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PREDIGT ZUM REFORMATIONSFEST AM 31.10.97

Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller

 

Universitätsgottesdienst am Reformationsfest 1997 in der Universitätskirche Göttingen. Matthäus 5,2-10 - "Das klare Wort des Herrn"

 

Liebe Gemeinde,

wir feiern heute Reformationsfest. Anlaß ist der Anschlag der 95 Thesen durch Martin Luther am 31. Oktober 1517; das Datum gilt als Beginn der Reformation.

Wir feiern das Reformationsfest mit einem Gottesdienst. Damit nehmen wir die Intention Luthers auf: Darum gehe es, daß wir uns von allem, was ist - "Menschenlehr" sagte er und "Menschensatzungen" und auch "Menschenwerk" - abwenden und lossagen, uns Gottes Wort, dem Evangelium, öffnen und allein hierauf bauen.

Und so halten wir uns weder mit dem Reformator noch mit der Reformation weiter auf, sondern wenden uns sofort dem Predigttext des Tages zu:

Matthäus 5,2-10:

"Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich.Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich.

Diese Sätze sind als die sogenannten "Seligpreisungen" geläufig, als die Worte Jesu, mit denen er bestimmte Menschen als "selig" ausruft, dh. als der Zuwendung und Gnade Gottes versichert, und zwardaraufhin, daß sie die hier benannten Züge tragen - geistlich arm, sanftmütig usf. Ihnen gilt Gottes Zuwendung und Gnade, und das erweist sich daran, daß ihnen etwas zuteil werden soll: Trost, Barmherzigkeit usw. Als sagte er: Euch, die ihr hungert und dürstet nach Gerechtigkeit, die ihr reines Herzens seid usf., euch kann man nur rundherum gratulieren. Denn euch hat Gott sich ersehen, und das wird er euch spüren lassen - in der Sättigung eures Hungers, im Schauen Gottes usw. Also jetzt bereits, was immer um euch herum geschieht oder auch im argen liegt, wie immer es euch derzeit geht und was auch Menschen und Mächte mit euch treiben: Jetzt bereits hat euer Leben abschließend Erfüllung und Sinn gefunden, verbürgt in Gott selbst. Er wird es euch erfahren lassen.

Das bringt uns ins Fragen: Wer sind die gemeinten Menschen? Was macht diese Züge aus, die sie so auszeichnen? Wie hat man die Verheißungen aufzufassen? Naheliegende Fragen, und wir möchten Antworten haben - zutreffende und möglichst klare. Ich stutze: Wieso eigentlich? Woraufhin fragen wir? Was steckt in unseren Fragen?

Im akademischen Raum ist es uns geläufig: Wer die Fragen stellt, entwirft den Rahmen, legt die Ebenen fest und befindet über Methoden und Ziele. Wer die Fragen stellt, bestimmt und entscheidet - bestimmt und entschiedet darüber, wie ein Wortlaut zu hören sei, wie man ihn aufzunehmen hat, was in ihm steckt. Aus meinem Stutzen wird ein Stolpern: Also legten wir mit unseren Fragen die Aussage des Textes bereits im voraus fest? Aber wir wollten durch nur wissen ...; ist das nicht etwas ganz anderes als ein vorgängiges Bemeistern durch die Fragestellung?

Das muß jetzt nicht entschieden werden; lassen Sie uns hier einen Augenblick verharren und unsere Fragerei hintanstellen. Ja - und dann? Dann - dann kehren sich die Dinge um. Dann stellt der Predigttext uns Fragen, und er tut das dadurch, daß er völlig eindeutig ist, das klare Wort des Herrn. Klar und eindeutig ist am Tage: Gemeint sind exakt die, die hier genannt sind: Die da geistlich arm sind; die da Leid tragen; die Sanftmütigen; die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; die Barmherzigen; die reines Herzens sind; die Friedfertigen; die um Gerechtigkeit willen Verfolgten. Sie, und nur sie, sind hier angesprochen und also auch gemeint; sie und sonst niemand. Wer dazu gehört, wird es unter diesen Sätzen unmittelbar wissen. Wer nicht dazu gehört, den gehen die Seligpreisungen nichts an.

