Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Erinnerung sendet ins Herz der Welt

Predigt des Bischofs von Hildesheim
Dr. Josef Homeyer

6. Mai 1998, Marienrode


Vorbemerkung:

Diese Predigt wurde am 6.Mai 1998 aus Anlaß der Erhebung des Benedikinerinnenklosters Marienrode zum eigenständigen Konventualpriorat gehalten. Dieses Kloster wurde von Amelungsborn aus gegründet, war über Jahrhunderte vakant und wurde erst vor 10 Jahren neu besiedelt.Die Erhebung zum eigenständigen Konventualpriorat durch päpstliches Dekret bedeutet u.a., daß die Nonnen das für die Benediktiner typische Gelübde der stabilitas an diesen Ort binden.

Liebe Schwestern und Brüder,

"nun also ist die Welt weltlich geworden". So hätte ich mir vorgestellt zu beginnen, wenn ich eine Geschichte des Ordenslebens zu schreiben hätte. Von der Welt würde ich zuerst reden, nicht von den Orden. Denn Ordensexistenz ist Sendung und Nachfolge: Treue zur Welt und Treue zum Evangelium ineins und untrennbar.

Nun also ist die Welt weltlich geworden. Die Konvente und Klöster in ihr sind längst nicht mehr das, was selbstverständlich dazugehört, sondern sie wirken auf die meisten wie Fremdkörper in einer weltlichen Welt. Wie ist denn dann Treue zur Welt und Treue zum Evangelium noch lebbar? Weist die weltliche Welt die Orden nicht geradezu zwangsläufig mehr in einen Rückzug von der Welt als in Sendung ein und mehr in Esoterik als in Mystik?

Aber verbunkerte Defensive und selbstverliebte Romantik sind Kennzeichen des Biedermeiers, auch einer biedermeierlichen Kirche - Sache der Orden und ihrer Geschichte keineswegs. Sie bleiben - um ihrer Sendung, um ihrer Treue zum Herrn willen! - weltempfindlich. So sehr ihr Glaube ins "Jenseitige" sich hineinspricht - es ist ein Glaube im Heute; so sehr dieser Glaube sich an den Himmel richtet - es ist ein "Glaube, der die Erde liebt" (Karl Rahner).

Wie steht es also um eine Welt, die weltlich geworden ist? Sie ist eine Welt, die vom Menschen immer neu zu gestaltende, geradezu zu erschaffende ist. Der Mensch macht seine eigene Welt und seine eigene Geschichte; er wirkt in ihr immer beides: Heil und Verhängnis. Das war in einer religiös durchprägten Welt nicht anders als in der modernen. Neu aber ist in diesem immer Neugestalten der Moderne die ständige, unterschwellige und tief beunruhigende Erfahrung: die Drohung des Exils. Denn seltsam: je mehr wir unsere Welt selber machen, je weltlicher sie also wird, desto mehr drohen wir auch, uns selber zu Fremden zu machen.

Wer kennt das nicht: Der rasante Wandel unserer Zeit läßt schon einmal seufzen: "Da komme ich nicht mehr mit." Und mancher Ältere, der nicht um jeden Preis modern sein will, sagt zu sich: "Das ist nicht mehr meine Welt." Wir machen alles selber, aber die Welt wird dadurch nicht bewohnbarer. Die weltliche Welt treibt ins Exil: immer argumentierter, immer gewußter und bewußter, immer komplizierter und komplexer, immer vielfältiger und vernetzter ist diese Welt - aber auch bewohnbarer? Nicht zufällig lautet ein Schlüsselroman unserer Zeit von Albert Camus "Der Fremde" - wohlgemerkt: nicht "Ein" Fremder, sondern "Der Fremde"; es geht nicht um ein Einzelschicksal, sondern um eine Grunderfahrung aller Menschen in der heutigen Welt.

Die neueste Stufe der Modernisierung der Welt heißt "Globalisierung". Länder und Kontinente hängen wechselseitig zusammen, ihr Wirtschaften ist gegenseitig abhängig und ihre Kulturen kommunizieren miteinander. Verlieren wir mit dieser Globalisierung nicht Heimat, kommen wir nicht unter die unheimliche Herrschaft des "Überall", die Heimat zerstört? Wir stoßen in die Nachbarschaft weit entfernter Kontinente vor und machen eine neue Welt. Und doch fehlt uns entscheidende Vorstoß: der Vorstoß in das Land der Hoffnung. Den Aufbruch in den fremden Kontinent haben wir bewältigt, den Vorstoß in das Land der Hoffnung haben wir vor uns.

