Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Für Maren Rimpler
zum 5. September 1999
Predigt zum Michaelistag

- Psalm 34,8 und Tobias -
von Hans Joachim Schliep

Der Engel des Herrn
lagert sich um die her,
die ihn fürchten,
und hilft ihnen heraus.
(Psalm 34,8)

Liebe Gemeinde!

Morgen ist ein besonderer Tag im Kirchenjahr: Michaelistag, Tag des Erzengels Michael und aller Engel - so wird nach christlicher Tradition der 29. September genannt. Der Michaelistag wird selten beachtet. Ich hätte ihn auch beinahe vergessen. Erst sehr spät bei meinen Vorüberlegungen ist mir dieses besondere Datum aufgefallen.

Und dann habe ich lange überlegt: Soll ich die heutige Predigt wirklich auf den Michaelistag ausrichten? Es fällt schwer, sich Engel vorzustellen. Und schwer zu beantworten ist die Frage, ob das Sinnbild der Engel, das Sinnbild guter, bewahrender Mächte, nicht schlicht ein Trugbild ist. Was hat uns in den letzten Tagen und Wochen nicht alles in Angst und Schrecken versetzt - Nachrichten aus der Ferne und Nachrichten aus der Nähe!?

Doch dann habe ich weiter überlegt: Sollst du dich dem Bedrängenden und Bedrückenden einfach so hingeben, einfach so preisgeben? Sollst du dich den Bosheiten und Grausamkeiten einfach so unterwerfen? Ist das, was dich so bestürzt, sind die Unglücke und die Verbrechen wirklich die ganze Wirklichkeit? Ein großer Pulk dunkler Wolken überschatteten meine Gedanken und Gefühle. Doch seltsam: die Wolkendecke riß immer wieder auf - und ich stand im hellen Sonnenlicht.

Wie wenig mir oft die lichten Seiten des Lebens bewußt sind, habe ich heute am Frühstückstisch bemerkt. Da steht eine Kerze auf meinem Platz. Ich frage meine Frau: "Warum steht die Kerze gerade bei mir?" "Weil heute dein Tauftag ist!"

Ein kräftiger Lichtstrahl ist auch dieses Wort aus Psalm 34, das zum Michaelistag gehört: Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.

Also bin ich tatsächlich herausgefordert, über den morgigen Tag "Michaels und aller Engel" nachzudenken.

Was also ist der Sinn dieses Tages? Es geht nicht darum, daß wir uns die Engel als himmlische Wesen mit Flügeln vorstellen. Gottes Engel brauchen keine Flügel. Sie haben auch keine Flügel. Sie sind keine greifbaren und feststellbaren Wesenheiten zwischen Himmel und Erde, zwischen Gott und Mensch. Von solchen Vorstellungen müssen wir Abschied nehmen.

Es gibt wohl auch niemanden unter uns, der in diesem Sinn noch an Engel glaubt. Und doch benutzen wir das Wort Engel in unserer Sprache. Wir sagen zwar: Engel gibt es nicht. Aber wenn uns etwas Gutes widerfährt, mit dem wir nicht gerechnet haben, das nicht vorhersehbar war, dann sagen wir oft: Da hat mich aber ein Engel berührt und beschützt! Dieser Mensch war wie ein Engel zu mir!

Mit dem Wort "Engel" benutzen wir ein Wort aus der Bildersprache. Damit drücken wir eine Erfahrung aus, für die wir sonst keine Worte haben: Inmitten vieler Gefährdungen gibt es Bewahrungen und Bewährungen. An diese Erfahrung erinnert uns der Michaelistag: an den Schutz, an das Geleit, an die Bewahrungen, die wir bisher in unserem Leben erfahren haben.

Auch davon gibt es unzählige Geschichten. Sie stehen bloß selten in der Zeitung und werden nur in Ausnahmen für wertgeachtet, in den Nachrichten gebracht zu werden. Aber ich denke, wie strahlten Dagmar Berghoffs oder Ulrich Wickerts Augen, um wievieles fröhlicher wären ihre Stimmen, könnten sie viel öfter Bewahrungen und Bewährungen vermelden!

In neueren Filmen allerdings und in Pop-Songs werden "Engel" wieder reichlich gezeigt und besungen - ich denke, um nur wenige zu nennen, an Wim Wenders' "Himmel über Berlin" oder an Lieder von den Scorpions ("Send me an angel") und Marius Müller-Westernhagen. Offenbar besteht wieder große Nachfrage nach Engeln, nach Schutz und Geleit auf den Lebenswegen. Die werden ja immer unübersichtlicher!