Ja, Jesus Christus zieht eine Grenze, eine nicht sofort erkennbare, doch schneidende Grenze. Er wendet sich hier nicht wahllos an Alle, sondern allein an diese bestimmten Menschen. Und die sind selig, weil sie sind, die sie sind, oder vielmehr: weil der Herr selber sie ersieht und seligspricht. Die anderen - kann, muß ich sagen: wir anderen? - sind nicht im Blick. Die - oder wir - haben hiermit nichts zu schaffen.

Jesus Christus spricht hier als Herr, der da frei wählt und gültig verfügt. Damit setzt er Vorgaben, zumal für diejenigen, die sich nach seinem Namen nennen. Sie, also wir Christen und die Kirchen, haben somit unsererseits der Frage standzuhalten, ob wir ihm tatsächlich folgen und tatsächlich seine Worte treu überliefern. Ich fürchte, dies Fragen bringen uns mehr als nur ins Schwitzen. Denn die Christenheit hat in Geschichte und Gegenwart ihrerseits immer wieder denen sich zugewandt, die sie sich aussuchte und die ihr opportun oder genehm waren. Und das Elend unserer derzeitigen Kirchentümer ist nicht zum letzten das Elend einer frommen Institution, die auf eine bestimmte Klientel fixiert ist und nicht die Traute hat, ihrem Herrn zu folgen im Blick auf die Menschen, die ER anspricht.

Da sind die, "die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr". Hier ist nicht von Glaube noch von Bekenntnis, weder von Engagement noch von Kirchensteuern, weder von Gemeindezugehörigkeit noch überhaupt von Frömmigkeit die Rede. Im Gegenteil: Angesprochen ist ein Defizit, ein deutliches Nicht-Haben. Diejenigen, die alles das nicht haben, was ein guter Christenmensch aufweisen kann oder doch sollte; diejenigen, denen Glaube und Credo Fremdwörter und denen Frömmigkeit und Gebet ferne Welten sind, doch die ebendarin sich arm, sich leer, sich verloren, sich religiös ausgegrenzt fühlen - oder auch nur vermeinen; was tut's; deren Wirklichkeit jedenfalls die ist, daß ihnen fehlt und unzugänglich bleibt, womit die Kirchen locken und zuweilen auch prunken: Sie, exakt sie redet der Herr an.

Er redet ihnen gerade nicht zu, sich zu bekehren, nicht, Glauben zu fassen, nicht, in die Kirchen zurückzukehren. Sondern er nimmt sie bei ihrer Armut, in der sie unter Frommen, unter Gläubigen nicht mithalten können: "Selig seid ihr!" Selig - denn sie sind die Leute, mit denen Gott sein Reich baut, sind die, unter denen Gott selbst für Zeit und Ewigkeit Wohnung machen will.

Jedes mittlere Semester im Theologiestudium könnte aus dem Stand beweisen, daß das theologisch falsch, ja unerträglich sei. Und wer kirchlich ist, gar eine leitende Funktion in einem Kirchentum ausübt, könnte das nur um den Preis akzeptieren, daß man den bestehenden Boden als haltlos preisgibt; - die Sache mit dem Kamel und dem Nadelöhr. Daß der Herr selber an Schrift und Bekenntnis, an Kirche und Tradition vorbei die geistlich Armen ansieht und anredet und selig preist als die, mit denen Gott sein Reich baut und die hier Bürger sein werden, geht hinaus über das, was man fassen kann und was erträglich erscheint. Allerdings ist da ein Unterschied zu beachten: Wir sind auf Schrift und Bekenntnis, auch auf Kirche und Tradition angewiesen; der Herr jedoch nicht, sondern er verfügt hierüber. Wenn wir diesen Unterschied nicht wahrnehmen, verkommen uns Schrift und Bekenntnis zu Fetischen und verwahrlosen Kirche und Tradition. Die Seligpreisungen mögen Anlaß geben zu der Frage, ob womöglich Kirche und Theologie hier - und der Herr und das Gottesreich dort inzwischen zu zwei Sphären geworden sind, die nichts mehr miteinander zu tun haben.

