Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Eine "Fensterpredigt" über den Fensterzyklus von Johannes Schreiter
in St. Jakobi, Göttingen, gehalten am 5. Juli 1998

Verfasser: Prof. Dr. Wilhelm Gräb


Wilhelm Gräb

Fensterpredigt in St. Jakobi, Göttingen, am 5.7.98

Eine Fensterpredigt, liebe Gemeinde!

Statt der Auslegung eines biblischen Textes heute an dieser Stelle des Gottesdienstes ein Versuch zur Deutung der neuen Fenster von St. Jakobi. Sie geben dem Raum dieser Kirche insgesamt eine andere Atmosphäre. Heller ist er geworden, zugleich dichter. Intensiver die Raumerfahrung, wenn wir hereinkommen aus dem Licht des Tages oder auch aus dem heraufziehenden Dunkel der Abenddämmerung.

St. Jakobi Göttingen

Die neuen Fester leuchten. Sie haben ihr eigenes Licht. Die Fenster geben zu sehen. Sich selbst im Spiel ihrer Farben und Formen, in der Gegenläufigkeit von Licht und Dunkel. Neu erfahren lassen sie aber auch den Raum in den Brechungen des Lichts, das durch sie fällt. Sie geben uns, die wir hereinkommen, Orientierung. Ex oriente lux. Vom Orient, von Osten her bricht an das Licht. Das Licht des aufgehenden Tages, Licht im Schatten des Todes, Morgenglanz der Ewigkeit. Von West nach Ost ist der Kirchenraum ausgerichtet. Vom Einfall der Nacht hin zum Anbruch eines neuen Tages.

Diesen Weg führen uns die Fenster von Johannes Schreiter. Sie geben zu sehen, sich selbst und den Raum der Kirche, in den Brechungen des durch die Maueröffnungen fallenden Lichtes der Welt. Zu verstehen geben sie aber auch den Sinn unseres Daseins in dieser Welt. So sind es Kirchenfenster. So begegnen wir hier moderner Glasmalerei, moderner Kunst im längst schon geprägten Sinnraum einer alten Kirche.

Neue Antworten können uns jetzt auch zuwachsen auf die Frage, wozu wir solche Räume brauchen, in der modernen Welt, in dieser Stadt. Könnten wir uns mit einem schlichten Gemeindesaal nicht begnügen? Wozu dieser Aufwand? Das viele Geld auch, das für die neuen Fenster gesammelt werden mußte? Hätten es die einfachen Glasfenster, die an der Nordseite dieser Kirche zuvor eingesetzt waren, nicht getan? Und geben die alten Fenster an der Südseite und vor allem in dem nach Osten ausgerichteten Chorraum nicht genug zu sehen? Hat St. Jakobi nicht mit seinem mittelalterlichen Flügelaltar einen reichen Kunstschatz bereits? Zeigen nicht die Bilder, die auf dem Flügelaltar und die in den Chorfenstern, Szenen der Heilsgeschichte, Bilder vom Mensch gewordenen Gott, an denen der christliche Glaube hängt, von deren Betrachtung er sich nährt. Bilder der Erlösung, von Gottes Menschwerdung, seinem Mitleiden und Mitsterben am Kreuz Jesu. Bilder von der Wiederkehr des Glanzes in eine zerrissene Welt. Trost in unser aller Krankheit zum Tode?

Ja, so ist es. An den Kunstschätzen, die unsere alten Kirchen schmücken, sehen wir, wozu das Christentum seit jeher die Menschen bewegen wollte: daß wir an der Botschaft von Gott Gefallen finden, sie unser Herz erfreut, wir Gott lieben lernen, ihn loben, ihm nach allen Regeln der Kunst die Ehre geben. Es geschieht etwas mit uns, so wir den Kirchenraum betreten. Wir werden angesprochen, nicht allein durch das Wort der Predigt. Die Atmosphäre des architektonisch kunstvoll gestalteten Raumes spricht. Das Dasein eines Kirchengebäudes allein schon spricht. Es hat keinen äußeren Zweck, wird nicht gebraucht zum bloßen Überleben. Es ist uns sichtbares Zeichen der Hinwendung zu Gott, wie auch dafür, daß wir uns selbst in den Höhen und Tiefen unseres Daseins verstehen lernen, im Bezug zu Gott, in unserer abgründigen Frage nach ihm. Das Geviert des Raumes, seine hoch aufstrebenden Pfeiler, seine Ausrichtung nach dem Licht der Morgenröte, das Kreuz und die Osterkerze, die Bilder der biblischen Heilsgeschichte. Das alles spricht, vernehmlicher oft als das Wort der Predigt.