Eine Welt voller Engel bietet die Bibel! Eine der schönsten Engelgeschichten, humorvoll und hintergründig, ist das Buch Tobias. Es gehört nicht unmittelbar zum Bestand heiliger Schriften. Das Buch Tobias gehört zu den "Apokryphen". Die sind - nach Martin Luther - der Heiligen Schrift zwar nicht gleich zu achten, aber doch gut und nützlich zu lesen. Auf dieses Buch Tobias möchte ich Sie heute aufmerksam machen, Ihnen eine Lesehilfe, einen Einstieg geben.

Mein Wunsch ist also, daß diese Predigt eine Fortsetzung hat, daß Sie das Buch Tobias in die Hand nehmen und selbst lesen. Es sind nur 14 kurze Kapitel. Und die sind spannend, mindestens so spannend wie "Derrick" oder "Der Alte" - oder welcher Freitagskrimi derzeit dran ist. Nur erfahren wir nicht, wer der Bösewicht ist. Dafür erfahren wir, wie einem Menschen Gutes widerfährt. Das Gute hilft zum Leben, das Böse nicht.

Tobias gehört zu dem Teil des Volkes Israel, der nach Ninive weggeführt worden ist, der im Exil, in der Verbannung lebt. Da ist Tobias alt geworden, alt und blind. Er hat mit dem Leben abgeschlossen und erwartet sein nahes Ende. Doch in einer fernen Stadt lebt ein Mann, dem Tobias früher einmal Geld geliehen hatte. Ehe er stirbt, will er diese Sache in Ordnung gebracht wissen. Er will sein Geld zurückhaben. Tobias - ein Geizkragen? Nein, er möchte seinem Schuldner die Gelegenheit geben, seine Schuld abzutragen. Der weiß ja nichts von Tobias' nahem Ende. Der Schuldner soll auf seiner Schuld nicht sitzenbleiben mit dem Selbstvorwurf: "Jetzt ist es zu spät, jetzt kann ich die Sache nicht mehr ordnungsgemäß ins Reine bringen." Das ist doch auch etwas: der Ordnungsliebe anderer vertrauen! So schickt Tobias seinen Sohn los. Wie es damals Brauch war, heißt auch dieser Sohn Tobias.

Tobias jr. ist jung und unerfahren. Deine erste große Reise! Auf die gehst du besser nicht allein! Da gesellt sich ein Mann namens Asarja dem jungen Tobias zu. Ein Engel inkognito. Die Geschichte erzählt, wovon Tobias jr. nichts weiß - wie bei manchen besonders raffinierten Krimis, wo die Lesenden bisweilen etwas mehr wissen als die, von denen erzählt wird. (Dieser literarische Kniff ist also von den biblischen Schriften 'abgekupfert'.) Der junge Tobias merkt nichts, aber er freut sich über das Geleit und die Bereitschaft zur Hilfe.

Warum bleibt der Engel, der Bote Gottes, inkognito? Weil Gott behutsam mit uns umgeht. Ihn zu sehen, von Angesicht zu Angesicht, also in ganzer Fülle und Macht - heißt vergehen müssen. Wir aber sollen ja gehen können. Wir sollen nicht erschrecken, daß Er mit uns geht. Es reicht, wenn einer mit uns geht. Und so gilt umgekehrt: In guter Begleitung eines Menschen erfahren wir Gottes Geleit.

Was müssen das für Menschen sein? Was muß einen guten Wegbegleiter auszeichnen? Es ist gut, wenn einer den Weg kennt, die Landkarte im Kopf hat. Aber die Wege des Lebens sind so vielfältig, so undurchsichtig, so wenig vorhersehbar, daß keiner sie wirklich kennen kann. Darum ist etwas anderes noch viel wichtiger auf den Wegen des Lebens - etwas, was der Engel inkognito hat. Auch er kennt nicht jeden Pfad und jeden Steg. Aber er hat eine innere Gewißheit in sich, die ihn zum Ziel führt. "Ich will deinen Sohn wohlbehalten hin- und zurückbringen."

Auf dieses Versprechen hin vertrauen Tobias senior und Tobias junior ihm. Solche Weggenossen sind auch heute nötig: nicht die mit den klaren Vorgaben, den todsicheren Prognosen - die sichern kaum mehr als den Tod, sondern die mit der inneren Weggewißheit, die mit der Gewißheit ausgestattet sind, einmal wirklich anzukommen, die um Anfang, Mitte und Ziel, die um Gott wissen.

Auf dem Weg des Lebens gibt es viele Widerstände. Dunkles stellt sich in den Weg und Unheimliches. Beim jungen Tobias ist es ein Fisch von ungeheurer Größe. "Herr, hilf, er will mich verschlingen!" Dieser Hilferuf des Tobias ist ja sprichwörtlich bekannt. Mit dem Dunklen, dem Unheimlichen, dem Unberechenbaren umgehen - das gehört zum Leben. Dazu leitet der Engel inkognito den jungen Tobias an. Er lehrt ihn, nicht wegzulaufen, sondern den Fisch zu fangen, aus ihm sogar eine heilkräftige Arznei zu gewinnen.