Da sind "die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden." Die Unerheblichkeit akademischer Fragen vergeht hier. Gottes Trost verspricht Jesus denen, deren Leben unter der Last von Leid liegt. (Das Passiv hier wie in den anderen Seligpreisungen ist traditionelle Umschreibung des Tuns von Gott selbst). Darüber werden die eingeführten und bewährten Trost- und Beschwichtigungsmechanismen bodenlos, die Institutionen des Mitleids und der sog. barmherzigen Liebe hohl. DAß man anderen im Leide beistehe, ist damit ja nicht wertlos noch überflüssig; doch nun verkehren sich die Dinge im Grundlegenden. Denn damit erklärt der Herr die, die da Leid tragen, für die, die Gottes höchsteigenen Trost empfangen - sie! Was hätten, was könnten wir ihnen da noch als Trost bieten? Nein, sondern wollen wir Trost finden, so brauchen wir sie, sind wir auf sie angewiesen. Ohne sie entartet unsere Welt zur Welt der Gesunden, der Heilen, der Glaubensstarken, der Frommen, der Ordentlichen. Und an ihnen allen blickt der Herr vorbei und richtet seine Seligsprechung an die, die da Leid tragen.

Da sind "die Sanftmütigen; denn sie sollen das Erdreich besitzen." Halten wir uns nicht beim Stichwort auf; gemeint sind die, die da beschieden sind, sei's weil sie so sind, sei's weil sie's sein müssen, denn sie haben keine Wahl. Es sind also die, die regelmäßig zu kurz kommen, übersehen und übergangen werden, die man verbuttert und über die man sich, Gottlob!, erhaben fühlen kann und fühlt.Sie sind im Blick, sie spricht der Herr an. Christlich-humanistisch geprägt wie wir sind, finden wir das natürlich grundsätzlich wichtig und wundervoll - doch dergleichen Onkelhaftigkeit vergeht und spätestens, wenn wir uns klarmachen, daß das in concreto wohl so ähnlich aussehen wird wie: Der Grund und Boden dieser Stadt wird auf der Stelle den Stadtstreichern und Obdachlosen übertragen; die bisherigen Eigentümer werden enteignet. - Jesus Christus sagt den "Sanftmütigen" in Gottes Namen ohne Wenn und Aber nicht weniger als das Erdreich zu. Wir haben damit zu rechnen, daß sich das dramatischer realisieren wird, als das Beispiel andeutete.

Da sind "die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden." Der Hungerkünstler von Franz Kafka verweigerte die Nahrung, weil er nicht "die Speise finden konnte, die mir schmeckt": Er Maltas vor Augen, was das sein mag, das Hungern und Dürsten nach Gerechtigkeit, und gibt damit Anstoß, uns umzuschauen, wo da Menschen sind, denen der Fraß der "zeichenhaften" oder der beschwichtigenden Halbgerechtigkeit nicht schmeckt; die sich ob der Ungerechtigkeit härmen und unfähig sind, sich abspeisen zu lassen: zu tief sitzt ihr Hunger, zu heiß brennt ihr Durst. Wer sie sind - Gott weiß es; und sie werden diese Worte hören und darin Erquickung finden, daß Gott selbst ihnen in Fülle gewähren wird, wonach sie sich verzehren.

Da sind "die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen." Unter den Seligpreisungen gerät immer weiter aus dem Blick, wodurch wir uns sonst in Kirche und Gemeinwesen, in Frömmigkeit und Gesellschaft orientieren. Das scheint hier, wo der Herr die Seligkeit sozusagen austeilt, ohne Belang zu sein. Anderes zählt da, anderes, das man nicht machen, nicht wollen, schon gar nicht sich erwerben kann, sondern das da ist bzw. das mich ausmacht - oder eben nicht; und dann hat die Seligkeit mit mir nichts zu tun. So klar und einfach ist das. Und kein, jedenfalls keine redliche Auslegung bringt das aus der Welt. Doch immerhin könnten wir uns einmal danach fragen, ob und wo unter uns die Barmherzigen Ort haben und Achtung finden und den Respekt, der denen gehört, denen Gottes Barmherzigkeit gewiß ist?