Wir kommen zur Ruhe, merken, sobald wir uns hier niederlassen, wie wir auf eigentümliche Weise in die Wendung nach Innen geraten. Was ist es nur mit meinem merkwürdigen Leben? Ich habe so oft das Gefühl, daß es mir gleichsam wie die Jahre, Tage und Stunden zwischen den Händen zerrinnt. Doch jetzt könnte es geschehen, daß sich mir meine Kräfte versammeln, ich intensiver spüre, was mir fehlt, mir schwer fällt, auf der Seele liegt. Ich aber auch neues Zutrauen fassen, Pläne erwäge, Ziele abstecke, für die nächste Woche und darüber hinaus.

Warum das hier, im Kirchenraum? Weil es dieser Raum ist, der zu keinem anderen Zweck da ist, als dem, daß wir uns formuliert finden in dem, was uns unbedingt angeht. Formuliert, zur Sprache gebracht, in dem, was uns bedrückt und belastet, uns quält und Sorgen macht. In dem dann auch, wonach wir verlangen, wohin unsere Sehnsucht geht, unsere Wünsche, unser Hoffen.

Was sollen wir tun? Auch diese Frage bleibt. Worin habe ich versagt, bin ich schuldig geworden? Es geht um unsere Aufgaben und das, was zu erreichen wir uns vorgenommen haben. Vieles können wir tun für unser Glück und für andere, die unsere Zuwendung und Hilfe brauchen.

Aber letzten Endes haben wir unser Leben, nicht in der eigenen Hand. Das tritt uns ins Licht unseres Bewußtseins, so wir eine Kirche betreten. Es muß da immer noch etwas hinzukommen, das Entscheidende, das wir nicht machen können. Da ist Unverfügbares. Das Geschenk schon des eigenen Daseins. Dann, daß mir gesagt wird: Du, ich hab dich lieb. Daß ich merke, welcher Segen auf meiner Arbeit liegt, sie schließlich doch gelingt. Daß ich den Mut nicht verliere, auch in auswegloser Lage. Tiefer können wir unserer selbst gewiß werden, wenn wir den Kirchenraum betreten und uns in ihm niederlassen, zur Andacht, zur Einkehr in uns selbst und in der Hinwendung zu Gott, zur Transzendenz, zu dem, was über unser eigenes Machen und Wollen hinausliegt und wovon wir uns doch so sehr abhängig fühlen.

Tiefer erfassen können wir hier, was es mit unserem merkwürdigen Leben auf sich hat. Hinwenden können wir uns hier zu Gott, den kein Auge je gesehen, von dem wir deshalb auch keine Vorstellung haben, von dem wir uns kein Bild machen können und ohne den doch unser Leben nicht gelingen kann. Wir zweifeln immer wieder an seiner Gegenwart, fragen, ob es ihn überhaupt gibt, so wie es aussieht in dieser Welt. Und zugleich ahnen wir, daß es ohne ihn keinen Trost gibt in der Einsamkeit, keinen Beistand in letzter Gefahr, keine Hoffnung in der Nacht des Todes.

So ist es auch den Alten schon gegangen. Deshalb haben sie sinnkräftige Zeichen wie das Kruzifix oder die Bilder der biblischen Heilsgeschichte in die Kirchenräume gemalt. Daß das unsichtbare Wesen Gottes, seine rätselhafte Ohnmacht wie seine wunderbare Macht anschaulich und greifbar werden mögen, vorstellbar die Verheißung seiner schöpferischen, versöhnenden und befreienden Gegenwart.

Die Sprache der Verheißung, was die Bibel von Gott erzählt, ist uns Heutigen jedoch vielfach fraglich geworden. Wir haben Schwierigkeiten mit der Vorstellung von Gott als Person. Schwierigkeiten auch damit, daß das Leiden und Sterben Jesu am Kreuz uns zum Heil geschehen sein soll. Die Bilder, in denen die Kunst der Alten das Heilsgeschehen zur Darstellung gebracht hat, sprechen zu uns nicht mehr. Ihr Sinn erschließt sich nicht. Es fällt uns schwer zu erkennen, daß in ihnen unser eigenes Leben, unsere Ängste und Gefährdungen unser Hoffnungen und unser Glück zur Auslegung kommen.

