Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Reisesegen-Gottesdienst
Juni 1999
Verfasserin: Christel Lucht


Liebe Gemeinde,

Koffer packen – das wird für alle, die demnächst verreisen, eine unerläßliche Beschäftigung sein. Für manche ist es ganz leicht, sie sind häufiges Reisen gewohnt und wissen schnell und sicher, was mitzunehmen ist. Koffer packen – fast eine Nebenbeschäftigung.

Für andere ist es das Lästigste am ganzen Urlaub. Bei jedem Teil ist die Entscheidung erforderlich: muß es mitgenommen werden oder nicht. Kleidung für kalte Tage und für warme Tage, bequeme Freizeitkleidung und etwas Festliches Für das Lokal, Schuhe für jeden Zweck usw. – und alles für die ganze Familie. In Gedanken muß der Urlaub mit den Unwägbarkeiten durchdacht werden, denn es ist unangenehm, wenn das erforderliche Teil nicht dabei ist.

Koffer Packen erfordert die Entscheidung: was kann selbstverständlich zu Hause bleiben, worauf wird für die nächste Zeit – wenn auch schweren Herzens - bewußt verzichtet, was wird vorsorglich eingepackt, obwohl es vermutlich nicht gebraucht wird.

Mitnehmen, zurücklassen das umfaßt mehr als nur die Kleidung. Das vertraute Zuhause mit seinen alltäglichen Gewohnheiten, seinem alltäglichen Rhythmus wird für eine Zeitlang verlassen. Der Schlüssel muß noch abgegeben, die Haustiere versorgt werden.

Wer sich auf den Weg macht, ist auf Gastfreundschaft angewiesen. Wer sein Zuhause verläßt, weiß, daß er eine andere Herberge braucht, ein Dach über dem Kopf, ein Bett. Ruhe finden, schlafen, sich fallen lassen in einem fremden Bett – manche haben in den ersten Tagen Schwierigkeiten damit bis sie sich eingewöhnt haben. Kein Wunder, wenn man bedenkt, wieviel Vertrauen dazu nötig ist.

Auch das Essen ist fremd, das Besteck, das Geschirr. Natürlich ist für den Urlaub alles gut organisiert und fest gebucht. Die Reisebüros helfen dabei. Das Risiko einer spontanen Reise geht man lieber nicht ein, schon gar nicht als Familie.

So widersprüchlich es klingt, es gehört sicher beides zusammen: die Freude auf das neue Ungewohnte während des Urlaubs und dann wieder die Freude auf die Rückkehr ins Vertraute.

Koffer packen – das gibt es auch in anderen Situationen, die nicht immer so erfreulich sind wie der Urlaub, wo nach einiger Zeit die Rückkehr ins Gewohnte erfolgt. Koffer packen steht stellvertretend für andere Aufbruchssituationen, wo es manchmal kein Zurück gibt.

Menschen, die nach dem Krieg auf der Flucht waren, erzählen: ‚Mit nur einem Koffer in der Hand bin ich damals angekommen. Darin hatte ich all meine Habseligkeiten. Vieles hatte ich eingepackt, aber bis auf das wenige habe ich alles verloren.‘

Ein normaler Umzug heutzutage braucht hingegen Koffer in der Größe eines Lkw. Vieles gibt es mitzunehmen, obwohl manches entrümpelt wird. Zurückgelassen werden Nachbarn, Freunde, die man zukünftig nur noch seltener sieht, der Ort, der ein Zuhause war. Neuorientierung dauert einige Zeit.

Junge Leute Packen irgendwann ihre Koffer und ziehen aus dem Elternhaus aus. Außer den sichtbaren Spielsachen auf dem Boden oder im Keller bleibt ihre Kinderzeit zurück, mit all den gemischten Gefühlen, die für Eltern und Jugendliche damit verbunden sind.

Studierende leben mitunter jahrelang ‚aus dem Koffer‘ an verschiedenen Studienorten, zwischendurch bei den Eltern, dem Partner, der Partnerin.

‚ Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten, da habe ich meine Koffer gepacktund bin ausgezogen,‘ sagt die Frau, die ihren Mann verlassen hat, weil die Ehe längst nicht mehr so war, wie sie begonnen hatte.

Umgekehrt kann es sein, daß jemand die Koffer vor die Tür gestellt bekommt. Sein Zuhause ist für ihn verschlossen, der Zutritt verwehrt.

In dem alten Schlager ‚Ich hab noch einen Koffer in Berlin‘ ist die Sehnsucht enthalten, an diesen Ort zurückkehren zu können, immer mal wieder, die Verbindung nicht ganz abreißen zu lassen.

Nicht speziell vom Urlaub, wohl aber von Reisen, vom Aufbruch aus vertrauter Umgebung in neues Land und vom Gast sein ist an unterschiedlichen Stellen der Bibel die Rede.

Gott sprach zu Abraham Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft in ein Land, das ich dir zeigen will. Später heißt es: Abraham zog aus wie Gott zu ihm gesagt hatte. Die Größe dieses Auftrags und die einschneidende Lebensveränderung, die sich hinter diesen wenigen Worten verbirgt, läßt sich für uns vermutlich kaum ermessen.