Was soll das bedeuten? Es ist ein altes religiös-märchenhaftes Motiv: In dem, was das Leben bedroht, sind oft neue Lebenskräfte verborgen. Eine alte Weisheit - zumal der Medizin. Dem sich stellen, dem ich am liebsten ausweichen möchte. Standhalten statt flüchten. Das ist der Rat des Engels. Wie nötig ist zu allen Zeiten solche Ermutigung! Wenn hier ein Engel sie gibt, dann heißt das: Lebensmut kommt von Gott. Glaube ist "Mut zum Sein", hat der Theologe Paul Tillich gesagt.

Nun aber wird`s geradezu romantisch. Wieder leitet der Engel inkognito den jungen Tobias an - diesmal in der Liebe zu einer Frau. Siebenmal war sie schon verlobt - und jedesmal hat ein böser Geist in der Brautnacht den Mann an ihrer Seite getötet. Tobias jr. aber befolgt den Rat seines Begleiters, ein Stück von der Leber des gefangenen Fisches zu braten. Und am anderen Morgen findet man die Neuvermählten friedlich schlafend und gesund im Ehebett.

So einfach ist das? Selbst für den Engel ist das ein ziemliches Stück Arbeit. Er mußte den bösen Geist fangen, in die Wüste schleppen und dort, wohl irgendwo an einem Felsen, ordentlich festbinden. Und dann mußte er in Windeseile zurück; denn böse Geister lassen sich nicht lange festhalten, im Nu sind sie wieder da.

Währenddessen waren Tobias und seine Braut vereint im Gebet. Das geht nicht gegen Erotik und körperliche Liebe zwischen Mann und Frau. Aber der Sinn ist: Auch in Liebe und Geschlechtlichkeit steckt eine dämonische Seite, die den Menschen verfallen lassen kann. Alle Lebensäußerungen haben neben dem Fördernden etwas Gefährdendes an sich, bisweilen Zerstörerisches. Darum das Gebet, in dem Menschen ihr Leben an Gott zurückbinden, in dem sie ihr Leben und ihre Liebe als gegründet in Gott entdecken, in dem sie ihre Liebe als Antwort auf Gottes Liebe leben lernen. Wie gut sind Engel, die so über Frau und Mann, über Liebe und Ehe wachen!

Nur kurz erwähne ich, daß am Schluß noch der alte, blinde Tobias geheilt wird. (In der alten Bibel ein wenig modernes Hollywood?)

Erzählen will ich dagegen noch ein geradezu scherzhaftes Zwischenspiel im Buch Tobias. Der Engel inkognito setzt auch die richtigen Schwerpunkte - was im Leben an die erste Stelle und was an die zweite Stelle gehört. Tobias jr. ist ja nun verheiratet. Natürlich will er die ersten Wochen ungestört mit seiner ihm eben angetrauten Frau leben. In Ordnung, sagt der Engel, läßt sich nicht lange bitten, läßt den jungen Tobias bei seiner Frau, geht allein den noch weiten Weg zum Schuldner des alten Tobias, läßt den seine Schuld begleichen - und nimmt ihn gleich mit zur Hochzeitsfeier. Die Feier fand - wie noch zu Luthers Zeiten - nach der Hochzeit und den Tagen des ersten Glücks statt.

Wie sollen wir das nun wieder verstehen? Offenbar ist der Engel für Ordnung. Er erledigt, was getan werden muß, notfalls sogar selbst. Solche Menschen sind ja immer Engel! Aber wenn das der Engel selber tut, dann ist er der Auffassung: Hochzeit halten ist für einen normalen Menschen doch wichtiger als Geld eintreiben. Er duldet weder eine Schlamperei, noch weniger duldet er, daß das Geld der Liebe übergeordnet wird. Die Liebe ist das Größte, Höchste, Entscheidende!

Wir Menschen aber - siehe den jungen Tobias -, wir schaffen das alles nicht auf einmal. Um so nötiger sind Engel, die vieles für uns erledigen. Und wenn es um Entschuldung geht, dann muß Gott ohnehin alles tun - bei anderen und bei uns!

Nun habe ich genug erzählt. Das Wichtigste ist gesagt: Auf dem Weg des Lebens sind wir nicht auf uns selbst gestellt. Wir dürfen uns Gott anvertrauen. Er führt uns nicht am Schweren vorbei, aber er führt uns hindurch. So wie Jesus Christus durch die Nacht des Todes zum Licht des Lebens geführt worden ist.

Der Engel des Herrn lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus. Amen.

Hans Joachim Schliep
Berlageweg 4
30559 Hannover
0511-52 75 99
E-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de


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