Vorstoß in das Land der Hoffnung, Herausführen aus dem Exil - das ist Ordensleben heute. Das war es in seiner Geschichte immer zentral. Eine benedektinische und zisterziensische Spiritualität hat immer in unwegsames und fernes Gebiet geführt, es waren solche Vorstöße in das Land der Hoffnung. Franziskanische und dominikanische Spiritualität hat in die Unwirklichkeit der neuen Städte geführt - es waren Vorstöße ins Land der Hoffnung. Ignatianische Frömmighkeit konnte sich tief in alle Dinge hineinversenken, um darin Gott selbst aufzufinden - es war in dieser unbedingten Zuwendung zur Welt Vorstoß ins Land der Hoffnung!

II.

Wie aber und von woher mag ein solcher Vorstoß, ein Aufstand der Orden gegen das Exil des Menschen gelingen? Nicht beliebig ist doch Hoffnung herbeizitierbar, nicht lauwarm-schwüler Optimismus, nicht militante Parole ist doch solcher Vorstoß!

Hoffnung gründet in Erinnerung, nicht im Argument. Dafür stehen alle Glaubenserfahrungen des jüdischen und christlichen Volkes Gottes ein.

Ezer Weizmann, der israelische Präsident, erzählt solche Hoffnung aus Erinnerung in einer bedeutenden Rede vor dem Deutschen Bundestag 1996:

"Jeder einzelne Jude in jeder Generation muß sich selbst verstehen, als ob er dort gewesen wäre - dort bei den Generationen, den Stätten und Ereignissen, die vor langer Zeit liegen ... Zweihundert Generationen sind seit den historischen Anfängen meines Volkes vergangen, seit ein Mensch namens Abraham aufstand, um sein Land und seine Heimat zu verlassen und in ein Land zu ziehen, das heute mein Land ist ... Erst hundertfünfzig Generationen sind vergangen von der Feuersäule des Auszugs aus Ägypten bis zu den Rauchsäulen der Shoah. Und ich, geboren aus den Nachkommen Abrahams im Lande Abraham - war überall mit dabei. - Ich war ein Sklave in Ägypten und empfing die Thora am Berg Sinai, und zusammen mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan. Mit König David zog ich in Jerusalem ein, und mit Zedekiah wurde ich von dort ins Exil geführt ... Ich habe meine Familie in Kinishev verloren und bin in Treblinka verbrannt worden ...."

Erinnerung ist also Vergegenwärtigung der bleibenden Nähe Gottes. Diese Nähe Gottes leuchtet am intensivsten auf in den Festen gläubiger Gemeinschaft. "Tut dies zu meinem Gedächtnis!" - Das muß man auch so übersetzen: "Ich bin mit euch unterwegs, so wie ihr mit mir unterwegs seid." Im eucharistischen Mahl vergegenwärtigen wir nicht uns, sondern Ihn, also ist genauer zu sagen: Christus hält uns in seiner Gegenwart.

In seiner Gegenwart - dieses Geschenk der Erinnerung ist der intensivste Augenblick der Kirche. In seiner Gegenwart - das ist der Weg aus dem Exil, der Weg in die Hoffnung und der Annahme der Welt. In seiner Gegenwart - diese Erinnerung hält die Kirche, ihre Orden in vorderster Linie in einer weltlichen Welt wach.

Klöster sind deshalb selber Zeichen der Erinnerung, nicht Ornamente der Nostalgie, weil in ihnen Eucharistie gefeiert wird. Was hält denn die Welt zusammen, wenn nicht das geteilte Brot, was beheimatet denn den Menschen, wenn nicht der Kelch des Heils? Wie sollte denn die Erde nicht erkalten, wenn die alten Gebete und Hoffnungsworte weitergesprochen werden: "Seht, wir ziehen hinauf nach Jerusalem..." - "Als der Herr das Los der Gefangenschaft Israels wendete, da waren wir alle wie Träumende ..." - "Danket dem Herrn, denn er ist freundlich ..."? Wie sollten wir das Leiden und die Ungerechtigkeit der Welt ertragen, wie sollten wir nicht am Ende selbst apathisch werden, unfähig einander zu beheimaten, ohne diese alten Erzählungen aus dem Land der Hoffnung, aus der Landschaft der getrösteten Herzen und abgewischten Tränen? Haben wir nicht den kritischen Mahnruf der Klöster so bitter nötig, diese Erinnerung an Hoffnung, dieses Zeugnis seiner Gegenwart? Ohne solche Hoffnung werden die Flüchtlingsströme weiter anwachsen: nicht nur die Flüchtlingsströme aus dem Land der Ungerechtigkeit und des Hungers, auch die "inneren" Flüchtlingsströme aus dem Land der Entfremdung und des Vergessens, einer weltlichen Welt, in der die Freiheit an sich selbst verblutet.