Da sind "die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen". Der Urtext ist noch schlichter und darin geradezu erregend: " ... denn sie werden Gott sehen". "Sehen" - wie man einen Mitmenschen, wie man einen Freund sieht; einfach so. Ich vermute, daß niemand unter uns die Sehnsucht danach fremd ist, daß Gott endlich, endlich sich zeigen, sichtbar werden, hervortreten möge; auch nicht die Müdigkeit angesichts seiner lastenden Unsichtbarkeit. Und wir quälen uns und strampeln und hören und gebrauchen gute, richtige, hilfreich erklärende und unterstützende Worte. Was soll's - hier sind die angesprochen, denen der Anblick Gottes gewiß ist, und sie tun nichts dazu. Sie sind einfach nur -sind, wie Gott uns will, ersieht und anredet.

Da sind "die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen". An dem Stichwort ist viel herumgemacht worden; vielleicht präzisieren wir so am besten: "Die, von denen Friede ausgeht". Daß diese "Gottes Kinder heißen" sollen, bezeichnet die gültige Adoption: sie werden sozusagen als Mitglieder zu Gottes Haushalt zählen. Die, von denen Friede ausgeht, - jeder kennt derartige Menschen. Es ist ein Labsal, ihnen zu begegnen; die Seele atmet, wenn man mit ihnen zu tun hat. Bilde ich mir's ein? Wo man in ihrem Dunstkreis ist, da kann man schier riechen und schmecken, wie Gottes Haushalt ist; da ahnt man, was ein Engel sein mag; da hat das fromm verbrauchte Wort "Gotteskind" einen Klang, der noch lange nachhallt. Und da wird einem weh ums Herz, wenn man daran denkt, wie wenig Friede immer und immer wieder von uns selber ausgeht, den Christen, von den Kirchen, von den Amtsträgern, von den Theologen. Aber als diese vom Frieden Fernen sind wir hier auch gar nicht im Blick.

Und da sind "die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn das Himmelreich ist ihrer". Wir brauchen nicht weit zu suchen, um die vor Augen zu bekommen, mit denen - zusammen mit den geistlich Armen - Gott sein Reich baut. Viele von ihnen tauchen nie in einer Zeitung auf. Und bei vielen ist die Verfolgung kaum sichtbar, doch subtil und vernichtend - Beamte, die ihren Diensteid ernst nahmen und "Gerechtigkeit gegen jedermann" übten; kirchliche Amtsträger, denen die bloßen Kirchensteuerzahler genauso zu Herzen gingen wie die Frommen, die für "die Gemeinde" gelten; lautere Personen, denen Staatsfeinde - wer jeweils gerade dazu deklariert und zur Hatz preisgegeben - Menschen waren; sie und viele mehr stehen für dies alltägliche geräuschlose Verfolgung mitten unter uns - als staatlich "nicht zu dulden", kirchlich "untragbar", gesellschaftlich "gefährlich". Der Einsicht ist standzuhalten, daß Gott sein Reich mit ihnen zu bauen gedenkt und nicht mit denen, die sich einschlägig andienen oder dazu ganz selbstverständlich sich berufen wissen.

Diese Menschen also nimmt der Herr in den Blick, redet sie an und preist sie selig, dh. erkennt ihnen von Gottes wegen die Seligkeit zu, verbunden mit der Verheißung einer spezifischen Gestalt dieser Seligkeit. Damit zieht er eine schneidende Grenze. Wer hüben, wer drüben ist, dafür stellt er die Kriterien auf; und wer nicht zu den Angeredeten gehört, steht jenseits, was immer man auch aufweisen mag.

Das ist kaum erträglich. Denn es verwandelt unsere theologischen Maßstäbe, unsere geltenden Kriterien und unsere wohlbegründeten Unterscheidungen in - die unseren, also in Menschenwerk, Menschensatzung und Menschenlehre. Ehe wir uns darauf einlassen können und mögen, müssen zuvor denn doch einige Frage geklärt werden, die uns hier mit Macht aufsteigen. Und so haben wir und stellen wir unsere Fragen.

Wir feiern heute Reformationsfest. Das brachte die Reformation in Gang, machte sie aus und gab ihr Substanz: daß Menschen es wagten, dem so unglaublichen, ungeheuerlichen und alles Bestehende übergehenden klaren Wort des Herrn einfach zu glauben, ihre eigenen Fragen und Vorstellungen hintanzustellen und diesem Wort zu folgen, wohin auch immer es führte.

Amen.


Prof. Dr. Klaus Schwarzwäller