Anders ist es in den Werken moderner Kunst. Anders ist es in den Glasfenstern von Johannes Schreiter. Und deshalb ziehen wir reichen Gewinn daraus, daß es nun hier in St. Jakobi zu dieser anregenden Konfrontation gekommen ist - zwischen den gegenständlichen Werken alter Kunst und den ungegenständlichen, aber deshalb religiös nicht weniger sinnträchtigen der Moderne.

Gegenständliches zeigen die neuen Glasbilder in St. Jakobi nicht. Nicht die Gesichter, nicht die Leiber von Menschen, nicht ihr Elend, nicht ihr Glück. Keine Geschichte, wie sie die Bibel erzählt. Keines der Zeichen, die zur Symboltradition des Christentums gehören. Und doch baut sich im Spiel der Formen und Farben eine Gestalt auf , kommt es zu einem Drama, in dem wir uns mit unseren Lebensgeschichten, mit unseren Lebensentwürfen und dem Versuch, sie zu deuten, formuliert finden können.

Wir wissen, der Künstler hat sich zu seiner dramatischen Komposition von Formen und Farben durch den 22. Psalm anregen lassen. Und wenn wir diesen Psalm lesen, so sehen wir darin die tiefste Verzweiflung, den absoluten Sinnverlust von Menschen zum Ausdruck gebracht. Trostlose Einsamkeit hinter verschlossenen Türen und brutale Anfeindungen in Szenarien des Horrors.

Wir sehen aber auch, wie die Dinge glücklich sich wenden, daß die Bitte um Rettung Gehör findet, der Vereinsamte Gemeinschaft findet, sogar die Hoffnung gewinnt, daß die Toten dem Vergessen entrissen werden. Wir wissen, der Verzweiflungsschrei Jesu am Kreuz war der des Psalmbeters: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen." Geht also doch auch der Fensterzyklus von Johannes Schreiter nicht nur von Westen nach Osten, vom Einfall der Nacht hin zum Anbruch eines neuen Tages, sondern bestimmter von Karfreitag nach Ostern, vom Tod in der Gottesferne zu jenem neuen Leben in und aus Gott, in dem der Tod nicht mehr sein wird? Ich denke, man kann das so sehen und in der Bezugnahme auf den 22. Psalm dann zu sagen versuchen, was die Glasbilder nicht direkt sehen lassen und auch nicht sagen können.

Wenn man es so sieht und gleichsam dann doch in der Sprache der Bibel wieder zu sagen versucht, was die Glasbilder bedeuten wollen, dann hat man jedoch die Distanz noch nicht miterfaßt, die sie zur überkommenen Bildsprache des Glaubens einnehmen. Es ist vor allem nicht miterfaßt, daß der Fensterzyklus von Johannes Schreiter gerade das Unanschauliche, nicht Gegenständliche, nicht dinglich Vorstellbare des Verhältnisses sowohl zu uns selbst wie zu Gott ins Bild gesetzt hat. Im freien Spiel der Formen und Farben stellt uns Schreiter die Bildlichkeit des Bildlosen vor Augen, macht er anschaulich, wovon wir keine Anschauung haben, was es um uns selber ist und wer Gott für uns ist.

1. Fenster"Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht,
und des Nachts, doch finde ich keine Ruhe."

Am Anfang ist das Dunkle. Das Nachtblau dominiert in den ersten beiden Fenstern, wenn wir die Kirche von Westen kommend durch das Hauptportal betreten. Die Schwere des Seins legt sich über die Welt und das eigene Ich. Ein schwaches Flackern bloß ist dieses Ich. In die Klammer gesetzt, sich selbst verborgen. Verborgen auch Gott und damit der Sinn des Ganzen der Welt und des eigenen Dasein in ihr. Da ist Gott allenfalls im Schrei nach ihm, im Verlangen nach Licht, nach der Lichtung des eigenen Daseins, der Erkenntnis seines Sinns.

2. Fenster"Meine Kräfte sind vertrocknet wie eine Scherbe, meine Zunge klebt mir am Gaumen, du legst mich in des Todes Staub."