In seiner Gegenwart sein, heißt aber von vornherein und nicht erst zusätzlich und nachträglich gesandt zu sein. Kirche ist Sendung. Darum sind wir in dem Augenblick, in dem wir das Brot brechen, schon unterwegs zu den Armen und Benachteiligten, zu den Hungernden und Kranken, zu den Gefangenen und Entrechteten. "Erst achtzig Generationen sind vergangen", so könnten wir Ezer Weizmann fortsetzen, "und ich - aus der Taufe geboren - bin überall dabei gewesen. Als er zu den Aussätzigen am Rande der Stadt ging und zu den Zöllnern; als er den Dirnen Vergebung zugesprochen hat und den Sterbenden Heilung. In Jerusalem war ich dabei, als er zum Kreuz ging und zu den anderen Kreuzen mit ihm, den Kreuzen, die den langen Weg der Geschichte säumen. Ich bin dabeigewesen seit meiner Taufe, und ich bin dabei in jeder Eucharistie." Wir können überhaupt keine Liturgie feiern, ohne uns nicht mit ihm in die Welt senden zu lassen, in die er sich selbst vom Vater senden ließ. Wir verdunkeln seine Gegenwart im Mahl, wenn wir nicht in die Diakonie uns einweisen lassen. Ohne diesen Dienst, die diaconia Christi, verweigern wir Jüngerschaft. Dies allerdings ist die eigentliche Sünde wider den Hl. Geist. Wer die Sendung Christi in die Welt verweigert, wer meint, der Glaube könne irgendwie weltlos durchkommen, wer eine Kirche proklamiert, die ein bißchen ins Jenseits hineintröstet - der jammert sich am Glauben vorbei.

Unsere Klöster haben immer vor einer solchen sendungslosen Glaubensesoterik gewarnt, und sie tun es bis heute. Unsere Klöster warnen nicht nur vor der Glaubenskrise, sondern sie warnen auch vor der Sendungskrise der Kirche, ihrer Weltflucht aus der Diakonie heraus. In dieser Sendungskrise der Kirche tut man gut daran, noch einmal sehr aufmerksam wahrzunehmen, daß beispielsweise der hl. Benedikt doch recht ungewöhnlich von der Gastfreundschaft der Kommunität spricht. Er wußte nämlich, daß mit dem Verlust dieser Diakonie die Identität der Gemeinschaft auf dem Spiel steht. Er wußte wohl, daß mit der Sendung die Kirche aufs Ganze ihres Glaubens geht.

III.

Die größte Gefahr für die Kirche hierzulande liegt wohl im Auseinanderbrechen von Mystik und Sendung, von Erinnerung und Diakonie. Weder die Flucht nach hinten, in Esoterik, noch die Flucht nach vorne, in den Sozialverein, erschließen uns und den Menschen das Land der Hoffnung.

In dieser Gefahr brauchen wir die Klöster. J.B. Metz hat vor Jahren schon darauf hingewiesen in seinem Büchlein über die "Zeit der Orden". Wir brauchen die Klöster, die Orden, wenn es gefährlich wird, wenn die Treue zum Herrn, die Treue der Nachfolge und die Treue unserer Weltsendung in Gefahr gerät. Wir brauchen sie, weil sie durch die Anschaulichkeit ihrer Gemeinschaft in Erinnerung und Sendung einspringen können.

Nun also ist die Welt weltlich geworden. Dies ist die Zeit der Orden, denn es ist für die Kirche gefährlich geworden. Und die Welt? Sie sucht dem Menschen eine Heimat. Wer hierher ins Kloster kommt, wird sich erinnern, daß Heimat nur vom Standpunkt der Erlösung aus zu finden ist - oder in Verzweiflung endet.

Vom Standpunkt der Erlösung aus: Erinnerung sendet ins Herz der Welt.

Amen

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Dr. Josef Homeyer, Bischof von Hildesheim

 


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