Eine andere große Aufbruchssituation war, als die Israeliten Ägypten verließen, um in das gelobte Land zu ziehen. Endlich die Knechtschaft hinter sich lassen, endlich frei sein. Doch zwischen der Sklaverei und dem gelobten Land lagen 40 Jahre Wüstenwanderung.

Vergleichbar sind die Empfindungen in Lebenssituationen unter der Überschrift; Ich habe es nicht mehr ausgehalten, habe endlich die Koffer gepackt und bin gegangen. Doch dann stellte sich unerwartete Schwierigkeiten ein. Fragen drängten sich auf – ob es richtig war zu gehen. Vielleicht sollte ich doch besser zurückkehren. Es hat lange gedauert bis die Durststrecke dieser Lebenssituation überwunden war.

Manchmal wird sogar der Urlaub ein wenig so empfunden. Endlich konnte die Sklaverei der Arbeit, der Stempeluhr, der Schule, des unerträglichen Leistungs- und Termindrucks zurückgelassen werden, das gelobte Urlaubsziel vor Augen. Wenn alles gut geht, ist es reibungslos. Wenn nicht, kann es schon ein kleiner Stau auf der Autobahn sein, der alle Emotionen durcheinanderbringt. ‚Wären wir nur zu Hause geblieben,‘ ist vielleicht nicht nur das treffende Wort der Kinder. Manchmal müssen in der ersten Tagen seelische Wüstenstationen durchwandert werden, ehe die Muße, die Erholung spürbar wird.

Vom Beter des 119. Psalms wird u.a. das Wort überliefert: Ich bin ein Gast auf Erden.

Wir haben hier keine bleibende Statt. – Eine tiefe Lebensweisheit ist in diesem Bild ausgedrückt. Die zeitliche Begrenzung des Lebens wird klar in den Blick genommen, ebenso die Kostbarkeit geschenkter Zeit, der Wert des Augenblicks. Gastsein wird geteilt mit anderen. Gastsein ist mit Freude verbunden, mit einem bestimmten Verhalten von Dank, Aufmerksamkeit, gutem Benehmen. Behutsam geht ein Gast mit dem um, was ihm zur Verfügung gestellt wird. Als Gast brauche ich Vertrauen zu dem Gastgeber, der mich freundlich aufnimmt.

‚Ich bin ein Gast auf Erden,‘ ist eine andere Lebenseinstellung als ‚Wir sind die Herren der Welt.‘ Der Psalmbeter sieht Gott als Gastgeber.

Paul Gerhardt hat in seinem Lied ‚Geh aus mein Herz ...‘ ebenfalls diesen Gedanken aufgenommen. In der Letzten Strophe spricht er von ‚der letzten Reise‘. Dafür ist dann kein Koffer mehr nötig.

Auf dem Land habe ich Menschen kennengelernt, die vermutlich nie wirklich einen Koffer gepackt haben, weil sie nie verreist sind. Lag es an der Arbeit, an den Tieren, die jeden Tag versorgt werden mußten, am fehlenden Mut, am Geld? Ich weiß es nicht. Die Menschen wirkten nicht, als hätten sie etwas wichtiges versäumt. Sie waren zufrieden und sagten:‘Hier ist es schön. Wir haben das Paradies vor der Haustür.‘ Ihr Lebensrhythmus war in den Jahreslauf eingebunden. Sie ließen sich nicht von Terminen hetzen. Jeder Tag hatte eine Zeit der Muße. Sie hatten, was andere im Urlaub suchen und manchmal nicht finden können, wenn das Urlaubsprogramm (welch ein Widerspruch im Wort) zu voll ist.

Das einfache Nachdenken über das Koffer packen zu Beginn des Urlaubs ist nun zu einem gedanklicher Ausflug in ganz andere Lebenssituationen geworden.

Wenn Sie Ihre Koffer packen, in welcher Situation auch immer, wünsche ich Ihnen, daß Sie es mit Vorfreude tun.

Für den Urlaub packen Sie das Buch mit ein, das Sie schon immer mal lesen wollten. Wenn Sie es nicht schaffen, sehen Sie es gelassen. Lassen Sie den Terminkalender und Wecker getrost zu Hause. Ein Spiel mitzunehmen, wäre sicher gut, denn beim Spielen kann man etwas mit anderen machen, sinn- und zweckfrei, einfach um der Freude willen.

Genießen Sie es, zu verreisen und viele neue Eindrücke zu sammeln. Gönnen Sie sich Muße, das ist wichtiger als das Freizeitprogramm zu absolvieren.

Lassen Sie Platz in Ihrem Koffer für das, was Sie vielleicht mitbringen möchten, ein Andenken, das die Erinnerungen lebendig hält.

Nehmen Sie viele gute Segenswünsche mit auf Ihre Reise und bis wir uns wiedersehen, halte Gott einen jeden von uns im Frieden seiner Hand.

Amen.

(Nach der Ansprache habe ich aus einem kleinen Kinderkoffer Kartengrüße an die Gottesdienstbesucher/-innen verteilt.)

Christel Lucht, Pastorin, Stettiner Weg 50, Hannover
Tel.: 0511-557498 30625


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