Doch auch dieser Schrei verstummt im 2. Fenster. Das eingeklammerte, gefangene Ich wird von der Schwere des Daseins, die auf ihm liegt, erdrückt. Der Umbruch, die Wende im mittleren Fenster. Das Dunkle, die Schwere des Seins sinkt nach unten, nun wundersam getragen von einem Kissen aus Licht, das heller noch – wenn auch kalt – von oben her einfällt. Lichtung, Gottesgegenwart, Sinnerkenntnis. Wodurch?

3. Fenster"Du hast mich erhört."

Aufgehoben, hineingenommen findet sich das in die Klammer gesetzte Ich in ein neues Kraftfeld. Da ist ein tiefes, warmes, sich aufhellendes Rot. Einem Wärmestrom gleich stellt es die Verbindung her zwischen dem kalten Licht und dem bedrohlichen Dunkel. Das wärmende Rot nimmt das einsame, sich selbst verborgene und von den anderen ausgeschlossene Ich in sich auf. Es geschieht der Übergang. Transzendenzerfahrung. Gottesbegegnung. Nicht im Jenseits aller Selbst- und Welterfahrung, sondern mitten im Diesseits. Das verlorene, angefeindete, in die Schwermut gefallene Ich merkt, daß es doch geliebt wird. So findet es einen neuen Zugang zu sich, zur Welt, zu Gott.

4. Fenster"Dich will ich preisen in der großen Gemeinde."

Ist dafür nicht die Kirche da? Fragt das 4. Fenster. Daß die verlorenen und in sich verklammerten Iche dies merken können: ich bin geliebt, bin von unendlichem Wert. Statt des in Klammer gesetzten Ichs nun der Grundriß der Jakobikirche. Die Nachterfahrungen werden immer noch gemacht. Das eher schmutzige blaugrau kehrt wieder, durchdrungen aber nun vom Wärmestrom der Liebe. Er entläßt von oben her die jetzt selbständigen und zur Gemeinschaft fähigen Iche aus sich. Das Rot verdichtet sich im letzten Fenster von oben her. Es setzt sich mehr und mehr an die Stelle des kalten, unbestimmten Weiß, der unvorstellbaren Transzendenz, des bloß Anderen zur real erfahrenen Schwere des Seins. Die gegenständliche Gottesvorstellung der Alten wird zwar nicht zurückgeholt. Aber bestimmbar wird Gott doch. Er ist die Liebe. Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.

5. Fenster"Ihn allein werden anbeten alle, die in der Erde schlafen."

Auch über den Tod hinaus. Da sind wir ganz im fünften und letzten Fenster. Keiner geht verloren. Keine lebt umsonst. Wie an einer Kette aufgereiht steigt die unendliche Zahl der zu sich selbst, füreinander und zu Gott hin offenen und befreiten Iche von unten nach oben und von oben nach unten. Liebe hält die Erinnerung an jeden einzelnen lebendig, auf ewig. Gott ist diese Liebe. Und dann auch jeder einzelne von uns in ihm.

Bilder sprechen auch dort noch, wo die Worte, die wir machen, sich uns versagen. Bilder moderner Kunst versuchen auf ungegenständliche Weise zu sagen, was wir gegenständlich nicht mehr sagen können, weil uns die Vorstellungen verlorengegangen oder unserem Denken unerschwinglich geworden sind. Woher und wohin mein Weg? Ist ein Gott und also ein letzter, alles im Innersten zusammenhaltender und durchströmender Sinn?

Ja, sagt Johannes Schreiter mit seinem Fensterzyklus: Es ist ein Gott. Die Welt, das Universum geht im sichtbar Vorhandenen, rational Erforschbaren und Ergründbaren nicht auf. Die undurchdringliche Schwere des Seins, auch deines Lebens, ist immer schon umfangen vom Licht, in dem du das Sehen lernen kannst. Sobald du nun die Augen aufschlägst, siehst du im geschaffenen Licht, im oft kalten Licht der Welt, den Gott. Eingetaucht findest du dich in Gottes unendliche Liebe zu seinen Geschöpfen. Verwandelt. So wirst du deinen Weg finden, erkennen, woher du kommst und vor allem, wohin du gehst. Es erschließt sich dir der Sinn deines Lebens im Abschreiten der neuen Glasbilder von St. Jakobi und dann auch wieder im Wort der Alten, wie dem des Kirchenvaters Augustin. "Liebe und dann tu, was du willst".

Amen

Prof. Dr. Wilhelm Gräb


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