillip Otto Runge oder Caspar David Friedrich. Man muß sich nur einmal die Landschaftsbilder Friedrichs drüben in der Neuen Pinakothek anschauen, und man merkt sofort, wie die Landschaft den Betrachter hier in eine andächtige Stimmung versetzt. Die Natur wird zur Offenbarung des Unendlichen. Nicht umsonst trägt eines der Bilder Friedrichs den Titel "Der Mönch am Meer". Einsam und winzig verglichen mit der unendlichen Weite des Himmels steht da an der Spitze der Küste ein Mönch, versunken in der andächtigen Betrachtung des Alls. Er schaut das Unendliche in der Natur an, und er fühlt es in der Natur. Ist das nicht ein Erlebnis, das wir kennen, an das wir uns zumindest erinnern, wenn wir zurückgehen in unsere Jugend? Ist das nicht das, was - in welch verdünnter Form auch immer - noch dem Erlebnis des Sonnenaufgangs in der Wüste, des Alpenglühens oder der Waldeinsamkeit zugrundeliegt?

Doch so naheliegend es auch ist, das Unendliche in der Natur zu suchen, für Schleiermacher ist die Natur nur der Vorhof zum eigentlichen Tempel, in dem das Unendliche gegenwärtig ist. Dieser Tempel ist für ihn die Menschheit, ja, die Menschheitsgeschichte. Und auch hier wieder klingt die Verwandtschaft von Religion und Kunst an. Die Geschichte der Menschheit, sie wird ihm zum Tempel der Zeit, zur Galerie religiöser Ansichten, in denen die Kunstwerke der Religion ausgestellt sind, große historische Bilder, die das Universum gemalt hat. Nicht die Natur also, sondern die Geschichte ist die eigentliche Offenbarung des Unendlichen. Hier, in der Geschichte vollzieht sich das immer weiter fortschreitende Erlösungswerk der ewigen Liebe.

Wie ja, und man darf an diese Worte Schleiermachers nicht erinnern angesichts der gegenwärtigen Kriegsgreuel, "wie die lebendigen Götter nichts hassen als den Tod, wie nichts verfolgt und gestürzt werden soll als er, der erste und letzte Feind der Menschheit. Das Rohe, das Barbarische, das Unförmliche, soll verschlungen und in organische Bildung umgestaltet werden". Die Menschheitsgeschichte vor allem wird so zu dem Ort, an dem sich das Unendliche offenbart. Und es offenbart sich in der Weise, daß der Tod durch das Leben, die Knechtschaft durch die Freiheit besiegt wird. Es offenbart sich in der Liebe. Wo sie geschieht, da ist das Absolute, da ist Gott gegenwärtig. Und Religion ist es, wenn man das Universum, das Unendliche, wenn man Gott in der Menschheitsgeschichte anschaut und fühlt, in der sich für Schleiermacher der Sieg des Lebens über den Tod, also die Humanität verwirklicht. Gott wird also angeschaut und gefühlt im Prozeß der Kultur, und Religion und Kultur gehören daher aufs engste zusammen.

Sinn und Geschmack fürs Unendliche. Vielleicht muß man in einer Zeit wie der unsrigen betonen, daß die Religion auf das Unendliche, das Absolute geht. Die Gefahr ist relativ gering, daß man das Absolute zu sehr theoretisch oder praktisch behandelt. Die Gefahr dürfte eher darin liegen, daß das Absolute überhaupt aus dem Bewußtsein der westlichen Zivilisation verschwindet.

Wo immer Religionen lebendig sind, wird das Bewußtsein des Absoluten, des Unendlichen, kurzum Gottes zumindest wachgehalten. Es mag dann zum Streit um die Art und Weise kommen, wie das Absolute gefaßt wird. Auch diesen Streit zwischen den Religionen kennen wir. Aber das Ende der Religion überhaupt wäre gleichbedeutend mit dem Ende des lebendigen Bewußtseins vom Absoluten. Den Anfang dieses Bewußtseins hat Schleiermacher in der Sprache der Mystik als bräutliche Umarmung beschrieben, in dem Anschauung und Gefühl, Endliches und Unendliches, der Mensch und Gott noch ganz eins sind. "Ich liege am Busen der unendlichen Welt: ich bin in diesem Augenblick ihre Seele, denn ich fühle alle ihre Kräfte und iher unendliches Leben wie mein eigenes, sie ist in diesem Augenblicke mein Leib, denn ich durchdringe ihre Muskeln und ihre Glieder wie meine eigenen, und ihre innersten Nerven bewegen sich nach meinem Sinn und meiner Ahndung wie die meinigen".

Das ist der Kuß des Universums, in dem Endliches und Unendliches, Mensch und Gott eins sind. So haben es die Mystiker aller Zeiten gesehen. Ein anderer Schlesier, Johannes Scheffler, hatte es hundert Jahre vor Schleiermacher so ausgedrückt: "Gott ist in mir/ und ich in Ihm./ Gott ist in mir das Feur/ und ich in Ihm der Schein:/ Sind wir einander nicht gantz jnniglich gemein?" Für diese gegenwärtige Einheit von Mensch und Gott, Endlichem und Unendlichem willen gibt Schleiermacher sogar die Aussicht auf ein Weiterleben nach dem Tode preis. Mitten in der Endlichkeit eins werden mit dem Unendlichen und ewig sein im Augenblick, das ist für ihn die wahre Unsterblichkeit. Es ist die Erhebung zum Unendlichen, es ist die Religion, die uns von den Fesseln der Endlichkeit befreit und den Weg in eine Welt öffnet, zu der uns der platte Empirismus ebensowenig bringt wie der Materialismus, Relativismus oder Skeptizismus. Darin gleicht die Religion ja gerade der Kunst, die uns auch in eine höhere Welt führt und dadurch die Wirklichkeit mit anderen Augen sehen lehrt. Erst durch diese Erhebung zum Unendlichen aber gelangt die Seele des Menschen zur Ruhe.

Um an Eichendorffs Gedicht vom Anfang wieder anzuknüpfen. Dessen letzte Strophe lautet, nachdem zuvor vom Kuß des Himmels die Rede gewesen war: "Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus,/ Flog durch die stillen Lande,/ Als flöge sie nach Haus."

Amen.


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